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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - The Economist

Letzte Woche sah ich am Kiosk die Schlagzeile des «Economist»: «Es ist Zeit, die Steuern für das 21. Jahrhundert fit zu machen.» Da ich solche Gedanken auch schon gehegt hatte, kaufte ich das Heft und wurde enttäuscht.



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> Download Der einzige neue Vorschlag war ein alter, nämlich die Besteuerung von Grund und Boden, namentlich von Bauland. Nicht dass ich etwas dagegen hätte, aber so eine richtig gründliche Reform des Steuersystems stelle ich mir doch etwas anders vor. Im Editorial wird immerhin das Problem einigermaßen umrissen. Zunächst der Grundsatz: Eine grundlegende Steuerreform kann zu mehr Wachstum führen und die Gesellschaft gerechter machen, unabhängig von der Staatsquote im jeweiligen Land. Auf dieser Ebene scheint man sich einig zu sein, nämlich dass Steuern in erster Linie auf Renten erhoben werden sollten, Anreize schaffen und schwierig zu umgehen sein. Konkret wird dann auch hier zuerst der Wohnbausektor genannt, übrigens mit einem über die Jahre hinweg unveränderten Anteil der Grundstücksteuern von durchschnittlich 6% an den Staatseinnahmen in reichen Ländern. Dann geht es um die Lohnsteuern. Hier hätten die Sätze in den letzten 50 Jahren in den OECD-Staaten eher regressiv entwickelt, das heißt, für höhere Einkommen sind die Steuersätze tendenziell stärker gesunken als für niedrige. Sodann sei es bisher nicht gelun­gen, die Einnahmen im Bereich geistiges Eigentum steuerlich dingfest zu machen, also namentlich diejenigen der Technologiegiganten wie Apple und Amazon. Nach wie vor würden 40% der Ge­win­ne solcher multinationaler Unternehmen in Niedrigsteuerländer verschoben. Und schließlich schü­fen die Lösungsansätze für Steuerprobleme oft erst recht neue Probleme, weil die verschie­denen Lobbies zum Vornherein Schlupflöcher für ihre Interessengruppen einbauen. Gerade die neueste Steuerreform in den USA hätte erstaunlich komplexe neue Regelungen für multinationale Unter­nehmen mit sich gebracht. Insgesamt würden die internationalen Anstren­gungen zur Vermeidung der erwähnten Gewinnverlagerungen immer wieder sabotiert durch das Eigeninteresse der Staaten bei der Behandlung von Technologiefirmen, abgesehen vom globalen Wettbewerb um Investitionen und Kapitalien.

Dann empfiehlt der Economist eine Anhebung der Vermögens- und der Erbschaftssteuer. Diese seien zwar nicht besonders beliebt, aber effizient, nicht zuletzt eben bei den Liegenschaften. Anderen Formen der Kapitalbesteuerung gegenüber seien die Ökonomen skeptisch, weil damit Investitionen bestraft würden. Immerhin habe sich der Anteil der Kapitaleinkommen, also der Renten, am Bruttoinlandprodukt seit 1975 um 4 Prozentpunkte erhöht; dementsprechend liege eine Erhöhung der entsprechenden Steuern nahe, wenn man tatsächliche Investitionen von solchen Kapitaleinkommen abziehen könne. Und bei der Gewinnverlagerung schlägt der Economist vor, dass die Staaten nicht mehr die Firmen besteuern sollten, sondern die Aktionäre dieser Firmen, welche die Gewinne letztlich in der Form von Dividenden oder Aktienrückkäufen in ihre Tasche stecken. Diese Leute seien in der Regel nicht bereit, wegen der entsprechenden Steuern ihren Wohnsitz zu verlagern, und hier könnte man anfügen, dass sie dies in der Regel sowieso bereits getan haben. Über die eigentliche Unternehmenssteuer müsse weiterhin sichergestellt werden, dass die Firmen an ihren Produktionsstätten einen gewissen Beitrag zu den Staatseinnahmen leisten – nicht so wie zum Beispiel Amazon, deren Tochter in Großbritannien im letzten Jahr 2.2 Millionen Dollar an Steuern bezahlte bei einem ausgewiesenen Gewinn von gut 100 Millionen und einem Umsatz von 15 Milliarden Dollar oder 11.4 Milliarden Pfund.

