Aktuell

Das Programm von heute
00:00 Soundtrack
Filmmusik
05:00 Offene Sendefläche
nach § 34 ThürLMG
09:00 Unterdessen
Das Magazin ...
12:00 Sehkrank
Album zur Nacht
13:00 Play Some Records
The Sound Of Real Music
15:00 Common Voices
Sendung von Geflüchteten und MigrantInnen in Halle
17:00 Radio Schalom
jüdisches Leben
18:00 Unterdessen
Das Magazin ...
20:00 LAP
Lokaler Aktionsplan gegen Rechts in Erfurt
21:00 handmade
Regionale Musik

"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Null Wertschöpfung

Wie weit man Nachrichten aus China trauen kann, ist ungewiss, aber die Meldung, dass man die Neuansteckungen mit dem Coronavirus auf praktisch null reduzieren konnte bis auf jene paar Dutzend Fälle, die von Rückkehrerinnen aus dem Ausland eingeschleppt wurden, zeigt auf jeden Fall, dass am Ursprungsort der Pandemie weitgehend Ruhe eingekehrt ist.



artikel/Aus neutraler Sicht/J_KW_13_200px.png
> Download Die vorläufige Bilanz: 82'000 Infektionen, 3300 Todesfälle, 73'000 Genesene. Auf die Gesamtbevölkerung von 1.5 Milliarden Menschen berechnet macht dies ein Zwanzigstel Promille an Ansteckungen aus – den ganz großen Hammer hat die aggressive Grippe dort also nicht ausgepackt. Für Italien, wo der Höhepunkt noch nicht überschritten ist, lauten die Zahlen etwas anders; hier kommen auf 60 Millionen Einwohnerinnen 60'000 Ansteckungen, das ist ziemlich exakt ein Promille oder zwanzig Mal mehr als in China, und mit bald 6000 Todesfällen liegt die Sterblichkeit bei fast 10% der Ansteckungen. Seltsam, traurig selbstverständlich, und Anlass für verschiedene Fragen, die an anderen Orten schon ausführlich diskutiert werden, mehr oder weniger kompetent, sodass ich mich aus dieser Diskussion raushalten kann mit einer kleinen Ausnahme: In Italien ebenso wie in China spielt die staatliche Organisation eine zentrale Rolle. Während China bei aller Korruption und Vetternwirtschaft eine sehr straffe gesellschaftliche Ordnung kennt mit autoritären Zügen bis ins Privatleben hinein, haben sich die Italienerinnen dafür entschieden, ihren Staat verlottern zu lassen. Der Postenschacher und die Machtspiele, in den letzten Jahren vor allem bei den Sozialdemokraten, sind der Ausdruck der Unfähigkeit oder des Unwillens der Bevölkerung, die Spielregeln zu ändern. Was jetzt auch nicht viel hilft. Trotzdem würde man sich wünschen, dass irgendwann mal, warum nicht aus dieser Krankheit heraus, eine politische Bewegung wächst, deren Programm konkrete, moderne, griffige Aussagen zur Reform des Staates enthält, ohne dass sofort zweitausend Interessengruppen wie Blutsauger dieses Programm piratisieren. Möglich wäre so etwas; ich selber mache mich anheischig, die Grundzüge rein durch das Kopieren der entsprechenden vernünftigen Gesetze in anderen Ländern innerhalb einer Woche zu Papier zu bringen. Aber das muss ja nicht ich sein, es sollte einfach geschehen, denn wenn es geschieht, dann hat die Corona-Krise dem Land Italien etwas genützt.

In Deutschland ist man mit 26'000 Infizierten auf 80 Millionen Einwohnerinnen aktuell bei einem Drittel Promille der Bevölkerung. Wohin die Entwicklung geht, weiß man ungefähr, nämlich nach oben, aber man weiß nicht, wie weit. Im Gegensatz zu Italien dürfte das Vertrauen in die Behörden bei euch deutlich höher sein, was eine gute Grundlage ist für eine Einschränkung der Ausdehnung. Man kann ja mal von einem Promille ausgehen, also mit 80'000 bis 100'000 Ansteckungen rechnen; das relativiert ein bisschen die diffusen Ängste, welche sich überall verbreiten, soll aber keineswegs zum Nachlassen an Vorsicht bewegen. Das wird sowieso das Schwierigste sein in nächster Zeit; nach einem anfänglichen Schock, in welchem sich doch sehr viele Menschen an die staatlichen Weisungen hielten, nimmt spätestens von der dritten Woche der Einschränkungen die Unruhe zu. Man sieht es schon jetzt bei den jüngeren Menschen, hauptsächlich in dem Alter, in dem der Verstoß gegen Verbote geradezu zum guten Ton gehört; aber auch in der klassischen Kleinfamilie wird sich der Familienkoller breit machen. Was tun?

