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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Die Deutsche Regierung

Die neue Regierung ist nun schon 100 Tage im Amt, oder etwa nicht? Kein Mensch kümmert sich darum, Deutschland befindet sich regierungstechnisch in einem Kontinuum, das nicht einmal durch die lange Zeit zwischen den Wahlen und der Vereidigung des Kabinetts auch nur annähernd gestört wurde.



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Langweilig. Aus neutraler Sicht ist dies eines der höchsten Komplimente, die man einer Regierung machen kann: langweilig. Unsere Schweizer Regierung ist dafür das Paradebeispiel. Wir besetzen die sieben Ministerposten seit ewigen Zeiten mit Durchschnittspersonen, die von der Mühle des Parlamentsbetriebs auf null Reibungsfläche abgeschliffen wurden, wenn es dessen überhaupt noch bedurfte. Unsere Bundesrätinnen und Bundesräte sind derart langweilig, dass sie nicht einmal Personenschutz brauchen und abends unbehelligt in einer Berner Altstadtkneipe ein Bier trinken, bevor sie in ihre Einliegerwohnung zurückkehren, ganz alleine, denn die Ehefrau oder der Ehemann gibt gleichzeitig zuhause ein rauschendes Fest mit Kokain und anderen synthetischen Drogen. Und falls einer einmal doch aus dem Gremium herausragen sollte, dann wird er abgewählt wie der legendäre Prophet des rechten schweizerischen Nationalismus, Dr. Christoph Blocher, oder aber die bürgerliche Mehrheit beschert ihm eine Niederlage in einer Volksabstimmung über sein Projekt zur Reform der Altersvorsorge wie bei unserem Innenminister und aktuellen Bundespräsidenten Alain Berset vor einem Jahr.

Langweilig – fantastisch! – Dies ist natürlich eine technische Einschätzung, eine Aussage über das normale Funktionieren des Apparates und der Institutionen; sollte dagegen ein Bedarf an Erneuerung derselbigen Bestehen oder gar ein Bedarf nach Revolution, müsste man sich der Sache anders nähern. Aber unter den gegebenen Umständen ist es am Platz, die anhaltende Langeweile in der deutschen Politik für einmal zu loben und zu rühmen. Wir würden uns selbstverständlich wünschen, dass mit der Reform eurer Armengesetzgebung schneller und gründlicher voran gemacht wird, aber angesichts der Massierung von Trantüten in Medien und Machtzentren darf man sich keine besonderen Hoffnungen machen, Langeweile hin oder her.

Man kann auch keine schlüssigen Aussagen machen zum neuen Personal in der Regierung. Über den Seehofer wird man sich eine konkrete Meinung bilden, sobald er aufgehört hat, bayrischen Wahlkampf zu machen. Der Dombrindt gehört bekanntlich der Vergangenheit an. Wer einen Ein­druck von seinen Errungenschaften als Minister gewinnen will, der fährt einfach mal mit der Deut­schen Bahn. Daneben waren und sind seine öffentlichen Verlautbarungen derart unter aller Sau, dass man darauf nicht im Ernst eingehen kann. Sein Nachfolger Andreas Scheuer soll bisher noch gar nie im Büro gesichtet worden sein. Sein Spruch, dass man einen fußballspielenden minis­trie­ren­den Senegalesen nie mehr ausschaffen könne, mag der politischen Korrektheit stark missfallen, aber ich finde das Bild allzu poetisch, um es zu kritisieren. Wenn man den Senegalesen umwandelt in einen Schwarzen, dann tönt das wie eine Analyse der bayrischen CSU. – Frau von der Leyden ist nicht wegen ihrer Politik, sondern wegen ihres Ministeriums ein Fall für sich und fällt damit aus der Beurteilung. Der neue Finanzminister scheint im Moment nicht viel anderes zu tun als sein Vorgänger, was angesichts seines Ressorts auch nicht weiter verwundert. Die einzige Figur, die mir aufgefallen ist, ist Heiko Maas, der in seiner Kommunikation so tut, als würde er sich an intelligente Wesen richten und als würde die deutsche, also seine Außenpolitik gewissen moralischen, ethischen und juristischen Standards folgen – letzteres ist weitgehend unmöglich, denn dafür wurde die Außenpolitik nicht erfunden, und ersteres erscheint zwar auf den ersten Blick wohltuend, aber ob sich diese Haltung oder Darstellungsweise auf lange Frist bewährt, muss sich noch weisen. Seine Landsleute als denkende Wesen anzusprechen, das mochte als Justizminister noch angehen, weil man davon ausgehen konnte, dass er sich in erster Linie an die Fachleute wendet; aber gleich die ganze Bevölkerung? – Man wird ja sehen, wo das noch hin führt mit ihm.

