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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Nutella

Vor ein paar Wochen ergoss sich ein kabarettistischer Furor über eure Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner, nachdem sie dem Chef von Nestlé Deutschland ein paar Minuten Gratiswerbung gewährt hatte aufgrund seines lachhaften Versprechens, den Zucker- und Fettgehalt von Nestlés Zucker- und Fettprodukten um ein paar lachhafte Prozentpunkte zu senken und damit diese Produkte gesünder oder überhaupt gesund und für die ausgewogene, vitaminreiche und nachhaltige Ernährung der deutschen Bevölkerung insgesamt unerlässlich zu machen.



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> Download Das war eine schöne Kabarettnummer von Julia Klöckner, die Scherzprofis hatten ihre Freude daran, aber es haftete ihrer belustigten Empörung ein Beigeschmack von Convenience an, eines vorgekochten Erzeugnisses, welches eure ungelenke Ministerin für weibliche Schönheit in der Landwirtschaft der Kabarettszene etwas gar pfannenfertig zubereitet hatte, ungefähr so, wie wenn der Kabarettist Michel Müller im gefühlt dreißigsten Jahr des Brexittheaters seinem Publikum mitteilt, dass ihm das Brexittheater langsam auf die Nerven gehe. Das ist ebenfalls Convenience, allerdings abgestandene und über das Verfallsdatum hinaus gammelnde Kabarett-Convenience. Michel Müller trägt bei seinen Auftritten ein T-Shirt mit dem Aufdruck «Dreggsagg», was nicht mal mehr eine Publikumsverarschung ist, sondern schlicht Betrug. Das Markenzeichen müsste lauten: langweiliger Spätzünder. Aber davon kriegt ihr im geschützten Thüringen ja sowieso nichts mit, Glückwunsch insofern.

Ich hatte im Sommer zum Klöckner-Witzsturm angemerkt, dass nicht nur Nestlé die Gesundheit der Welt­bevölkerung vorsätzlich ruiniert und dass ein Unternehmen mit dem Namen Ferrero seit Jahr und Tag unter dem Markennamen «Kinder» Fett- und Zuckerprodukte bewirbt, dass es eine Art hat, vor allem wegen des Zielpublikums, dessen Eingrenzung man nicht weit zu suchen braucht, man findet es im Markennamen. Da dreht also die Marke Ferrero der Weltjugend seit Jahr und Tag die übelsten Nahrungsmittelsünden an, die sich ein gesundes Hirn nur ausdenken kann, und das deut­sche Kabarett schafft es, seine Empörung dort zu ventilieren, wo der Konkurrent Nestlé den Fett- und Zuckeranteil seiner Konkurrenz-Fett- und Zuckerprodukte geringfügig zu reduzieren ankündigt. Ich fand es leicht paradox, dass die schlauen Köpfe im deutschen Kabarett noch nicht mal die Assoziation zu den «Kinder»-Gesundheitsprodukten schafften. Aber damit hört meine Solidaritäts­adresse an den Schweizer Schokoladen- und Wasser-Multi auch schon wieder auf. Jetzt stoße ich aus anderem Anlass wieder auf den Zucker- und Fett-Kloss oder -Koloss, nein, nicht Nestlé, sondern erneut Ferrero, und zwar wegen des anderen Produktes, das sich über die deutschen Frühstückstische zieht wie ein braunes Tischtuch, die berühmte Fett- und Zucker-Pampe Nutella. Vorweg der Hinweis: Ich ziehe richtige Schokolade vor, aufs Brot gehört nach meiner Doktrin Marmelade oder Schinken oder Streichkäse, allenfalls Schweinemett mit Zwiebelringen und Kapern. Schokolade soll man in Form von Pralinen oder Tafeln genießen, aber dies nur nebenbei. Aufgefallen ist mir die Nutella, weil das italienische Äquivalent zu eurem Adolf Höcke, also der Rechtspopulist Matteo Salvini, über Twitter oder Facebook zum Boykott von Nutella aufgerufen hat, weil nämlich in dieser Nutella zu wenig italienische Zutaten enthalten seien und insonderheit Haselnüsse aus der Türkei. Damit schade der Ferrero-Konzern der italienischen Landwirtschaft.

