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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Die EU entsteht

Das Tauziehen um das Mehrjahresbudget und den Covid-Wiederaufbaufonds der Europäischen Union geht weiter. Man kann es als unwürdiges Spektakel bezeichnen und als Gerangel verschiedener Einzelinteressen; man kann aber auch sagen, dass genau dies die einzig mögliche Form der gemeinsamen Arbeit unterschiedlicher Staaten sei.



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Persönlich finde ich das einzig unwürdige Element an diesem Spektakel, dass sich die Regierungschefinnen und sonstigen Verantwortungsträgerinnen jeweils am letzten Tag bis morgens um vier Uhr in der früh balgen über eine Lösung, die bereits vor dem ersten Verhandlungstag ausgemacht war. Was soll der Scheiß, dieses volkspädagogische Dramolett, mit welchem offensichtlich die dümmsten Populistinnen der jeweiligen Länder davon überzeugt werden sollen, dass ihre nationalen Vertreterinnen bis aufs Blut gekämpft respektive bis zur Migräne verhandelt haben? Hier zeigen sich die unschönen Seiten der Demokratie in ihrer reinen Gestalt, nämlich im Morgengrauen, mit Betonung auf Grauen. Man könnte es einfacher haben und in solchen einfachen Verhandlungen auch einiges zur Entspannung beitragen, nämlich zum Abbau der Ressentiments unter den Mitgliedsländern. Aber offenbar sind die Zeiten noch nicht reif dafür, und dementsprechend hat es seine Logik, dass der ungarische Urban Orban ausgerechnet die Leitung der Film- und Theater-Universität in Budapest usurpiert hat.

Grundsätzlich aber hat die Europäische Union zu ihrer Gestalt gefunden, will mir scheinen. Dass diese Gestalt nicht mit der Vorstellung übereinstimmt, die man sich von ihr ursprünglich gemacht hat oder die man sich nach wie vor wünschen täte, liegt in der Natur der Sache. Es ist sicher nicht die freie Assoziation freier Staaten oder gar aller freien Europäerinnen und Europäer daraus geworden. Das aufklärerische und emanzipatorische Moment fehlt praktisch vollständig. Die Teilnehmenden fühlen sich keineswegs als Europäerinnen, sondern, wie man den Eindruck hat, noch viel stärker als Deutsche, Französinnen, Rumäninnen, Schwedinnen und Griechinnen denn je zuvor. Trotzdem: Langsam bildet sich ein Überblick heraus, wo man im Dickicht der Interessen­blöcke die Mechanismen der direkten demokratischer Einflussnahme einrichten kann. Ist noch ein ordentliches Stück Wegs bis dahin, aber der Weg zeichnet sich ab. Es geht über die Stär­kung des Parlaments, zunächst, welche auf verschiedene Arten erfolgt; dann müssen verschiedene demo­kra­tische Elemente halt in einigen Mitgliedstaaten noch etwas geübt werden. In der Beziehung kann man den Visegrad-Verbund der ehemaligen Ostblock-Staaten hervorheben. Dass ihre Vergan­genheit diesen Ländern andere Herangehensweisen geradezu aufdrängt, versteht sich von selber. Es ist doch nur zu loben, dass sie sich organisieren und ihre Vorstellungen auf den Tisch legen.

Bulgarien bildet gegenwärtig ganz offensichtlich eine Ausnahme. Einen derart starken Grad an Korruption und Fehlverwendung von EU-Mitteln kann die Europäische Union nicht hinnehmen. Ich wüsste im Moment allerdings auch nicht, welchen der verschiedenen Hebel man da zuerst ansetzen müsste. Umso gespannter bin ich auf das Vorgehen in den nächsten Wochen.

Eins steht fest: Die Geschichte verläuft in der Regel nicht so, wie ich es wünsche. Nur als Beispiel: Der Sozialdemokrat Bernie Sanders hat in den Vereinigten Staaten keinen Stich bei seinen Bewerbungen um eine demokratische Präsidentschaftskandidatur, weil er sowieso keinen Stich hätte bei den Wahlen. In den USA ist alles in Verruf, was entfernt nach Sozialismus riecht, und zwar seit einhundert Jahren. Das ist ein Fakt, dem ich meine Sympathien für Sanders grummelnd unterordnen muss. Die sozialdemokratischen Parteien Europas, die in der Praxis seit hundert Jahren Systemparteien sind, aber trotzdem noch in den Programmen Bezug nehmen auf verschiedene sogenannte Grundwerte, die mir einleuchten, haben in den letzten fünfzig Jahren keinen einzigen Erfolg mehr erzielt auf der Basis dieser Grundwerte. Im Gegenteil: Dort, wo sie Erfolge erzielten, war es durch den praktischen Verrat des eigenen Programmes. Auch diesem Fakt muss ich mich stellen, auch wenn er mich weniger überrascht, da der Verratsvorwurf ebenfalls seit hundert Jahren erhoben wird. Allerdings bezog er sich früher nicht auf das eigene Programm, sondern auf die Politik der Kommunisten. Aber ihr Werdegang in den letzten 50 Jahren, die Entwicklung der Sozialistischen Internationale hin zu einer kriminellen Vereinigung zur Ausbeutung der Staatsfinanzen, einmal abgesehen vom reinen Machtstreben von Mitterrand über Blair bis zu Schröder, wenn man nicht schon Helmut Schmidt dazu rechnen will, das ist eben auch ein Fakt. Der Niedergang der italienischen Kommunisten nach ihrer Verpuppung als Sozialdemokraten bis zur endlichen Wiederauferstehung als Partito-Democratico-Schmetterling, das heißt als sozialer Flügel der FDP, ist ebenfalls Fakt. Sie alle werden nur dadurch relativiert, dass die Sozialdemokraten in diesem Prozess nicht zu Nationalsozialisten geworden sind, sondern zu Kopien ihrer bürgerlichen Konkurrenten, während diese sich an der Macht zu halten vermochten dank der Integration sozialdemokratischer Grundsätze in ihre politische Praxis. Aber Halt, Heimat und Hoffnung auf fortschrittliche Politik, mindestens im Großen, dafür muss man sich andernorts umsehen.

