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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Radicchio

Es gibt eine Webseite mit Namen Was-War-Wann.de, welche mir zwar verrät, dass der Brotpreis in Deutschland im Jahr 1900 46 Pfennig betrug, 1913 nach einem vorübergehenden Anstieg auf 50 Pfennig erneut 46 Pfennig, 1916 stand er bei 74 Pfennig, 1917 doppelt so hoch bei einer Mark 58, 1919 bei 1 Mark 72 und 1921 bei 2 Mark 72.



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> Download In der neuen Reichsmark nach der Super-Inflation bezahlte man 1924 wieder 31 Pfennig und nachher bis 1932 38 Pfennig, dann senkte Hitler den Brotpreis auf 31 Pfennig. Von 1938 bis 1945 betrug er unverändert 37 Pfennig. Nach dem Krieg setzte in Westdeutschland mit dem Wirtschaftsaufschwung auch der Preisaufschwung für Brot ein; 1965 kostete Brot erstmals über eine Mark, 1975 erstmals 2 DM, 1987 waren es 3 Mark und 7 Pfennig und 2001 4 Mark 39 Pfennig. In Euro startete der Brotpreis im Jahr 2002 bei 2.30, zwei Jahre später stand er bei 3 Euro 10, dann dauerte es bis ins Jahr 2015, bis das Brot erstmals über 4 Euro kostete. Das alles sagt mir die Webseite Was war wann, aber sie sagt mir nicht, für wieviel Brot dieser Preis zu bezahlen war und ist, bei Aldi Nord gibt's nächste Woche Weizenbrötchen jedenfalls zum Kilopreis von 1 Euro 98, während Haribo Goldbären 2 Euro 79 kosten werden, ebenfalls pro Kilo. Noch nicht fest steht bei Aldi Nord der Kilopreis für Gut-Bio-Bio-Fairtrade-Bananen, es ist der einzige Artikel ohne Preisangabe und auch der einzige Bio- und Fairtrade-Artikel, offensichtlich ein reiner Alibi-Posten, den die PR-Abteilung von Aldi ins Sortiment gedrückt hat, damit sie später in der Öffentlichkeit damit großtun können, dass Aldi sich ebenfalls um die Umwelt und um gerechten Handel bemüht, genauso wie gegenwärtig der Amerikaner, der ja auch laut und dauernd nach Fair Trade mit China und anderen schreit. Ob die angepriesenen Bananen dann auch tatsächlich in der Auslage der Aldi-Geschäfte landen und wie sie aussehen werden, das möchte ich gar nicht wissen.

Egal. In Deutschland gibt man heute im Durchschnitt 10 Prozent des verfügbaren Einkommens für Lebensmittel aus, und wahrscheinlich handelt es sich dabei nicht nur um Brot und Wasser, sondern um einen ausgewogenen Warenkorb mit viel Gemüse, Salat, Kartoffeln, Reis, Teigwaren und schön Fleisch dazu. Der Hunger ist verschwunden, an seine Stelle treten gleichberechtigt der Appetit und das Budgetbewusstsein. Das Budgetbewusstsein treibt die eine Hälfte der Bevölkerung in Hamburger- und Kebap-Läden und der Appetit unterteilt die andere Hälfte in ganz unterschiedliche Glaubensbekenntnisse, von der traditionellen Küche mit Gänsekeule und Rinderrouladen bis hin zu den neuzeitlichen und ressourcenschonenden Insekten-Mahlzeiten. Ich persönlich habe mich allerdings noch nicht in diese Sphäre vorgewagt, so ein Mehlwurm mag noch so gesund und schmackhaft sein, er erinnert mich trotzdem an Maden, und Maden sind für mich erstens Konkurrenten im Kampf ums Essen, zweitens sind sie ein Zeichen dafür, dass Lebensmittel zu verrotten beginnen, und das passt nicht in mein theoretisches Konzept einer Mahlzeit. Also bleibe ich im konventionellen Spektrum mit, was mich persönlich angeht, einem Schwerpunkt auf Fleischwaren. Dabei bin ich mir sogar bewusst, dass die Fleischproduktion nicht nur unverantwortlich viele Ressourcen und Kalorien verbraucht, sondern dass die Rindviecher diese Ressourcen und Kalorien sogar noch in Methan umwandeln und in die Atmosphäre furzen, sodass die Polarkappen schmelzen – ich kann jetzt nicht sagen, mir sei das geradewegs egal, denn die Umwelt ist mir durchaus nicht egal, ich gebe mir in vieler Hinsicht Mühe, drehe die Heizung im Winter nicht übermäßig auf, sodass unsere Wärmepumpe nicht überlastet wir, ich fliege nicht und benutze nur die öffentlichen Verkehrsmittel und so weiter und so fort, aber vom Fleisch kann ich die Finger und die Geschmacksknospen einfach nicht lassen, Punkt. Stellt euch das nur einmal plastisch vor, so eine auf den Punkt gebrachte beziehungsweise gebratene Bistecca Fiorentina beziehungsweise ein Ribeye-Steak, wie man sie neuerdings nennt – da wird man doch fast ohnmächtig, wenn man nur daran denkt. Und es braucht nicht mal solch ein Gewaltsgenuss zu sein, den man sich sowieso fast nie leisten kann, aber der Genuss liegt doch auch im kleinen und so nah, allein der Gedanke an eine Thüringer Rostbratwurst verursacht mir jedes Mal Heimweh, wenn er mir durch den Kopf geht. Für eine Currywurst dagegen würde ich keine 500 Meter laufen, es sei denn, ich hätte großen Hunger, aber eine Currywurst ist einfach irgendetwas, um welches ein Klimbim gemacht wird, wie das in der Welt halt hin und wieder vorkommt.

