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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - No No Billag

Vorab einmal herzliche Gratulation – habemus Merkel, oder, wie der Russe sagt: Merkel jest, end­lich. Endlich wieder. Sie war ja nie weg, Eure Bundeskanzlerin, niemand hat gespürt, dass Deutsch­land wochenlang über keine Regierung verfügte, und das ist das höchste Kompliment, das man einem Land machen kann.



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Natürlich war es ein Vorteil, dass Ende 2017 nicht gerade eine neue Banken­krise ausgebrochen ist, welche Diskussionen und Entscheidungen über eine neuerliche Rettung des Finanzsektors erfordert hätte. Stattdessen prosperiert Deutschland wie der Rest Europas vor sich hin. Mit Exporten von 1.4 Billionen US-Dollar bei einem BIP von 3.65 Billionen bezie­hungs­weise 50'000 Dollar pro Kopf, einem realen BIP-Wachstum von 2.1% und einer Brutto­spar­quote von 27.6% könnt Ihr Euch sehen lassen. Bei Euch sind von einer Bevölkerung von 80 Mil­lio­nen gut 46 Millionen Menschen beschäftigt, wovon 24% in der Industrie und 75% im Dienst­leis­tungs­sektor, und die Arbeitslosigkeit erreicht schon fast schweizerische Ausmasse mit 3.8%. Der Anteil der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze beträgt 16.7%, was aber in erster Linie mit der Definition der Armutsgrenze zu tun hat, und die Gesamtverschuldung des Staates stand bei gut zwei Drittel des BIP. All dies hat die CIA von Euch ausspioniert und in ihrem geheimen World Fact Book publiziert.

Es ist alles in Ordnung, bloß die Verschiebungen in den Köpfen sind noch nicht richtig quanti­fi­zier­bar. Vor ein paar Wochen habe ich hier auf das Buch mit dem schönen Titel «2017» von Olga Slawnikowa verwiesen, das jetzt, im März 2018, somit nicht mehr gültig ist, eigentlich, aber der dort beschriebene Vorgang, dass sich anlässlich der Jubiläumsfeiern zum 100. Jahrestag der Oktober­revolution die Figuranten der weißen und der roten Armee plötzlich wieder zu bekämpfen beginnen, worauf aus unerfindlichen Gründen ein Bürgerkrieg ausbricht, niemand weiß worum, bloß ist es der Bürgerkrieg unter den historischen Fahnen der Weißen und der Roten Armee, dieser Vorgang findet gegenwärtig weltweit statt, vorderhand noch ohne Waffeneinsatz, aber an gewissen Orten in der zivilisierten Welt fehlt dazu nicht allzu viel. Wer will, kann die Auflösung von Jugoslawien so verstehen, einfach ohne historisches Vorbild. Wenn es dem Zeitgeist gefällt, dann setzt er die Köpfe in Brand auch ohne irgendwelche Begründungen außerhalb des ihm, in diesem konkreten Fall eigentümlichen Furors. Der Zeitgeist kann allerdings auch ganz anders und begnügt sich in den meisten Fällen mit durchaus gemütlichen und friedlichen, manchmal sogar vernünftigen und hin und wieder auch fortschrittlichen Stimmungslagen; aber hin und wieder brüllt der Zeitgeist auf und berserkert herum.