Frau Merkel dagegen regiert vor sich hin wie eine physikalische Konstante. Dabei ist dies ihre letzte Amtszeit, und die größte Leistung wird in der Nachfolgeregelung bestehen. Schön, dass wir wenigstens von einem wissen, dass er dafür in den nächsten Jahren nicht in Frage kommt, nämlich vom Gesundheitsminister, dessen Name mir gerade entfallen ist, der aber auf jeden Fall noch ein paar Jahre benötigt, um zwischen Wahlkampf, echter Dummheit Dobrindtscher Prägung und wirklichem Regieren zu unterscheiden. Aber daneben liegt das Feld weit offen. Vielleicht ist jetzt doch endlich mal ein CSU-ler an der Reihe, vielleicht jener mit dem bekannten Namen Gerd Müller, oder wenn's eine Frau sein sollte, die Staatsministerin für Digitalisierung Dorothee Bär? Ein zeitgemäßeres Ressort als das ihrige gibt es wohl in der ganzen Regierung nicht. Wenn man sich umgekehrt vergegenwärtigt, wer bis letztes Jahr in der EU für Digitalisierung zuständig war, steigen gewisse Zweifel auf: Ist Frau Bär ein neuer Oettinger? Das wiederum erscheint ganz und gar unmöglich. Dann aber und wiederum ist Frau Bär zu jung und hat nun doch allzu wenige Feinde, um auch richtige Freunde zu haben für eine Seilschaft, wie sie notwendig ist, um in ein solches Amt zu kommen.

Mich geht das übrigens nicht nur nichts an, sondern auch interessiert es mich nicht besonders, solange ich keine Anzeichen für eine echte Entwicklung sehe in der Politik ebenso wie in der gesamten Bevölkerung, wobei ich selbstverständlich die Tendenz habe, die Stimmung in der Bevölkerung gleichzusetzen mit der öffentlichen Meinung beziehungsweise dem veröffentlichten Teil davon, was durchaus nicht korrekt sein muss, aber wie auch immer. Mir soll man mit deutscher Politik vor allem dann wieder kommen, wenn sie sich zur Einführung eines Grundeinkommens entschließt oder zum Beispiel zu konstruktiven Beiträgen zur Überwindung des Nationalismus.

Ich sehe durchaus keine Kriegsgefahr, damit dies auch noch gesagt ist, vielmehr erscheint mir der Nationalismus als billiger Ersatz für jene ideologische Lücke, die entstanden ist mit dem Erreichen der sozialdemokratischen Staatsform. Die Sozialdemokraten haben nichts mehr, wofür sie kämpfen können, und die Konservativen haben nichts mehr, wogegen sie sich dringend zur Wehr setzen müssen. Da bricht dann halt das Gefasel und Geflunkere aus, zum einen im Rahmen der alten Denkgewohnheiten und Worthülsen, beispielsweise bei den Gewerkschaften, andere flüchten sich in Kategorien von Wertgemeinschaften, Kultur und eben Nation, die gar keine Inhalte haben, aber immerhin so tun, als hätten sie es doch. Es nützt nun einfach nichts, die Leerformeln als solche zu kritisieren oder zu entlarven; das einzige, was nützt, ist die Entwicklung von aktuellen Leitsätzen, welche die moderne Gesellschaft halbwegs in die Zukunft führen.

