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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - CDU

Die Finninnen und Finnen geben sich alle Mühe, in einer Zeit des, in seinen Gefäßen laut brodelnden Rechtsnationalismus und Populismus die goldene Statue der Vernunft weithin leuchten zu lassen.



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> Download Nicht nur haben sie einen landesweiten Grundeinkommens-Pilotversuch durchgeführt, zwar auf falschen Grundlagen und nach der Hälfte des Programms wieder abgebrochen, aber trotzdem, sondern ihre Parteien sind seit Kurzem fest in Frauenhand, die Regierung diskutiert über die Reduktion der wöchentlichen Arbeitszeit, die Temperaturen am Polarkreis steigen im Sommer manchmal auf 30 Grad, was zwar kein tauglicher Beweis ist für nichts, aber ich brauche hier ja auch nichts zu beweisen, denn dass Finnland ein fortschrittliches Land ist, das steht fest. Jetzt haben sie die Bilanz ihrer EU-Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 2019 vorgelegt, also nicht die politische Bilanz, sondern die Schlussabrechnung. Budgetiert waren dafür 88 Millionen Euro gewesen, gebraucht haben die Finninnen nur 55 Millionen. Ich bin versucht, aus dieser nicht wirklich ins Gewicht fallenden Einsparung für die Europäische Union den Schluss zu ziehen, dass jene Kräfte und Kreise, die in den Mitgliedstaaten am lautesten gegen Brüssel und die Kommission und so weiter krakeelen, am stärksten darauf aus sind, einen goldenen Schnitt im allgemeinen Geldbeutel zu machen, der zu einer neuen Gattung der schönen Künste werden könnte. Es ist ja auch logisch: Wenn man die EU zum Monster stilisiert, ist es fast schon Bürgerinnenpflicht, sie nach Strich und Faden auszuplündern. Nun, am 22. Februar geht es in die erste Runde des großen Ausplünderungs­-Mehrjahresplanes, da will ich mal ein bisschen genauer hinschauen, wie sich da die Heralde des freien Unternehmertums auf die Töpfe stürzen.

Dabei ist die Europäische Union ja auch so eingerichtet, dass ihre größte Kohäsionskraft nicht in der europäischen Überzeugung ihrer Bürgerinnen und Bürger liegt, sondern tatsächlich im Budget. Vielleicht kommt eines Tages der Punkt, an dem auch die übelsten Nationalistinnen in den Mitgliedstaaten ihr antieuropäisches Geschrei schlicht nicht mehr finanzieren können, und das ist ein Grund mehr dafür, die Debatten über das Mehrjahresbudget im Detail zu verfolgen.

In der Zwischenzeit lasse ich mich von einer leisen Wehmut durch die Tage tragen, indem mir jetzt klar wird, dass die offizielle Sozialdemokratisierung der CDU nicht nur die SPD an den Rand der Bedeutungslosigkeit getrieben hat, sondern nun auch die CDU im Kern erschüttert. An dieser Stelle und im Ton einer Grabrede erinnere ich daran, dass die CDU spätestens seit Helmut Kohl eine ausgebaut sozialdemokratische Politik betrieb, selbstverständlich immer gekleidet ins Vokabular der konservativ-bürgerlichen Mitte. Angela Merkel hat dieses Vokabular zusehends abgestreift, vor allem nach der Finanzkrise und nach der Atomkatastrophe in Fukushima, wobei man doch immer wieder darauf hinweisen muss, dass es nicht Angela Merkel alleine war, sondern der gesamte Parteiapparat; offenbar hat sich vor zehn Jahren die Auffassung durchgesetzt, dass die CDU eine Volkspartei im Wortsinne werden würde, eine Art von christlich-demokratischer Einheitspartei Deutschlands. Das entsprach ja auch den tatsächlichen Verhältnissen; der domestizierte Kapitalismus, welcher den wichtigen Interessengruppen ihre Anteile am gesellschaftlichen Reichtum zugesteht, das ist eben das Kernelement der sozialdemokratischen Gesellschaft. Und dass die Arbeiterinnen und Arbeiter ihren Anteil am gesellschaftlichen Reichtum ohne weitere Widerstände zugesprochen erhalten, dafür gibt es bekanntlich den ursozialdemokratischen Mechanismus der ökonomischen Rationalität. In einer Gesellschaft, deren Bruttoinlandprodukt zu zwei Dritteln aus Konsumausgaben besteht, schneidet sich der Kapitalismus ins eigene Fleisch, wenn er den Arbeiterinnen die Kaufkraft beschneidet. Das ist eben Sozialdemokratie beziehungsweise ihre ökonomische Unterfütterung.