Lesen hilft, Musikhören oder selber Musizieren hilft, Spazieren hilft. Mit Telefon, Internet, Skype und dergleichen ist die Mehrheit der Bevölkerung mit der ganzen Welt verbunden. Da stehen viele Möglichkeiten offen. Gegen Probleme in der Beziehung helfen sie nicht besonders viel, aber dies übersteigt auch meine persönlichen Zuständigkeiten, da kann ich nur viel Glück wünschen.

Daneben hat man auch in Zeiten von Corona genug Zeit, sich aufzuregen, zum Beispiel über Journalistinnen, welche ihre Rolle als jene von Staatsanwältinnen interpretieren und überall Verschwörungen oder mindestens Verfehlungen aufzudecken versuchen, statt einfach mal einzuräumen, dass niemand mit so einem Virus rechnen konnte. – Das stimmt übrigens auch wieder nicht; die Wahrscheinlichkeit der Entstehung eines solchen Virus ist bei 100 Prozent, das wussten wohl die meisten, aber man weiß eben nicht, wie er dann genau aussehen wird, und damit werden auch alle Vorsorgemaßnahmen leider illusorisch. Und insofern konnte eben tatsächlich niemand mit diesem Virus rechnen, und insofern ist es haltlos und verwerflich, wenn diese Journalisten vermeintlich im Namen von Verbraucherinnen und Bevölkerung immer mehr Vorwürfe und Verdachtsmomente zusammen karren, namentlich dort, wo die zuständigen Behörden sich wirklich und meistens auch anständig bemühen.

Theoretisch wäre es etwas anderes mit Arschgeigen wie dem amerikanischen Präsidenten oder dem britischen Premierminister, aber nicht mal dort hilft es, sich aufzuregen, denn man muss einfach hoffen, dass ihre Restintelligenz doch noch zulässt, wenigstens ein paar richtige Maßnahmen zu treffen. Wenn man dann hört, dass der amerikanische Präsident sein eigenes Rettungsprogramm in Gefahr bringt, weil er es um 500 Milliarden aufgestockt hat, die nur den Reichsten zugute kommen sollen, dann schrammt man an einem partiellen Nervenzusammenbruch vorbei, ebenso wie über das Gejammere des Vlaams Belang in Belgien, dass die französischsprachigen Landesteile viel mehr EU-Unterstützung erhielten als die flämischen, obwohl die Gelder dort viel dringender benötigt wurden. Insofern ist auch meine Euphorie über die Regierungsbildung in Brüssel vielleicht doch etwas verfrüht gewesen. Na, immerhin ist Frau Vilmès letzte Woche als Regierungschefin bestätigt worden.

Ziemlich lächerlich finde ich sodann die Meldungen über angebliche Versuche der bösen Russen, den Westen in seinem Pandemie-Elend mit Falschmeldungen und Verschwörungstheorien zu destabilisieren. Dass es Falschmeldungen und Verschwörungstheorien gibt, wisst Ihr selber gut genug, geschätzte Zuhörerinnen und Zuhörer; aber dass Vladimir Putin geradewegs ein Interesse daran haben soll, Europa ausgerechnet in diesem Bereich zu destabilisieren durch die Schwächung der geistig-moralischen Widerstandskraft gegen das Corona-Virus – das geht nun doch zu weit. Auch wenn der Russe und die Russin zuverlässig alles tun, um das Virus nicht auf ihr Territorium zu lassen oder mindestens seine Existenz dort zu dementieren, aber das ist ja dann doch etwas anderes.

Andere Meldungen gehen fast etwas unter, zum Beispiel jene über die AfD, welche ihre rechts­extreme Abteilung disziplinieren will, den Flügel, wozu mir allerdings jenes Bonmot gut gefallen hat: Der Flügel ist der Vogel. Daran zweifle ich nicht, mindestens was die Parteistruktur angeht; dagegen will ich nach wie vor den AfD-Wählerinnen und einem Teil ihrer Mitglieder zugute halten, dass es sich bei ihnen bloß um renitente, leider eher dumme, aber eben doch vor allem renitente Menschen handelt, die im Prinzip gut zum Aufruf passen, welche Stéphane Hessel vor zehn Jahren erließ, nämlich «Empört euch». Die Empörten aller Länder sind halt auch nicht das Gelbe vom Ei, wenn man ihnen nicht ein paar korrekte Programmvorgaben mit auf den Weg gibt.

Vom Adolf Höcke habe ich in irgendeiner Fernsehsendung eine Programmerklärung gesehen, wonach die AfD tatsächlich keinen Flügel mehr brauchen werde, sondern mit der Zeit jene Mitglieder ausschwitzen werde, die nicht ins Hakenkreuz-Profil passen würden. Erst der Kommentar brachte mich dann darauf, «ausschwitzen» mit «auschwitzen», also das gleiche Vorgehen zu benutzen wie in Auschwitz, in Verbindung zu bringen. Damit wird man allerdings dieser braunen Organisation nicht gerecht. Wenn es eine Säuberung innerhalb der Partei gibt, dann ist allenfalls der Röhm-Putsch als Parallele zu verwenden; Auschwitz kommt deutlich später im Programm. Und überhaupt: All diese Dinge wird sich die deutsche Bevölkerung und werden die internationalen Partner von Deutschland nicht gefallen lassen.