Bei den Lohnsteuern schlägt der Economist niedrige oder gar negative Steuersätze für die tiefen Einkommen vor anstelle der aktuellen, oft regressiven Sätze. Allfällige Ausfälle könne man insbesondere in den Vereinigten Staaten mit der Umsatzsteuer ausgleichen, welche dort auf Bundesebene gar nicht existiert. Und dann kommt er auf die alten Grundsätze von Adam Smith zurück, wonach Steuern effizient, beständig, einleuchtend und fair sein sollten. Die aktuelle Steuerpolitik der verschiedenen Regierungen hält diesen Grundsätzen in keiner Art und Weise stand, und die Verantwortlichen, nämlich die Politiker, kümmern sich in der Regel nicht um diese Grundsätze, sondern nur um möglichst spektakuläre Schlagzeilen. «Das Steuersystem an die Neuzeit anpassen bedeutet, die skeptische Wählerschaft zu überzeugen und habgierige Einzelinteressen in Schach zu halten», heißt es am Schluss des Artikels, und wenn es auch so weitergeht: «Dies ist ein hartes Stück Arbeit, aber das Ergebnis lohnt den Einsatz», so weiß doch der Economist, dass er solche Einsichten wohl für die Lektüre im Club bei einem Whisky formulieren darf, dass es aber keiner Regierung auf der ganzen Welt gegenwärtig einfallen wird, so etwas tatsächlich an die Hand zu nehmen. Die einzige Ausnahme, die ich selber in letzter Zeit beobachtet habe, ist die Europäische Union in ihrem Bestreben, die Steuerpolitik der Mitgliedländer zu vereinheitlichen beziehungsweise mindestens die eklatantesten Schlupflöcher zu stopfen. Aber möglicherweise sind gerade solche Bemühungen ein Beitrag zur Schwächung dieser EU, weil sie bekanntlich konzipiert wurde als Europa der Konzerne und der Spezialinteressen.

Vielleicht aber auch nicht; vielleicht gibt es auf der Führungsebene der multinationalen Konzerne doch noch ein Restbewusstsein dafür, dass der Absatz und damit das Geschäftsumfeld letztlich auf funktionierende Institutionen und Infrastrukturen und damit auf ein gewisses Maß an Steuern angewiesen sind.

Ein Beispiel für ein Problembewusstsein beschreibt der Economist im Artikel über den franzö­sischen Lebensmittelkonzern Danone. Der CEO Emmanuel Faber will das Unternehmen offenbar an neuen ethischen Standards ausrichten und dabei die laute Kritik an den Praktiken im Sektor berücksichtigen, CO2-neutral werden und ethische, soziale und Umweltstandards gemäß der Zertifizierung «B Corporation» einhalten. Ich weiß nun nicht, ob diese Zertifizierung nicht ein ähnlicher Zauber ist wie jene von myclimate, welche es den mittelständischen Zentraleuropäern erlaubt, ohne schlechtes Gewissen auf der Welt herum zu jetten, dass sich die Balken biegen. Kann sein. Aber allein die Tatsache, dass man heute mit solchen Sachen Werbung macht und tatsächlich Maßnahmen einleitet, zeigt, dass sich doch nicht alles zum Schlechten entwickelt. Selbst­verständ­lich ist es am Schluss auch bei Emmanuel Fabre der Aktienkurs des Unternehmens, an welchem sein Engagement gemessen wird. Trotzdem kommen immer mehr Investoren, vor allem institutionelle Anleger, auf den Geschmack ethischer und sozialverträglicher Investitionen, im Fall von Danone zum Beispiel der 1 Billion Dollar schwere norwegische Pensionsfonds. Und bereits werden Danone-Kreditlinien aufgelegt, welche an den B-Corporation-Status gebunden sind.