Ich befinde mich hier übrigens im Gegensatz zur Auffassung von Thomas Piketty, welcher das Zeitalter der Sozialdemokratie mehr oder weniger mit dem Auftritt von Ronald Reagan für beendet hält. Er nimmt einerseits die ideologische Wende, für welche Reagan, Margaret Thatcher und eben auch Helmut Kohl stehen, für bare Münze und den Neoliberalismus beim Wort; die Entwicklung der Einkommens- und Vermögensunterschiede in den Industrieländern gibt ihm dabei auf gewisse Art und Weise auch recht. Aber eben, die verschiedenen Verteilungs- und Umverteilungs­mechanismen sorgen dafür, dass der Konsumanteil am Bruttoinlandprodukt nicht sinkt, sondern zunimmt, was per Definition eine Steigerung des verfügbaren Einkommens in der Bevölkerung voraussetzt, und das ist für mich das typbildende Element in den sozialdemokratischen Regierungsformen und nicht die ideologischen Sekrete der neoliberalen Schreihälse. Die Verheerungen, welche die neokonservative Politik im öffentlichen Sektor vor allem in England angerichtet hat, halte ich dabei eher für systemwidrig als für typisch, aber darüber lässt sich natürlich streiten.

Jedenfalls sieht es im Moment so aus, als wäre der Versuch, die CDU in eine CED umzuwandeln, gescheitert. Ein Teil des Ungemachs hängt sicher damit zusammen, dass Frau Merkel, auch wenn sie eine hervorragende sozialdemokratische Politik betrieben hat, nun lange genug regiert hat beziehungsweise wohl ein paar Semester zu lange. Die gleichen Abnützungserscheinungen haben sich schon vor zwanzig Jahren bei Helmut Kohl gezeigt, wobei der sogar noch von der Wieder­ver­eini­gung profitiert hatte. Aber jetzt haben die Deutschinnen und Deutschen offensichtlich genug. Weil man in der CDU sonst keine Ahnung und Orientierung hat, befeuert man in diesem Zusam­men­hang halt das, was man an konservativen Versatzstücken noch im Schrank hat und was man dann halt «die Werte» nennt. Man will zurück in die Mitte, wie das der abtretende Black-Rock-Vorstandschef Friedrich Merz ausdrückt, unter voller Verkennung der Tatsache, dass die CDU noch nie derart in der Mitte war wie unter Helmut Kohl und Angela Merkel. Und überhaupt, zurück: Das ist eine Richtung, welche die Zeit nun mal nicht kennt. Wir sind alle zum Vorwärts verdammt. Aber selbstverständlich können wir als Politikerinnen mit dem Stimmvolk auch Allotria treiben und dieses Vorwärts dann halt doch zurück nennen.

Von diesem Kabarett wird dann am Schluss auch die SPD noch einmal etwas profitieren, indem sie von der nach rechts rutschenden CDU wieder ein paar ihrer Stammthemen zurück erhält, vielleicht reicht das aus, um in den nächsten Jahren doch dauerhaft zweistellige Wählerprozent-Anteile zu erringen. Und wenn die CDU tatsächlich, um der Allianz für Deutschland fünf Wählerinnenprozent-Anteile zu entringen, in der politischen Mitte dauerhaft zehn Wählerinneprozent-Anteile abgibt, dann können wir vielleicht die alte deutsche Polit-Operette mit den Spiegelfechtereien zwischen den C-Parteien und den Sozialdemokratinnen und den Grüninnen wieder ins Programm aufnehmen.