Wollt ihr ein Beispiel? Nehmen wir doch die Landwirtschaft. In ganz Europa, nämlich fast in ganz Europa, also sagen wir mal in den entwickelteren Ländern Europas, welche nicht übermäßig von der Produktivität ihrer Landwirtschaft abhängen, ist man sich einig darüber, dass die konventionelle Industrie- und Intensiv-Landwirtschaft schädlich ist für die Umwelt ebenso wie für das Wohl der Tiere und damit auch der Menschen. Europa sorgt, ebenso wie die Vereinigten Staaten, mit Milliarden-Subventionen dafür, dass gewaltige Überschüsse an Landwirtschaftsprodukten erzeugt werden, die praktisch gratis an die Bevölkerung vertickert werden, während gleichzeitig exakt jene legendäre kleinbetriebliche Bauernstruktur, die uns stets als idyllische Umgebung der Produktion unserer Lebensmittel vorgespiegelt wird, schon längstens am Arsch ist. Warum ist das so? Angesichts des Standes der allgemeinen Produktivkräfte könnte man ohne Probleme dafür sorgen, dass die Menschen etwas mehr Geld im Portemonnaie haben, um etwas mehr fürs Schweinefleisch auszugeben, das dann umgekehrt etwas weniger nach Schweinefutter und Chemikalien stinken würde. Und auf der anderen Seite ließe sich mit einer kleinen Umstellung der Subventionspraxis vermeiden, dass die Überschüsse aus der europäisch-US-amerikanischen Land­wirt­schafts­produk­tion die lokalen Märkte in den Entwicklungsländern versauen. Oder noch einmal: Überproduktion einstellen – auf naturnahen oder wenn's sein muss sogar biologischen Anbau und artgerechte Tierhaltung umstellen – selbige mit den gleichen Beträgen subventionieren wie bisher, aber nicht an Agrarmultis, sondern an eine Mischung aus großen, mittleren und kleineren Betrieben – und schon haben wir's, ohne dass auch nur ein Jota am kapitalistischen System zurecht gebogen werden muss, denn, ihr wisst es alle, in der Landwirtschaft als Ideologieträger par excellence ist seit Jahrzehnten überhaupt nichts mehr kapitalistisch, da herrscht nur noch der Tanz der Verteilungsbürokratie mit den ihr zugeordneten Interessenverbänden der Landwirte und Schweinezüchterinnen.
Diese Vision ist gar keine, als Forderung ist sie nicht neu, sondern uralt, aber sie muss auf jeden Fall einen Bestandteil eines normalen Forderungskataloges bilden, den die fortschrittlichen Kräfte jetzt bitte mal einheitlich aufstellen möchten. Daneben, und wenn man schon nicht direkt in die Feinmechanik der kapitalistischen Produktion und Distribution eingreifen will, möchte man mindestens nicht die kulturelle Identität, sondern den kulturellen Austausch fördern und fordern, und zwar, wenn es schon global nicht möglich ist, so mindestens im Rahmen der europäischen Union. Wieso bitte wird nicht jedes Kind im Rahmen des schulischen Unterrichtes mindestens einmal für ein halbes Jahr in ein anderes Land, in ein anderes Umfeld, in ein anderes Schulsystem gesteckt? Das kann Frankreich genauso gut sein wie Griechenland oder Italien oder Norwegen, völlig egal. Oder aber meine Lieblingsidee: In Zukunft wird ein Zivildienst eingerichtet, und zwar dergestalt, dass die Teilnehmenden vollständig unbewaffnet ins Feindesland abgesetzt werden und dort ein Kultur- und Arbeitsprogramm absolvieren, zum Beispiel in Jekaterinburg. Oder in Salisbury, oder zur Not auch in Tanger.

A propos Tanger: Hier kommt dann die andere, ebenfalls uralte Forderung zum Tragen, dass die Europäische Union endlich ein Assoziierungsabkommen mit den Maghreb-Staaten abschließen muss, von Tunesien bis nach Marokko. Man kann ein solches Abkommen defensiv interpretieren, also die Maghreb-Staaten als Vorposten für die Abwehr der Migration aus Schwarzafrika, im Vokabular von Andreas Scheuer: aus Senegal empfinden; dort würde ihnen übrigens das Ministrieren sofort ausgetrieben. Aber im Grunde genommen geht es um etwas anderes, nämlich um eine notwendige Phase der Entwicklung beziehungsweise der Anpassung von Entwicklungen in verschiedenen Teilen der Welt. Wenn wir in Europa nicht ständig nur Grenzen schließen wollen, bis wir uns am Schluss selber erwürgt haben, dann müssen wir Wege und Formen finden, um die Entwicklung in die Welt hinaus zu tragen. Eine Assoziierung mit den Maghreb-Staaten ist ein unmittelbar möglicher Schritt in diese Richtung. Und aufgepasst: Dies beinhaltet zwingend eine enge Zusammenarbeit mit den am stärksten betroffenen EU-Staaten Frankreich und Spanien. Ich gebe gerne weitere sachdienliche Informationen.





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Albert Jörimann
22.05.2018

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