Daneben beschäftigt sich auch der Economist mit Sahra Wagenknecht und ihrer neuen Bewegung «Aufstehen». Er stellt beide in den Zusammenhang einer europaweiten Annäherung zwischen der politischen Linken und der politischen Rechten, welche in erster Linie in der Skepsis gegenüber Europa, der Ablehnung der NATO, im Verständnis für Russland und im Schutz der einheimischen Sozialsysteme vor dem Andrang unqualifizierter Migration besteht. Die Linke hätte bei den Wahlen im letzten Herbst gut 420'000 Wählerinnen an die Allianz für Deutschland verloren, vor allem in Ostdeutschland, und dafür der SPD 700'000 und den Grünen 330'000 Stimmen abspenstig gemacht, und jetzt stehe man in der Partei vor der Entscheidung, ob man weiterhin auf diesen Kurs setzen solle oder sich doch wieder stärker auf die verloren gegangenen, sogenannten einfachen Leute konzentrieren solle. Auf jeden Fall habe sich ein neuer politischer Raum aufgetan, der russenfreundlich sei, antiatlantisch, euroskeptisch, wirtschaftspolitisch interventionistisch und gegenüber Immigration und Welthandel skeptisch oder ablehnend sei. Naja, als Beobachtung ist dies mindestens nicht falsch, und dass der Economist als doch immer noch bürgerliches Wirtschaftsmagazin grundlegende Unterschiede zwischen links und rechts nicht identifizieren kann, erstaunt weiter nicht.

Interessieren mag umgekehrt die Einschätzung des Economist in Bezug auf die Importsteuern der US-Amerikaner auf chinesischen Gütern. Er geht davon aus, dass die erste Welle an Zöllen die chinesischen Exporte tatsächlich getroffen hätten, was kompensiert worden sei durch einen Rückgang des Yuan-Kurses um gut 6%. Zudem befinde sich China ohnehin in einer Phase, in welcher die Prioritäten langsam von Investitionen verlagert werden in Richtung Konsum, und durch eine aktive Steuerpolitik können Infrastrukturprojekte nicht nur im Rahmen der Seidenstraße, sondern auch innerhalb des Landes angekurbelt werden. Zwar hat die chinesische Börse, der CSI 300, seit Jahresbeginn 25% an Wert eingebüßt, während der amerikanische Standard & Poor's 500 um gut 5% gestiegen ist. Dies sei aber übertrieben und wohl hauptsächlich der Anleger-Stimmung zuzuschreiben; stichhaltige Aussagen können erst später gemacht werden.

Abgesehen davon bin ich jetzt durch mit «Apatride», dem kleinen Büchlein von Shumona Sinha, über das ich vor zwei Wochen gesprochen hatte. Leider hat sich an der damaligen Diagnose nichts verändert. Es ist die Darstellung des Leidens einer indischstämmigen Frau im idealisierten Paris, in welchem die Schwarzen und die Moslems die Herrschaft übernommen haben, was von den idealistischen Intellektuellen gar nicht wahrgenommen wird. Am Schluss wird sie noch von zwei schwarzen Frauen verfolgt, zusammengeschlagen und ausgeraubt, bevor ihr Schleier an den Flammen von Kerzen in ihrer Wohnung Feuer fängt, was eine Pointe ist, die man als Literatur­kritiker loben müsste, spiegelt sie doch die Verbrennung eines anderen Teils der indischen Frau, nämlich jener, die in Indien verblieben ist, wieder, aber mir ist nicht nach Lob zumute. Die Sprache ist, wie vor zwei Wochen erwähnt, wieder auf jener Höhe, die «Amassons les pauvres» zu einem echten Knüller gemacht hat, aber zum Inhalt fällt mir eigentlich nichts weiteres ein als Pegida. Nun weiß ich wohl, dass es in den Pariser Vorstädten Verhältnisse gibt, gegen die ich schon früher den Einsatz des Militärs empfohlen habe – keine Frage. Aber auf die individuelle Ebene herunter gebrochen sind die Ängste vor dem Moslem in keiner Art und Weise mehr fassbar oder fruchtbar, wie sie es im ersten Buch waren. Die Person steht auch nicht in einer existenziellen Art und Weise neben den Schuhen wie bei Camus, an den sie mich trotz allem erinnert; es ist eine nackte Kapitulationserklärung vor dem eigenen Leben mit einer äußerst mageren fremdenfeindlichen Begründung. Es macht die Sache auch nicht besser, dass sie selber eine Fremde ist im Land und in der Stadt.

Es besteht Hoffnung – manchmal fängt die Sprache selber die Menschen auf und führt sie in neue Territorien oder Dimensionen. Angesichts der Potenz von Shumona Sinhas Sprache ist unbedingt auf solch einen Durchbruch zu setzen.


Hier findest du alle Kolumnen von Albert Jörimann von 2007 bis heute.

Albert Jörimann
14.08.2018

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