Einen Bürgerkrieg muss man allerdings nicht befürchten, weder in Deutschland noch in Österreich noch in Polen und auch nicht in Italien, wobei man immerhin den Eindruck hat, dass auf der Ebene der Worte in letzter Zeit an vielen Orten nachgerüstet wurde. Möglicherweise ist das aber ganz einfach der Social-Media-Effekt. Dass die Lügner jene Leute, die sich um Wahrheit bemühen, als Lügner bezeichnen, kennen wir schon aus der Antike, ja es entspricht recht eigentlich der Definition eines Lügners, und insofern braucht es niemanden zu erstaunen, wenn der österreichische Vize­kanz­ler und Möchtegern-Faschist Strache schreibt: «Es gibt in Österreich einen Ort, wo Lügen zu Tat­sa­chen werden – den ORF.» Das staatliche Fernsehen, also. Strache hat sich später von dieser Aussage distanziert, aber jedermann weiß, dass er den ORF am liebsten in den Orkus stürzen oder noch lieber mit seinen eigenen Leuten besetzen möchte. Die echten Schlachten finden gegenwärtig offensichtlich im Medienbereich statt und dort vornehmlich rund um die staatlichen Fernseh­an­stal­ten. Kürzlich habe ich in der ARD einen Überblick über die entsprechende Lage in Europa gesehen. Straches feuchte Träume sind in Polen bereits Wirklichkeit, was mich einerseits nicht erstaunt, anderseits die Frage aufwirft, wann die in Polen zweifellos vorhandenen bürgerlich-demo­kra­tischen Kräfte die polnische Ausgabe der Möchtegern-Faschisten endlich wieder von der Macht verdrängen und Polen auch institutionell wieder auf Vordermann, will sagen auf den Stand einer modernen sozialdemokratischen Republik bringen. Italien ist in Sachen Fernsehen sowieso seiner Zeit um eine ganze Epoche voraus, indem der Mafia-Fernsehunternehmer Berlusconi die staatliche RAI ebenso ausgehöhlt hat wie seine sozialdemokratischen Gegenspieler zugunsten eines immer­währenden Ballaballa-Programmes auf seinen eigenen Kanälen. Allerdings vermag diese sehr spezifische Fernsehgeschichte nicht das ganze Dramolett der italienischen Politik zu erklären. Der Möchtegern-Faschismus ist offenbar ein Programm, mit welchem man überall in Europa zweistellig Wähler­an­teile einfahren kann, darin unterscheidet sich Italien nicht von Resteuropa; bloß sind die Institu­tio­nen, das Wahlrecht und insonderheit die wichtigen Parteien völlig anders geartet als in den wirklich sozialdemokratischen Ländern, wo zum Beispiel die CDU oder die CSU doch halbwegs vernünftige Politik betreiben, auch wenn es sich zu schönen Teilen um Interessenpolitik handelt.

Seit die Übertragungskapazitäten im Internet ein flächendeckendes Streaming erlauben, hat sich die Position der staatlichen Fernsehkanäle verändert. Zwar haben die jungen Bevölkerungsschichten meines Wissens noch nie massiv Informationssendungen aus dem Fernsehen konsumiert; heute aber haben sie rein übertragungstechnisch die Möglichkeit, sich von der Beschaffung dessen, was unsereins Information nennt, ganz und gar zu drücken, sei es vom Fernsehen oder auch von den Zeitungen, während die Möchtegern-Faschisten und andere Gruppen, welche das gesellschaftliche Gleichgewicht zu ihren Gunsten verändern möchten, jetzt ihre Chancen wittern, das Bemühen um Wahrheit endgültig zu torpedieren oder eben die Wahrheit in ihrem Sinne zu polarisieren. Diese Schlacht ist in vollem Gange. Vorderhand würde ich diagnostizieren, dass jene Seite, die sich um Wahrheit bemüht, über bessere Karten verfügt. Es ist eben wie in der richtigen Sozialdemokratie: Es sind nicht einfach nur die Herrschenden und Machthabenden, sondern es sind auch ihre Gegner bis hin zu gewissen Minderheiten, welche in gewissen Dosen Zugang haben zur Öffentlichkeit und auch an die Macht. Genau dies ist das Wesen der Sozialdemokratie. Dieser Zustand wird in der Regel aufrecht erhalten, gelobt und zelebriert, solange es den wirklich Mächtigen nicht an den Kragen geht. Umso faszinierender ist es, wie es den Möchtegern-Faschisten gelingt, Frustration in politisches Kapital zu verwandeln. Denn Frustrationen gibt es selbstverständlich, so wie der Prozess der Zivilisation insgesamt auf Triebunterdrückung beruht, so auch die Sozialdemokratie. Und dann gibt es, ebenso selbstverständlich, noch einen Teil der Bevölkerung, welcher es wirklich nicht einfach hat, der eine Verbesserung seiner Lage verdienen würde, für welche Verbesserung einfach nicht gesorgt wird, und welcher aber auch nicht in der Lage ist, eine solche Verbesserung innerhalb der bestehenden sozialdemokratischen Strukturen effektiv zu organisieren. Hier liegt anerkannter­maßen das größte Potenzial für die Möchtegern-Faschisten, die meistens selber an irgendeiner Form von Hirnkrankheit leiden, soweit sie ihr Programm nicht aus Kalkül betreiben. Es wird viel davon abhängen, ob es den fortschrittlichen Strömungen in der Politik gelingen wird, die erwähnten Verbesserungen für die Schwachen und Benachteiligten durchzusetzen. Und zwar nicht in ihrem Namen, sondern mit ihnen zusammen. Nehmen wir mal an, dass es sich um die 16% Armen han­delt, welche die Spione von der CIA in Deutschland ermittelt haben. Dann ginge es doch genau darum, diese 16% zu organisieren, zum Sprechen zu bringen und zum Formulieren ihrer Forde­run­gen. Das wäre mit Sicherheit ein wesentlicher Bestandteil eines politischen Programmes.