Wo ist dieses Andernorts? Nirgends.

Das ist die Tatsache, mit welcher Menschen umgehen müssen, die sich als politisch verstehen, das heißt, welche davon überzeugt sind, dass Demokratie möglich ist, dass Bildung möglich ist und dass eine angemessene Verteilung des immensen globalen Reichtums auf der ganzen Welt keine Fiktion ist, sondern vom Entwicklungsstand der Produktivkräfte her längstens möglich wäre. Es ist absurd, dass man zum Beispiel in Deutschland noch mit Dingen wie Hartz IV zu kämpfen hat, dass es überhaupt noch Diskussionen über Altersvorsorge und über 2-Klassen-Medizin gibt – was soll das? Es ist absurd – und ein Fakt.

Ich will nicht sagen, dass mit dem Niedergang der Sozialdemokratie eine allgemeine Orientierungs­losigkeit ausgebrochen ist; die Grünen haben zum Teil vertretbare Ziele, die Linke setzt sich für die Emanzipation ein und so weiter und so fort. Trotzdem führt eine gewisse Verunsicherung unter anderem dazu, dass viele sensible Menschen, vor allem wenn sie nicht mit dem scharfen Radar der Vernunft ausgestattet sind, sich vorübergehend seltsamen Bewegungen und Menschen anschließen, wie sich dies bei den Corona-Leugnern zeigt. Ich gestehe, dass auch in meinem Bekanntenkreis hin und wieder Bedenken ausbrechen, ob der Staat oder die CIA, wenn sie schon nicht hinter dem Ausbruch des Virus selber stehen, so doch seine Bedeutung hochspielen, um – ja, hier beginnen die Aussagen dann zu stolpern. Was soll Jens Spahn denn mit seinen Corona-Plänen für einen Zweck verfolgen in der Bundesrepublik? Die PSOE in Spanien? Giuseppe Conte in Italien? Es ist, eben, sofern man seinen Vernunft-Radar noch in Betrieb hat, allzu offensichtlich, dass nichts von einem Plan hinter der Pandemie-Bekämpfung steht. Auch der vermeintliche Zwangsverzicht auf die Bürgerrechte ist eine vollständige Lachnummer, wenn man sich vergegenwärtigt, was diese freien Bürgerinnen und Bürger dem internationalen Kapitalismus schon alles auf Facebook und Instagram geschwatzt haben. Wenn es um Überwachung geht, so spielt die Musik hier, nicht bei der Corona-Virusbekämpfung.

Aber manchmal müssen überschüssige Energien einfach raus, und es ist eben auch eine Tatsache, dass das moderne Individuen schon so viele Triebe zügeln oder unterdrücken muss, dass dafür hin und wieder eine Abfuhr notwendig ist. Nehmen wir diese Corona-Hysteriker mal von dieser Seite, dann wird es wenigstens uns selber nicht mulmiger als nötig.

Weiterhin andere Probleme haben die Staaten südlich der Sahara. Einmal sind die jährlichen Regenfälle in diesem Jahr stärker ausgefallen als üblich, was ebenso zu Katastrophen führt wie Dürre. Anderseits wirken hier die Ideen und Waffen des Islamischen Staates nach. Am 9. August brachten ein paar Dschihadisten in Nigeria 6 französische Entwicklungshelfer und zwei lokale Mitarbeitende um. In Burkina Faso geht die Angst um vor den Wahlen im November, und in Mali und im Tschad bietet die unsichere Lage auch keinen Anlass zum Feiern. Dagegen herrscht in Libyen im Moment eine Art von Waffenruhe, in welcher sich auch die sogenannte Zivilgesellschaft wieder aus der Deckung wagt und sich in verschiedenen Städten zu Demonstrationszügen formiert hat. Ob diese Bewegung irgendwann einmal zu einem Faktor wird beim Wiederaufbau des Landes, der logischerweise erst nach der offiziellen Beendigung der Auseinandersetzung zwischen den Parteien von Sarraj und Haftar beginnen kann, das wird sich bei Gelegenheit noch erweisen.
Die zehn- oder hunderttausenden von Flüchtlingen, die in Libyen ebenso feststecken wie in den Camps auf den griechischen Inseln, bilden so etwas wie einen eigenen Strang dieser Geschichte. Sie sind auf der einen Seite so etwas wie das Bindeglied zwischen den türkischen Drohungen gegenüber Griechenland und der EU in der Flüchtlingsfrage und dem türkischen Engagement in Libyen, welches nicht nur ein Energie-, sondern eben auch ein Flüchtlingsreservoir darstellt. Flüchtlinge bedeuten Geld und Potenzial, das weiß unser türkischer Freund Erdogan sehr genau, aber ich würde trotzdem noch nicht so weit gehen und sagen, dass er die Regierung Sarraj genau aus dem Grund unterstützt hat, um in den Besitz dieser Ressource zu kommen. Was seine genauen Beweggründe sind, muss vorderhand seine Sache bleiben, mir reicht der Hinweis auf den inhaltlichen Zusammenhang.

Hier findest du alle Kolumnen von Albert Jörimann von 2007 bis heute.

Albert Jörimann
22.09.2020

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