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Aus neutraler Sicht von Albert Jörimann "Hochstapler"

[11.Kalenderwoche] Dass ich Thomas Mann nicht mag und insonderheit nicht seine blasierte und elitäre Attitüde des Sprachgenies, das bei genauem Hinsehen nichts als den Sprachbuchhalter versteckt, ist nichts Neues. Gleichzeitig räume ich ihm den ...

... Kredit ein, den einen oder anderen literarischen Treffer gelandet zu haben, natürlich die Buddenbrooks, aber auch den ziemlich verspielten Felix Krull. Dieser Figur gehört meine Sympathie, ebenso wie verschiedenen anderen echten Hochstaplern, die eben mit Betrügern nichts zu tun haben, sondern vielmehr alternative Lebenskonzepte austesten.

In der Tat: Die kleinen Menschlein, die Tag für Tag neu geboren werden und neuerdings in Deutschland vom Staat noch bezuschusst werden, haben ja zu Beginn sämtliche Lebensoptionen offen. So einem Baby steht noch nichts ins Stammbuch geschrieben, es könnte ebensogut Starköchin werden wie eine drittklassige Tangotänzerin in Abu Dhabi oder Anlageberaterin auf den Bermudas oder Chemielaborantin oder was weiß denn ich. Mit dem Heranwachsen verengen sich die Perspektiven dann, und leider ist oft die Schule jener Ort, wo individuelle und soziale Hoffnung vollends abgetötet wird – das ist nebenbei ein Kernproblem des ganzen Schulsystems, einmal unabhängig von den übrigen gesellschaftlichen Umständen. Wie auch immer: Per Saldo der Ausbildung und nach Abschluss der Pubertät oder Mädität steht man dann da, egal ob auf der Straße oder im Berufsleben, und hat nur noch die eine Identität, eben zum Beispiel als Mittelschullehrerin, wo man doch daneben noch mindestens hundert ebenso schöne und wertvolle Eigenschaften hätte. Die Figur des Hochstaplers oder der Hochstaplerin nimmt sich eben die Freiheit, diese anderen Eigenschaften auch zu bespielen. Das ist wirklich befreiend, und das macht eben auch den Genuss am Felix Krull aus. Ein Gleiches gilt für den Hauptmann von Köpenick oder für jene Ärzte, die jahrelang ohne Berufsabschluss erfolgreich heilen, einmal unabhängig davon, dass ich selber einen Arzt mit Berufsausbildung und Berufspraxis mit Sicherheit vorziehe, aber seis drum. Hochstapeln beziehungsweise andere Fähigkeiten der eigenen Existenz ausloten erscheint mir ein Motiv von geradezu überbordender Aktualität in einer reichen Gesellschaft, die es sich eigentlich leisten könnte, an ihren Mitgliedern eben nicht nur gerade die eine berufliche Dimension zu entwickeln, die oft mehr oder weniger zufällig gewählt wird und nicht selten auf Fehlentscheide zum Beispiel des Lehrkörpers zurückzuführen ist. Es geht eben nicht nur um die freie Berufs-, sondern insgesamt um die freie Existenzwahl. Ich würde eigentlich auch vorschlagen, so etwas wie Lebenspraktika zu machen in anderen Gesellschaftsklassen; denn einmal abgesehen von der Tatsache, dass man sich vielleicht gerade dem Klassenfeind an den Hals wirft, gibt es da mit Sicherheit verschiedene bereichernde Aspekte zu entdecken, und damit meine ich jetzt beileibe nicht in erster Linie die Kohle.

Es gibt ja wirklich strukturell nichts langweiligeres, als sich ein Leben lang im gleichen Klassenbewusstsein einzumauern. Klassenbewusstsein ist nur dann etwas wert, wenn es dynamisch ist, das heißt, auf die eigene Abschaffung abzielt, eben im Rahmen eines Emanzipationsprozesses: Die Arbeitnehmer müssen zusammenhalten, um sich selber als Arbeitnehmer abzuschaffen. Wenn aber das Klassenbewusstsein so etwas wie die Wände der individuellen Zweiraum-Wohnung für eine ganze Gesellschaftsschicht darstellt, dann ist sowas zutiefst betrüblich. Demgegenüber enthält das Konzept des Hochstaplers geradezu ungeahnte Freiheiten. Der einzige Nachteil ist der, dass der Hochstapler eben die Ausnahme von der Regel darstellt, und ich hielte nun eigentlich die Zeit reif für eine Gesellschaft, in der alle Menschen auf unterschiedlichen Hochzeiten tanzen. Jedermann und jede Frau sollte gesellschaftsfähig sein, in allen Schichten. Dann bräuchten wir nämlich nicht mal die Schichten abzuschaffen, sondern die verschiedenen Gesellschaftsklassen würden uns zur Unterhaltung dienen. Ich meine jetzt aber nicht so wie mit dem «Bravo» oder mit den Klatschspalten, die neben dem Wetter- und dem Börsenbericht zu den tragenden Pfeilern der modernen Medienwelt gehören, sondern in echt. Proletarier auf den Opernball! Arabella Kiesewetter ins Kloster! Bisher sind allerdings aus den entsprechenden Ansätzen nur Frankenstein-Figuren herausgekommen wie beispielsweise der bedauerliche Boris Becker, dessen irritierte Unfähigkeit nach und nach in allen anderen Formaten getestet wird. Erinnert Ihr Euch überhaupt noch daran, dass der seinerzeit mal als Steuerflüchtling nach Monaco zog, bevor er dann nach italienisch Monaco und deutsch München wieder zurückkehrte, wo er anschließend weiter Steuern hinterzog, dabei aber irgend wann mal aufflog? Also am Beckerboris sollte sich die arbeitende Klasse kein Vorbild nehmen. Vorbildcharakter für die männliche Bevölkerung haben allenfalls Menschen wie George Clooney, der bekanntlich am italienischen Comersee wohnt, und bei den Frauen dürfts ihr euch selber aussuchen.