Abgesetzt hat Salvini diesen Tweet oder Post, weil seine Umfragewerte vorübergehend unter die 30- oder 40-Prozent-Marke gesunken sind, da hilft ein Schuss Nationalismus praktisch mit Garan­tie. Ausnahmsweise möchte ich euch in Erfurt, aber auch in Thüringen und in Deutschland ins­ge­samt dazu ermuntern, Salvinis Aufruf zu befolgen. Es gilt auch für Frankreich, Österreich, Grie­chen­land, Ex-Jugoslawien, Andorra, Marokko, die Vereinigten Staaten, für alle Staaten mit Aus­nahme von Italien. Würdet ihr bitte sofort auf den Verzehr von Nutella verzichten? Für einmal nicht in erster Linie der Gesundheit eurer Kinder zuliebe, sondern weil dieses Produkt, Nutella also, viel zuwenig Zutaten aus Erfurt, Thüringen, Deutschland, Frankreich, Österreich, Griechenland, Ex-Jugoslawien, Andorra, Marokko, den Vereinigten Staaten und sowieso aus allen Staaten mit Ausnahme von Italien enthält?

Ich rufe hiermit, ausnahmsweise in völliger Übereinstimmung mit dem Rechtsnationalisten Matteo Salvini zum vollständigen Boykott von Nutella außerhalb von Italien auf, und wenn wir schon dabei sind, könnt ihr auch alle «Kinder»-Produkte in den Wind schießen, weil die nämlich auch keinen Beitrag zu eurer jeweiligen Landwirtschaft leisten. Und selbstverständlich steht es euch frei, der Salvini-Logik folgend auch alle weiteren Produkte bis hin zu Dienstleistungen und Gedanken­gän­gen abzulehnen, die nicht auf deutschem Nationalmist gewachsen sind, also zum Beispiel die Demokratie oder Parfum, Computer, Mobiltelefone, Nudeln und Kartoffeln. Im Tausch dafür müsst ihr euch damit abfinden, dass nicht nur die Vereinigten Staaten, sondern auch Polen, die Tschechei, Ungarn, die Schweiz, Österreich, Andorra und viele weiteren Nationen keine deutschen Automobile mehr kaufen werden, da diese nicht mit authentischen Wertschöpfungsmechanismen aus Polen, der Tschechei, Ungarn, der Schweiz, Österreichs, Andorras und vieler weiterer Nationen erzeugt worden sind.

Wie dumm kann man sein? Das weiß ich nicht, aber dumm tun, um ein paar Popularitätspunkte zu sammeln, das ist mit Sicherheit eine Kunst, die immer prächtiger gedeiht, nicht nur in Italien.

Übrigens hat die Firma Ferrero kürzlich einen Vertrag mit einem Landwirtschaftskonsortium in Orvieto abgeschlossen, gemäss welchem bis 2023 700 Hektar Land für den Anbau von Haselnüssen bereitgestellt werden, und zwar noch vor Salvinis Tweet oder Post. Das verleiht seinem Salto noch zusätzlich, was soll ich sagen: Auftrieb? Seitenwind? Würze? Haselnüsse?– Ganz egal. Einfach künftig keine Kinder-Schokolade mehr und kein Nutella, kapiert?

Gemäß einem Bericht des Zürcher «Tages-Anzeiger» hat die dänische Regierung letzte Woche 28 Wohnviertel im Land offiziell zu Ghettos erklärt. Der Begriff ist missverständlich und historisch belastet, aber das ist wohl Absicht und soll jegliche Zweifel am Handlungswillen ausräumen. Konkret geht es darum, in diesen «Nachbarschaften» das Entstehen von Parallelgesellschaften zu verhindern oder zu unterbinden, und für die Einteilung in die Ghetto-Kategorie wird mit folgenden fünf Kriterien gemessen: Erstens: Mehr als die Hälfte der Einwohnerinnen Zuwandererinnen aus nicht westlichen Ländern; zweitens: Arbeitslosigkeit 40 Prozent oder mehr; drittens: über 60 Pro­zent der Erwachsenen mit nur einem Grundschulabschluss; viertens: Durchschnittseinkommen weniger als 55 Prozent des Durchschnitts der entsprechenden Region; fünftens: Anteil der ver­ur­teil­ten Straftäter an der Bevölkerung mindestens drei Mal so hoch wie der nationale Durchschnitt. Wenn drei dieser fünf Kriterien erfüllt sind, gilt die Nachbarschaft als Ghetto, und der Staat greift ein. Im Artikel wird als strengste Maßnahme die Pflicht genannt, die Kinder vom ersten Geburtstag an mindestens 25 Stunden pro Woche in eine Kindertagesstätte zu schicken, wo die Kleinen Unter­richt in dänischer Sprache und, logo, in «dänischen Werten» erhalten, ohne Eltern, versteht sich. Wenn ein solches Stadtviertel fünf Jahre hintereinander auf der Liste steht, werden Sozial­woh­nun­gen abgerissen und Bewohnerinnen umgesiedelt. Dänische Zeitungen rechnen mit über 10'000 Personen, die von dieser Maßnahme betroffen sein könnten. Was sage ich dazu: Das entspricht in den Grundzügen jener Politik, welche ich den französischen Französinnen seit geraumer Zeit empfehle, um die Probleme in den ver­nach­lässigten Vorstädten anzugehen. Ob die genannten fünf Kriterien jetzt genau die richtigen sind, darüber kann man sich streiten und darüber werden sie in Dänemark wohl auch tüchtig streiten beziehungsweise haben sich bereits tüchtig gestritten; aber grundsätzlich geht es genau darum, dass man durchaus nicht im Namen der Terror­be­kämp­fung, sondern viel grundsätzlicher im Namen aller Errungenschaften der Aufklärung die Entstehung reaktionärer und mittelalterlicher Zellen in der modernen Gesellschaft bekämpft. Wir haben schließlich selber genug zu tun mit der Einrichtung der postindustriellen Gesellschaft, da wollen wir nicht wieder bei Null beginnen mit Gleichstellung, Frauenrechten, klerikalen Macht­struk­turen und so weiter und so fort.