Es gibt ja noch andere Würste, geschätzte Hörerinnen und Hörer, und hier möchte ich eine Tür aufstoßen, welche für euch in der Regel verschlossen bleibt, nämlich jene ins Reich der richtigen Trockenwürste zum einen, der richtigen Wasserwürste zum anderen. Ja, ihr habt richtig gehört, ich spreche von Wasserwürsten, aber nicht, weil sie Wasser enthalten, sondern weil man sie zum Kochen nicht auf den Grill legt oder in die Bratpfanne, sondern in, unbedingt nicht kochendes heißes Wasser. Ich spreche aber nicht, ich wiederhole: NICHT von den Weißwürsten, gegen welche ich zwar nichts einzuwenden habe, auf jeden Fall deutlich weniger als gegen die Currywurst, aber die meine ich nicht, die könnt Ihr ja auch in Thüringen kaufen, wenn es sein muss. Ich spreche von den absoluten Wurstköniginnen, nämlich der Saucisson, dem Engadiner und der Luganiga, denen in Italien die Salsiccia beigeordnet ist, wobei man die Salsiccia oft und gerne auch auf den Grill wirft. Aber man kann sie eben auch im Wasser zubereiten, wie übrigens gar manche andere Bauern- oder Schweinebratwurst, die dann allerdings in eine wasserdichte Pelle abgefüllt sein muss, aber im Salz und in der Wurstwürze sind die ganz ähnlich. Saucissons aber, vor allem Waadtländer Saucissons sind dicke, braune Kloben mit echten Ausstülpungen, zwischen dreihundert und achthundert Gramm schwer, und die gibt man wie gesagt ganz einfach in nicht kochendes heißes Wasser und lässt die dort je nach Größe eine halbe Stunde oder eine Dreiviertelstunde garen. Dabei wird der Wurstinhalt, das heißt in aller Regel ein großer Brocken Schweinefleisch mit Schweinespeck, derart sauber erhitzt, dass er seinen eigenen Saft produziert, in welchem er sich selber gart, und wenn der Wurster oder die Wursterin mit dem notwendigen handwerklichen Geschick begabt ist oder war, dann wird daraus ein echtes Wunder der Essens-Kunst. Zu verspeisen mit Salzkartoffeln und Bohnen, allenfalls mit Rösti und Sauerkraut, aber auf jeden Fall mit großer Ehrfurcht und unter anhaltenden Lobpreisungen der Wursterin oder des Wursters, welche nicht nur Wurst, sondern ein echtes Wunder gewirkt haben.