Der größte Profiteur der Pandemie ist vermutlich Andi Scheurer. Seine fachliche Unfähigkeit, gepaart mit der finsteren Entschlossenheit, all seinen Kolleginnen in Bayern Bundesaufträge in Millionenhöhe zuzuhalten, haben ihn eigentlich komplett demontiert. Der ist ja noch schlimmer als alle italienischen Minister zusammen. Trotzdem ist seine Absetzung offenbar im Moment nicht auf der Traktandenliste. Wobei: Vielleicht nutzt Frau Merkel jetzt, da sie doch gesund geblieben ist, ausgerechnet diesen Moment, um diesen Kuhstall im Nadelstreifenanzug auszumustern. Vielleicht aber auch nicht, vor allem dann nicht, wenn der bayrische Ministerpräsident sich dagegen stemmt.

Das interessanteste Phänomen dabei, also bei der Pandemie, nicht bei Andi Scheurer, ist die Tatsache, dass die Wirtschaft stillsteht. Die Maßnahmen, die gerade getroffen werden, um die soziale Absicherung zu garantieren, haben wohl nicht das Zeugs, um längerfristig den Wegfall ganzer Wertschöpfungsketten zu kompensieren. Trotzdem hat man den Eindruck, dass Stillstand mindestens kurzfristig geht. Das liegt in der Logik des Systems, das eigentlich seit längerer Zeit in internationaler Arbeitsteilung die Verbrauchsgüter weitgehend ohne menschliche Zutaten herstellt. Die Versorgung ist sichergestellt; man braucht eigentlich nur für Kaufkraft zu sorgen. Diese wird im Moment über das internationale Bankensystem produziert, welches also nach der Herstellung von Finanzkapital vom Jahr 1980 an nun mit der Herstellung von Kaufkraft beginnt, vierzig Jahre später. Das sollte man sich in den Jahrbüchern notieren, wenn auch noch nicht ausgemacht ist, wie die Geschichte ausgehen wird. Und wenn man sich dann die Frage stellt, was denn all die Menschen anstellen sollen, die zwar Geld, aber nichts zu tun haben, dann ist die Antwort nicht weit: Zu tun gibt es in rauen Mengen, angefangen bei der Landwirtschaft, die man nun auch endlich umstellen könnte von der umwelt- und tierfeindlichen Massen-Billigproduktion auf eine anständige Produktion, eben unter Einsatz von viel mehr Menschen und unter Berücksichtigung der vielfältigen Bedürfnisse der Natur; da bräuchte der bayrische Ministerpräsident auch keine Bienen-Bürgerinitiativen mehr zu befürworten als Feigenblatt für seine radikal antiökologische Politik. Oder eben, man geht in die Pflege, sei es im Rahmen des Gesundheitssystems oder daneben in jenen Bereichen, wo unsere Gesellschaft bisher nie genügend Geld freigespielt hat, bei der Betreuung der älteren Mitmenschen, welche vielleicht alleine leben oder nicht mehr so beweglich sind wie andere; hier besteht ein riesiger Bedarf, und wenn alle Bewohnenden nur schon einen halben Tag pro Woche hierfür einsetzen täten, meinetwegen auch ohne Bezahlung, wenn sie nämlich sowieso ein Grundeinkommen hätten, dann wäre viel geholfen. Und so weiter und so fort.

Daneben ist gegen echte Wertschöpfungsketten gar nichts einzurichten. Habe ich es nicht bereits mal erwähnt, dass man in Erfurt, nur als Beispiel, eine Fabrik bauen könnte, welche ultramoderne, komfortable Schlafwaggons für die Eisenbahn produziert, damit auch mittellange Strecken in Zukunft auf den Schienen überwunden werden können, zum schönen Teil dann halt im Schlaf? – Denn reisen sollten wir durchaus, das erweitert den Horizont und beugt daneben auch noch kriegerischen Auseinandersetzungen vor, wenn die Menschen sich nämlich gegenseitig kennenlernen. Und dass man hier alles, was man kann, vom Flug auf den Zug verlagern muss, ganz abgesehen davon, dass die Fliegerei endlich mal ihre wahren Kosten berappen sollte, inklusive die Treibstoffzölle, das ist sowieso klar.



Hier findest du alle Kolumnen von Albert Jörimann von 2007 bis heute.

Albert Jörimann
24.03.2020

Kommentare

Zu diesem Artikel sind keine Kommentare vorhanden.

Kommentar hinzufügen


Optional, wird nicht veröffentlicht.