Ernst beiseite. Nach wie vor bevorzuge ich unter den sogenannt lustigen oder sogar Satiremagazinen in Deutschland die Titanic, mit großem Abstand vor dem Eulenspiegel, obwohl der Eulenspiegel im März 82 Seiten für 5 Schweizer Franken anbot gegenüber der Titanic mit nur 66 Seiten für 7 Franken 90, also im Preis/Leistungs-Verhältnis deutlich besser abschnitt. Ich halte übrigens das Konzept des Eulenspiegels mit dem deutlichen Schwerpunkt auf dem gezeichneten Witz für besser als jenes der Titanic, welche im geschriebenen Teil auf den beiden tragenden Säulen der Humorkritik von Hans Mentz und den Briefen an die Leser beruht und daneben nur noch von Max Goldt zehren und von vereinzelten geglückten Karikaturen, während ironische Fotoromanzen oder Partner Titanic eigentlich von den 66 Seiten abgezählt werden müssen bzw. die als Schmerzensgeld auf den Preis kommen. Man bezahlt also bei der Eule für 82 Seiten 5 Schweizer Franken, während man bei der Titanic für knapp 30 Seiten 15 Franken bezahlt. Aber die Briefe an den Leser und die Humorkritik habens halt nach wie vor in sich und machen den Abstand aus; beim gezeichneten Bild dagegen liegen die beiden Magazine gleichauf, wenn nicht der Eulenspiegel unterdessen sogar die Nase vorne hat. Wie auch immer: Dass auch ein Hans Mentz zwischendurch mal irrt, ist geschenkt und versteht sich von selber, aber dass er völlig kommentarlos in jenem aufschwellenden Hauptstrom mit treibt, welcher mehr oder weniger bedenkenlos alles halbwegs im Ruch der Originalität stehende englischsprachige Produkt, und zwar egal ob aus England selber oder aus den Vereinigten Staaten, noch vor der Vorpremière der ersten Folge der Reihe oder Reihenfolge wie eine Kultserie behandelt, lässt mich den vagen Verdacht hegen und pflegen, dass Hans Mentz auch Stefan Raab lustig finden würde, wenn er bloß, sagen wir mal Borat heißen täte und englisch radebrechen würde. In der März-Ausgabe werden die US-Serien Curb Your Enthusiasm und It’s Always Sunny In Philadelphia gelobt, und ich wette, in den letzten 12 Ausgaben gab es Lorbeeren für mindestens 6 weitere Serien oder Einzelsendungen. Ich halte mich da raus und erinnere mich an meine erste Begegnung mit den Monty Pythons, das war nämlich der Kinofilm «The Holy Grail», und ich wusste echt nicht, worum es geht, obwohl der Film zu Deutsch «Der Ritter von der Kokosnuss» heißt, warum, könnte ich auch heute noch nicht sagen. Jedenfalls hatte ich damals nach fünf Minuten einen Hirnsturz, der nur jenem zu vergleichen war, den ich beim erstmaligen Genuss der Kriminalreihe «Kottan ermittelt» hatte. Anschließend war natürlich beides ein muss, sowohl sämtliche Monty-Pythons-Serien als auch Kottan rauf und runter; beide geistern ja in regelmäßigen Abständen durch die Nachtprogramme, und in der Zwischenzeit, Gott seis geklagt, habe ich die Lust darauf verloren; es lachen mir jetzt zuviele Menschen über diese Art von Witz, die ansonsten ganz andere Auffassung und vor allem eine völlig unterschiedliche Denk- und Lachpraxis haben als ich. Und dies, fürchte ich, hat sich bei dieser Witze-Anglophilie auch ereignet. Es besteht ein allgemeiner Konsens, wonach sämtlicher Witz aus Angloamerika lustig sei, wenn er die entsprechenden anarchistischen Vorzeichen aussendet. Da bin ich wirklich skeptisch. Im Gegensatz zu den Simpsons, die ich sowohl auf Pro7 als auch auf ORF 1 konsumiere, wenn es mir immer möglich ist, täglich jeweils zwischen 18 und 19.30 Uhr. Aber die sind ja auch schon älter, und da zeigt sichs wieder mal, welche Vorteile es hat, wenn man sich nicht sofort jedem Mainstream anschließt: Man kann die entsprechenden Teile nach 10 Jahren völlig neu entdecken und braucht den Genuss mit keinem Mainstream nicht zu teilen. Die Lebensqualität steigt.