Selbstverständlich lässt die Gegenreaktion nicht auf sich warten, und selbstverständlich muss man sie ernst nehmen. Der «Tages-Anzeiger» zitiert einen Brief von Jugendlichen aus einem solchen Ghetto, welche sich darüber beklagen, sie würden als Bürger zweiter Klasse abgestempelt. Wenn Zusammenhalt und Integration das Ziel seien, dann mache die Ghetto-Liste das Gegenteil. Sie haben insofern recht, als es eben genau um das Gegenteil der Ghettoisierung gehen muss, nämlich um die Auflösung der entsprechenden Strukturen, indem neue, zeitgemässe und, um mit den Däninnen zu sprechen, dänische Strukturen eingezogen werden. Das kommt auch den Jugendlichen zugute. Der zuständige Minister sagt ebenfalls, dass es nicht um die Abstempelung der Stadtviertel gehe, sondern darum, etwas für sie zu tun. Am konkreten Erfolg muss man das Projekt dann messen. Es gibt auch außerhalb der Kindertages­stätten Mög­lich­keiten zur praktischen Intervention, zum Beispiel mit Arbeitsplätzen, wobei die Frage nach der Natur dieser Arbeitsplätze selbst­ver­ständ­lich erst noch beantwortet werden muss, in der Regel kann man sie nicht einfach aus dem Hut zaubern. Aber möglich ist so etwas schon, beziehungsweise es muss möglich gemacht werden, damit nicht nur die Jugendlichen, sondern auch ihre Eltern den famosen Weg der Integration über den Arbeitsmarkt gehen, der sich in der jüngeren Geschichte der Migration als der effizienteste erwiesen hat. Wenn es einen anderen oder mehrere andere Wege gibt, um die Entstehung mittelalterlicher oder gar steinzeitlicher Organisationsformen zu vermeiden und zu bekämpfen, umso besser, immer her mit den Rezepten. Aber irgendwo muss man auf jeden Fall beginnen, und in Dänemark ist dieser Anfang offenbar gemacht worden, zu meinem größeren Erstaunen und zunächst einmal Entzücken. Zum Schluss noch der Hinweis, dass gerade für den Kampf gegen die mittelalterlichen Strukturen relativ viele Arbeitskräfte benötigt werden, die man durchaus aus diesen Stadtvierteln selber rekrutieren kann, das heißt natürlich aus dem fortschrittlicheren und anpassungswilligen Teil der dortigen Bevölkerung, das macht sich doch gar nicht so schlecht aus.

Das in Stockholm beheimatete Friedensforschungsinstitut Sipri teilt mit, dass der Absatz der Waffenindustrie im Jahr 2018 um fast 5 Prozent zugenommen hat auf weltweit 420 Milliarden Dollar. In dieser Zahl ist die chinesische Waffenproduktion nicht inbegriffen. Die weißen Bärte der Friedensbewegung schütteln ob dieser Summe wie jedes Jahr traurig den Kopf. Immerhin möchte ich in dem Zusammenhang den Hinweis platzieren, dass es nicht immer neue Waffensysteme allein sind, welche Umsatz bringen, sondern im Moment ist es wohl am stärksten die Digitalisierung der Armeen, die neue Höhepunkte erreicht. Unter uns: Ich möchte gerne mal in einem modernen Kommandoposten der US-Streitkräfte sitzen, nur um mal zu sehen, was die unterdessen alles registrieren und was sie daraus schließen. Der tatsächliche Kriegsvorgang ist heute nur noch das unbedeutende Ende einer langen Kette von Intelligenz, wie die Aufklärungsarbeit auf Englisch heißt.



Hier findest du alle Kolumnen von Albert Jörimann von 2007 bis heute.

Albert Jörimann
10.12.2019

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