In der Zwischenzeit gibt es aber auch so noch genug zu tun. Ein gewisses stumpfsinniges Vergnügen bietet dabei die Verkehrspolitik mit der sie tragenden CSU. Dem Verkehrsminister Scheuer kann man wohl nicht länger gram sein, den muss man zu bewundern beginnen angesichts seiner Hartnäckigkeit, den im Untergang begriffenen Automobilismus weiterhin als Maß aller Dinge zu zelebrieren, inklusive Tempolimit und Blockade aller möglichen Eisenbahn-Infrastrukturprojekte. Daneben wartet euer Gesundheitssystem schon seit langer Zeit auf eine sozialdemokratische Überholung. Ja, auch hier wäre eigentlich alles vorbereitet für eine Aufhebung der Widersprüche im Schoße des Volkskörpers, indem nämlich der Gesundheitsbereich rein wirtschaftlich gesehen der Sektor mit dem zuverlässigsten Wachstumspotenzial ist. Die Menschen werden immer älter, also sind sie immer länger pflegebedürftig, also besteht hier eine ungeheure, sichere und tendenziell zunehmende Nachfrage nach Dienstleistungen, und was wäre dem Kapitalismus weniger wesensfremd, als sich um ihre Befriedigung zu bemühen! – Das einzige Problem besteht in der Finanzierung, aber für die Wirtschaft tut die Politik sonst doch alles, nicht wahr? Ihr solltet euren Vertreterinnen in Berlin mal klar machen, dass in absehbarer Zukunft nicht mehr die Automobilfabriken, sondern der Pflegebereich, die Pharmaindustrie und auch die Medizinaltechnik die richtigen Wachstumsmotoren sind, neben einigen anderen, selbstverständlich. Es kommt als erfreuliche Nebenerscheinung hinzu, dass der Pflegebereich sehr arbeitsintensiv ist, also Arbeitsplätze in Hülle und Fülle schafft. Und was tut euer Land? Ihr straft das Personal bis hinauf zu den Chefärztinnen ab durch miese Arbeitsbedingungen und tiefe Löhne. Ja seid ihr denn von Sinnen, eigentlich? Ein richtig ordentlicher Gesundheitssektor ist nicht nur wirtschaftlich top, sondern sorgt auch für gute Laune bei der Gesamtbevölkerung, welche dann vielleicht auch etwas weniger AfD wählen tut, wobei das wieder etwas anderes ist, ich weiß nicht, ob man AfD medikamentös behandeln kann, aber eigentlich ist das auch egal, denn es besteht keine Notwendigkeit, auch hier noch für diese Ansammlung brauner Pfeifen und ahnungsloser Trottel Werbung zu machen. Wobei es durchaus interessant ist, wie sehr sich Menschen aus ansonsten absolut unterschiedlichen Herkünften in der Ablehnung der Allianz für Deutschland einigen können. Das erscheint unsereinem dann schon wieder verdächtig. Aber bitte.

Eine Erklärung für die chronische Unterfinanzierung des Gesundheitssektors, übrigens nicht nur in Deutschland, sondern weltweit, mag darin liegen, dass es noch keine multinationalen Gesellschaften gibt, welche die Spitäler oder das Gesundheitswesen insgesamt betreiben, sondern dass die Einrichtungen von der Ausbildung bis hin zum Spital in der Hand der Öffentlichkeit liegen und damit dem Gezerre der Interessenklüngel ausgesetzt sind. Offenbar hat jener Stand, den man vor nicht allzu langer Zeit geradezu ehrfürchtig behandelt hat, einen Großteil seiner gesellschaftlichen Bedeutung eingebüßt, vom Pflegepersonal gar nicht erst zu sprechen. In dem Zusammenhang würde ich jetzt gerne mal sagen können: «Die machen etwas!», das heißt, es werden jene Forderungen aufgestellt und der dazu gehörige Druck aufgebaut, welche die entsprechenden Finanzmittel auf den jeweils zuständigen Ebenen von Bund und Ländern freisetzen. Ist denn das so schwierig?



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Albert Jörimann
18.02.2020

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