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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Was muss ich wissen?

Man kann sich fragen, über welche Vorgänge und Situationen sich das moderne Individuum zu informieren hat respektive sich informieren lassen will von den Medien seiner Wahl. Zählt zum Beispiel ein Eisenbahnunglück mit 100 Todesopfern in Indien dazu?

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Meiner Meinung nach sind Unglücksfälle und Verbrechen per Definition fakultativ, da die Berichterstattung darüber irgend­welche Zwiebelschichten unserer Existenz anrühren, die mit Sensationslust ungenau umschrieben werden, die also nichts mit dem Verständnis der uns umgebenden Welt zu tun haben, will sagen, der sich unter unseren Füßen von uns weg rundenden Welt, natürlich. Wenn sich die Vorfälle in unserer näheren Umgebung ereignen, kann das immerhin noch andere Komponenten aufweisen, zum Beispiel die Berichterstattung über verschiedene spektakuläre Raubüberfälle der Remmo-Familie in Berlin und auf das grüne Gewölbe in Dresden, wo im Hintergrund die Frage nach der Rechtsordnung und der Rechtspflege aufscheinen. Hier ist nur schon der Konflikt zwischen dem Impuls, die dreisten Räuber sofort irgendwelchen mittelalterlichen Verhörtechniken zu unterziehen, und der Strafprozessordnung inklusive verschiedener gewiefter Verteidigerinnen-Figuren ein sehr zeitspezifisches Phänomen, ebenso wie der Ruf von Berlin als verlotterter und verlotternder Millionenstadt, wo neben exzessiven Mieten auch die Entstehung von Ghettos mit mittelalterlichen Gesellschafts- und Wertesystemen das Klima prägt, von den Millionen- und Milliardenbetrügereien seit der Wende und zuletzt beim Bau des Flughafens ganz abgesehen. Darüber kann man sich schon Gedanken machen, einschließlich der Frage, wie weit dieser schlechte Ruf nun Klischee ist und wie weit Realität und vor allem, welche politischen Konsequenzen vorzuschlagen wären.