Dies gesagt, fällt sofort auf, dass die 13% AfD-WählerInnen keineswegs gleichzusetzen sind mit den gemäß der CIA in Deutschland existierenden Armen-Vorkommen. Bei den Möchtegern-Nazis spielen offensichtlich noch andere Faktoren mit, welche ich als offenes Rätsel vorderhand einfach dem Weltgeist zuordne und es im Moment dabei belasse. Denn ich hatte hier ja vor ein paar Wochen versprochen, dass ich mich noch zur No-Billag-Initiative äußere, nachdem das Volk gesprochen hat, konkret: die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger. Ihr habt es sicher mitbekommen: Die libertären No-Billag-Bier-Bubis haben abgekackt und mit ihnen die nationalistischen Rechtskonservativen, welche ihrem Chef den Weg frei machen wollten für den Aufbau eines eigenen Meinungs- und Medien-Imperiums auf den Trümmern des Staatsfernsehens. Das ging alles ganz toll in die Hosen. Die Initiative zur Abschaffung der Fernsehgebühren wurde mit mehr als zwei Dritteln der Stimmen, mit fast 72% abgelehnt. Dass die No-Billag-Bier-Bubis dies noch als Achtungserfolg verstanden wissen wollen, versteht sich von selber, aber diese Achtung können wir ihnen leider nicht zukommen lassen beziehungsweise nur in der Form der Ver-Achtung.

Dabei schien die Sache einen Moment lang einen völlig anderen Ausgang zu nehmen. Zu Beginn gab es keinen Anlass und keine Anzeichen dafür, diese Initiative auch nur wahrzunehmen geschweige denn ernst. Man konnte mit Fug und Recht exakt mit jenem Resultat rechnen, das jetzt eingetreten ist. Dann ergaben aber vor einem halben Jahr erste Umfragen eine Zustimmung zur Abschaffung der Gebühren von gegen 60%. Das war ein Schock. Immerhin erinnerten sich aufgrund dieses Schocks dann alle daran, was das Schweizer Radio und Fernsehen in der Tat ist, nämlich ein Staatsfernsehen. Und in einem sozialdemokratischen Staat haben nun mal alle ihren Anteil an diesem Medienunternehmen. Das gilt in erster Linie für die Minderheiten, für die Sprachminderheiten zumal, die in der Schweiz eine teure sprachregionale Organisation erfordern, sowohl beim Fernsehen als auch beim Radio. Es gilt aber auch für alle Interessengruppen, die sich ihren Zugang und ihre Plätze in den Staatsmedien im Lauf der Zeit erkämpft und gesichert haben. Nach dem Schock vor einem halben Jahr erinnerten sich praktisch ausnahmslos alle Gruppen und Verbände daran, dass sie mit dem SRF auch die gegebenen Möglichkeiten zur Selbstdarstellung verlieren würden. Es versteht sich von selber, dass alle Menschen in einem gewissen Maße antistaatlich eingestellt sind, schließlich ist der Staat auch das Herrschaftsinstrument par excellence, was das Individuum periodisch zu spüren kriegt, und sei es in der Form von Parkbußen. Aber er ist eben nicht nur dieses, sondern er ist auch jene Superinstitution, welche für das Funktionieren der Gesellschaft sorgt, und in einer Demokratie ist er sogar so ausgestaltet, dass die Menschen mitmischeln können, in der direkten Demokratie sogar am Gesetzgebungsprozess. Mit Gesetz und Gerichten sorgt er, je nach Ausgestaltung mehr oder weniger effizient für Gerechtigkeit und für das normale Funktionieren im Alltag; er stellt Infrastrukturen zur Verfügung, Institutionen des sozialen Ausgleichs und so weiter und so fort, lauter Sachen, welche nur Wirtschaftsstudenten der Hochschule St. Gallen dem Markt überlassen möchten, sonst niemand. Und dies spiegelt sich in den 72% Nein-Stimmen in der Schweiz jetzt wieder.

Der Staat hat sich in den letzten 50 Jahren stark entwickelt. Von einem bürgerlichen Herrschafts­staat ist er zur erwähnten sozialdemokratischen Superinstitution geworden. Gegen den aktuellen Angriff der libertären Bier-Bubis hat er sich in der Schweiz demokratisch einwandfrei verteidigt. Damit ist aber die Frage nicht vom Tisch, wie er im Rahmen der Bestrebungen, um nicht zu sagen des Kampfes um eine Weiterentwicklung, hin zu einer echt freien Gesellschaft freier Individuen zu verändern wäre. Diese Debatte führen wir dann später.






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Albert Jörimann
06.03.2018

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