Wir haben seit einigen Wochen einen neuen Fernseher mit Großbildschirm und müssen den jetzt natürlich auch nutzen. Dementsprechend habe ich letzthin wieder mal eine Sendung über die jordanische oder israelische oder palästinensische Westbank nicht weggezappt, wo so ein Siedlervertreter wieder mal unzensiert herausgelassen hat, dass die AraberInnen und PalästinenserInnen wohl schon seit Generationen auf diesem Land wohnen und es bebauen, dass aber die Israeli bzw. die Juden schon lange vorher da gewesen seien, nämlich vor 2000 Jahren und mehr, weshalb die PalästinenserInnen jetzt wegmüssten. Es wird ja auch munter weiter gebaut, trotz allen Verboten und Gelöbnissen der israelischen Regierung, wobei ich nicht einmal glaube, dass die meisten Bauherren diese Pilzerkrankung des Hirns teilen, unter der der Herr israelische Großsiedler und Ahnenforscher offenbar leidet. Die meisten bauen sich einfach ein Haus, weil sie ziemlich sicher sind, dass die israelische Armee und Polizei sie zunächst gegen die ursprünglichen Landbesitzer verteidigt und dann in ein paar Jahren oder Jahrzehnten schon ein Schutzmäuerchen errichten wird um das illegale Gebäude, denn illegal ists ja nur gegenüber den PalästinenserInnen, und wen kümmert das schon. Solche Sachen machen es immer wieder schwierig, die israelische Politik wirklich zu verstehen oder gar zu verteidigen. Zweitausendjährige Gebietsansprüche, mein lieber Schwan! Da müsste ich wahrscheinlich irgendwelche Moskowiter vertreiben, während die PalästinenserInnen immerhin argumentieren könnten, dass sie die Ureinwohner gewesen seien, bevor Moses das Land überrannt habe. Das ist sowas von absurd, dass man einen Staat, welcher sowas zulässt, und eine Religion, welche diese Haltung nicht in Grund und Boden verdammt, mit allen Mitteln der weltlichen Kritik angreifen muss. Gibt es denn keinen Oberrabbiner, welcher gegen diese zionistischen Idioten eine Fatwa erlässt? Oder vielleicht würde Papst Benedikt aushilfsweise mit einer Enzyklika aushelfen, wenns bloß hilft.

Wie auch immer: Ich möchte zum Abschluss noch ein Beispiel für die Entwicklungsgeschichte guter Ideen vorbringen. Es geschah vor noch nicht allzu langer Zeit in einem der neuen Bundesländer, dass die Hauptstadt sich entschloss, sauber zu werden, und sie führte eine Rote Karte ein. Erfurt zeigt dem Schmutz die rote Karte!, mit einem Bußgeldkatalog für die verschiedensten Übeltaten und Verunreinigungen, Spucken, Zigarettenkippen auf die Straße werfen und so, der dann von zwei oder drei leichtgewichtigen Polizei-Doppelpatrouillen mindestens überwacht, aber wohl niemals wirklich im Ernst durchgesetzt wurde. Da es sich aber um eine derart schöne und sympathische Idee handelte, verbreitete sie sich allüberall um die Erde, und eine der prominentesten Nachfahrerinnen war das schweizerische Provinzkaff, ach, geschätzte Hörerinnen und Hörer, Freundinnen und Freunde und sowieso Sauberkeits- und Ordentlichkeitsfanatiker: Ich bin mir gar nicht mehr sicher, ob es nun Glattfelden oder Rümlang oder Dielsdorf oder Dietlikon oder Regensberg war, jedenfalls eine dieser städtischen Siedlung im Umfeld von Zürich und seinem Flughafen, ich glaube, es war Glattfelden. Also Glattfelden hat jetzt, trari!, die Rote-Karte-Regelung übernommen, und ab sofort bezahlt man dort CHF 30.—, wenn man auf die Straße spuckt.



Das hättet Ihr nicht gedacht, wie?


NB: Es ist Wallisellen! Wallisellen!

Albert Jörimann
15.03.2007

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