Das Zugsunglück in Indien dagegen beschäftigt noch nicht mal meine Sensationslust mehr als ein leichter Kitzel, denn dass die indischen Eisenbahnen am Laufmeter Unglücksfälle produzieren, weil sie so schröcklich überladen sind und erst noch mit zirka sieben Kaemmha durch die Slums ruckeln, wo nicht nur Kühe, sondern auch Babies und Greise auf den Gleisen lagern, das gehört zum allgemeinen Bild, das man von Indien hat, zusammen mit den ekelerregenden Geschichten von den Hindu-Nationalistinnen, welche in Indien vielleicht am schönsten zeigen, wo sich der Weltgeist momentan aufhält mit Figuren wie Donald Trump und Narendra Modi, deren Zustimmungsraten zeigen, dass sich die Weltbevölkerung trotz schönen Perspektiven für die Dummheit, Stumpfheit und Verbohrtheit entscheidet, von der in Deutschland und namentlich in Thüringen prominent die Allianz für Deutschland Zeuge ablegt, und wenn man will, kann man bei dieser Gelegenheit, also zur Erinnerung: anhand eines Eisenbahnunglückes mit 100 Todesopfern im Norden, Süden oder Osten von Indien eine ordentliche Publikumsbeschimpfung vom Stapel lassen, von welcher man wiederum weiß, dass sie nichts nützt – wie kann man erklären, dass eine Kohorte von, sagen wir mal zehn Wählerinnenprozenten von der Linken zur AfD wechselt? Und vor allem: Wie kann man das ändern? Ich denke, wenn man eine Antwort auf diese Frage gefunden hat, hat man sehr viele andere Fragen auch gleich mit beantwortet. Aber bevor ich mich darauf ein- und auf die Äste hinaus lasse, ziehe ich mich zurück auf die ursprüngliche Fragestellung, inwieweit mich ein Zugsunglück in Indien interessieren sollte mit der Antwort: eigentlich überhaupt nicht, ganz im Gegensatz zu den politischen Verhältnissen in Indien, in Pakistan sowieso, welches vom Hindu-Nationalismus mit definiert wird, wenn auch negativ, und in Bangla Desh, das sich zum allgemeinen Erstaunen immer noch über Wasser hält, obwohl die Klimaerwärmung das Land schon längstens hätte überfluten müssen. Um nochmals ein Klischee in diese Ausführungen einzubauen. Die kleinen und eher selten größeren Verlagerungen der Gleichgewichte in dieser Region sind auch für uns von Bedeutung, zum Beispiel, weil Indien seit längerer Zeit das Schwergewicht auf die Herstellung von Generika-Medikamenten und von Programmiererinnen setzt, was sich zum Beispiel in unseren Apotheken niederschlägt, wenn dies die Damen und Herren, welche nach der Bekämpfung eines Migräne-Anfalls mit indischen Wirkstoffen stolz die Rechtsnationalisten wählen, bitte zur Kenntnis nehmen möchten; es ist auch von Bedeutung, weil die Spannungen zwischen China und Indien vielleicht viel bedeutender sind als jene zwischen China und den Vereinigten Staaten, und zwar vielleicht gerade darum, weil im einen Fall hohe Berge und im anderen Fall tiefe Ozeane zwischen den Kontrahentinnen liegen, was im Fall der hohen Berge den Konflikt vielleicht eher schürt als eindämmt, indem man sich nämlich, wenn die Grenze im Flachland verlaufen täte, schon länger um eine nicht kriegerische Auseinandersetzung hätte bemühen müssen, und mit länger meine ich hier seit fünftausend Jahren und selbstverständlich innerhalb dieser fünftausend Jahre periodisch auch mit bewaffneten Konflikten. Die Probleme in Bangladesch hingegen, einschließlich der Rohingya-Flücht­linge beziehungsweise des im Osten angrenzenden Myanmar, sind für uns von untergeordneter Bedeutung, auch wenn wir uns auf einer anderen Zwiebelschicht unserer Existenz, nämlich auf derjenigen, auf welcher unsere Überlegungen zu den allgemeinen Menschenrechten angesiedelt sind, durchaus darüber empören können, wie der Staat Bangladesch mit seinen Glaubensgenossen umspringt. Aber in Flüchtlingsfragen geht es überall auf der Welt roh zu und her, an der weiß­rus­si­schen Grenze erfrieren Flüchtlinge, die aus dem Irak nach Minsk geflogen sind, um über die Ost­flanke in die Europäische Union einzufallen, in Italien wurde letzte Woche der ehemalige Bürger­meister von Riace zu ich weiß nicht wie vielen Monaten Haft verurteilt, weil er versucht hatte, seine von Abwanderung und geradewegs vom Aussterben bedrohte Gemeinde mit der Ansiedlung von Flüchtlingen zu retten, die Bekämpfung der Migrantinnen an der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei hat ebenfalls ein scheußliches Gesicht, abgesehen vom ununter­brochenen Strom junger Arbeitssuchender aus Tunesien, Libyen und Algerien, die in Italien unter dem Titel Flücht­linge anlanden; an der Südgrenze der Vereinigten Staaten stehen unterdessen nicht nur halb Zentral­amerika, sondern auch zahlreiche Glückssucherinnen aus Haiti Schlange, und so weiter und so fort. Da muss sich die zarte europäische Menschenrechtsseele beziehungsweise die entsprechende Zwiebelschicht in uns jeweils mit großen Kummerfalten ins Bett legen, während die großen Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik davon nur indirekt betroffen sind.