Bei der Trockenwurst verhält es sich ähnlich. In Deutschland ist ein Erzeugnis verbreitet, das Ungarische Salami heißt. Das ist nichts, schlicht und ergreifend. Pressfleisch vielleicht, aber alle Ansprüche an den Geschmack werden von diesem Fleischerzeugnis negiert. Stattdessen weise ich darauf hin, dass in einem Schweizer Gebirgstal die Hauptstadt der Trockenwurstkunst liegt, nämlich Disentis, das von Scherzkeksen immer wieder Isen't it genannt wird. Hier entstehen prachtvolle Trockenwürste, die selbstverständlich nicht trocken sind, sondern auch nach dem Trocken- und Press-Prozess noch saftig. Es handelt sich um erstklassige Salsize, Lebersalsiz, Hirschsalsiz oder auch ganz kommuner Salsiz, und daneben gibt es die Kartoffelwurst, die mit Kartoffeln nicht gestreckt, sondern verfeinert wird, und als Spitzenerzeugnis dieser Region preise ich den Andutgel, eine zirka 18 Zentimeter lange, leicht gekrümmte braune Wurst, die man mit Vorteil zusammen mit einem Stück richtigen Brotes verspeist, am Nachmittag, auf einer Wanderung, zusammen mit einem Stück Bergkäse – dies ist ein Ereignis, das jeder Mensch einmal in seinem Leben absolvieren sollte. Es versteht sich von selber, dass diese Trockenwürste in Konkurrenz stehen zur italienischen Salami, und ich möchte zum Vornherein klarstellen, dass an eine richtige italienische Salami vermutlich nichts herankommt, nicht einmal ein Andutgel; aber der Andutgel ist von etwas anderer Natur, er ist nicht so fettig, er ist nicht so direkt, wenn auch prachtvoll direkt, wie eine italienische Salami, ein Andutgel ist etwas bescheidener, aber gerade in dieser Bescheidenheit schlicht und einfach überragend.

Übrigens esse ich hin und wieder gerne auch eine Brühwurst, einen Frankfurter aus dem Wasser, wenn der Senf dazu in Ordnung ist, warum nicht, ebenso wie eine Bulette, das kann durchaus eine hohe Befriedigung verschaffen, ganz abgesehen von der Bekämpfung des Hungers.

Nein, wirklich, Fleisch ist eine schöne Sache, eine vier Stunden lang gekochte Rinderzunge zum Beispiel ist an Zartheit von praktisch nichts zu übertreffen, oder aber ein richtig zubereitetes Hähnchen, also eines, das nicht trocken ist, oder Scaloppine al Limone oder ein Lammkotelett, wirklich und wahrhaftig, das Leben ist schön. Und das kann man auch von anderen Produkten sagen; eines der besten Gerichte ist für mich zum Beispiel ein einfacher Teller Spaghetti, und ich nehme dazu nicht mal Tomatensoße, sondern nur Reibkäse – dazu dann aber ein weiteres Erzeugnis aus den Graubündner Bergen, nämlich luftgetrockneten Speck. Auch das solltet Ihr, geschätzte Hörerinnen und Hörer, euch im Laufe eures Lebens einmal zugute tun, so einen richtig guten luftgetrockneten Speck – das ist schon für sich eine wahre Pracht, sehr gut erneut zu gutem Brot und aber vor allem das Nec plus ultra zu einem Teller Spaghetti mit Reibkäse.

Ach, ist Essen etwas Schönes! – Und dabei habe ich jetzt nur von ein paar Fleischerzeugnissen gesprochen, dabei geht die Zubereitung bekanntlich weit darüber hinaus, und einmal abgesehen von Mehlwürmern sind unterdessen Rezepte, Zutaten und Lokale aus der ganzen Welt in unsere Kultur eingedrungen, ohne dass die Allianz für Deutschland dagegen Krach geschlagen hat. Was ist gegen russische oder polnische Blinis einzuwenden? Rein gar nichts. Eine vietnamesische Phô-Bô-Suppe? Noch viel weniger, wie überhaupt die vietnamesische Küche eine der vielfältigsten ist mit einer wunderbaren Zubereitungsmethode. Die chinesische Küche dünkt mich da schon klar einfacher, wobei ich vielleicht noch nicht die letzte Raffinesse kennengelernt habe; was ich allerdings an einfachen Speisen davon kenne, Huhn, Schwein, Rind mit Sechuan-Reis und diese Won-Tong-Suppe als Vorspeise, das ist natürlich schon mal sehr, sehr schmackhaft. Oder aber die libanesische oder meinetwegen die israelisch-arabische Küche, wie sie der berühmte Koch Ottolenghi in seinen Büchern zelebriert! Das sind ja ebenfalls Wunderwerke, die sich vom Naturwunder Wurst durchaus in der geschmacklichen Vielseitigkeit abheben. Tahiné, Mozzarella, meinetwegen sogar Hering mit Joghurt, aber nur schon ein einfacher grüner Salat an italienischer Sauce sind Dinge, über welche sich die Menschen vielleicht wegen unterschiedlicher Vorlieben streiten mögen, aber nicht wegen der Qualität. Essen ist nicht nur eines der schönsten, sondern auch eines der einfachsten Erlebnisse im Leben einer und eines jeden, mindestens solange, als man nicht beginnt, so etwas wie Erlebnisgastronomie zu suchen.



Hier findest du alle Kolumnen von Albert Jörimann von 2007 bis heute.

Albert Jörimann
19.02.2019

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