Wobei mich selbstverständlich auch kleinere Meldungen neugierig machen. So hat die zentral­afri­kanische Regierung zum Beispiel einen UNO-Bericht bestätigt, wonach es im Land zu Übergriffen, sprich Gräueltaten und Kriegsverbrechen und zu Verstößen gegen die Menschenrechte gekommen ist. Bei der Veröffentlichung des Berichts vor acht Monaten hatte die Regierung noch von Verleum­dung gesprochen. Offenbar hat der Wind gekehrt, vermutlich weil irgendeine oder mehrere Regie­run­gen die Einstellung der Hilfszahlungen angedroht hat. Von den 103 Verstößen gegen die Menschenrechte und gegen das humanitäre Völkerrecht, die im UNO-Bericht erwähnt wurden, seien 23 nicht belegt, sagte der Justizminister; von den anderen gehe der Großteil aufs Konto der Rebellen im Land, die Koalition der Patrioten für eine Veränderung – man merkt, auch hier sind Patriotinnen am Werk –, während gegen die Verantwortlichen der durch die eigene Armee began­genen Verbrechen Strafuntersuchungen eingeleitet worden seien. Gewisse Vorkommnisse seien auch den russischen Instruktoren zur Last zu legen, also der kleinen Fremdenlegion von Wladimir Wladimirowitsch, der Gruppe Wagner. – Die von Putin unterstützten Regierungstruppen kämpfen übrigens auch zusammen mit Truppen aus dem benachbarten Ruanda und haben der Patriotischen Koalition für Veränderung schon einige Niederlagen zugefügt. Derweil hat ein ruandisches Gericht eine Youtuberin zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt wegen Majestätsbeleidigung. Die Anklage hatte 30 Jahre verlangt. Präsident Paul Kagame ist mit Sicherheit ein Garant für Frieden und vermutlich auch wirtschaftliche Entwicklung, aber in Sachen Meinungsfreiheit ist mit ihm nicht gut Mangos essen. Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass dies nicht seine wichtigste historische Mission ist in diesem Land, das auf dem afrikanischen Kontinent während einer kurzen Zeit Hitlers Rassen­theo­rien beziehungsweise -Fantasien auf ähnliche Art und Weise ausgelebt hat wie damals Deutschland, einfach mit den zur Verfügung stehenden einfachen blutigen Mitteln anstatt wohl organisiert und mit Giftgas. Und was wollte uns der Weltgeist hiermit sagen? Nichts, ganz und gar nichts, so wenig wie mit den Schlächtereien der Ruralkommunisten in Kambodscha vor fünfzig Jahren oder mit anderen Ereignissen – der Weltgeist ist da vollkommen indifferent.

Eine andere kleine Meldung führt nicht direkt zum Völkermord, sondern zur Ware Arbeitskraft, deren Mobilität in den Lehrbüchern der Wirtschaftswissenschaft oft besungen wird, wobei die Lautstärke heute in Zeiten des überall herrschenden Nationalismus nicht so laut ist wie auch schon. Die Mobilität der Ware Arbeitskraft sollte also der Mobilität des Kapitals in nichts nachstehen, was grundsätzlich bedeutet, dass die Arbeitnehmerinnen eher den Beschäftigungsstätten hinterher laufen sollten als die Beschäftigungsstätten den Arbeitnehmenden, was auch wieder nicht ganz einfach ist, denn moderne Beschäftigung setzt moderne Qualifikationen voraus, wodurch sich die modernen Beschäftigungsstätten gerne Orte auswählen, wo gut ausgebildetes Personal vorhanden ist, aber egal. Abgesehen von dieser Mobilität gibt es auch noch die mobilen Arbeitnehmerinnen par excellence, nämlich die Lastwagenfahrerinnen, denen im Rahmen der Überwindung von Zeit und Raum durch den globalen Kapitalismus eine prominente Rolle zukommt, wie man gerade in England sieht, wo diese Inbegriffe der Mobilität gerade Mangelware sind. Auf dem Kontinent, wo die Grenzen trotz den Exzessen des Nationalismus längstens gefallen sind, hat sich Bulgarien zum wichtigsten Anbieterland von Lastwagenfahrerinnen gemausert, der Grund ist einfach, die verdienen die niedrigsten Löhne, was angesichts der ohnehin niedrigen Löhne in dieser Branche etwas heißen will. Die Europäische Kommission hat eine Direktive ausgearbeitet, wonach die Lastwagenfahrerinnen mit ihren Fahrzeugen mindestens alle sechs oder acht Wochen einen Tag an ihrem Meldeort verbringen müssen. Es handelt sich um einen Versuch, einerseits das einheimische Fuhrtransportgewerbe mindestens ein ganz klein wenig vor der bulgarischen Billigkonkurrenz zu schützen und anderseits einen minimalen arbeitsrechtlichen Schutz einzuführen, wenn auch mit seltsamen Mitteln. Es versteht sich von selber, dass Bulgarien Zeter und Mordio schreit und beim Europäischen Gerichtshof Einsprache erheben will. Da stellt sich natürlich die Frage, weshalb die bulgarischen Transportunternehmen nicht einfach eine Tochtergesellschaft in Westeuropa gründen, wo die betroffenen Fahrzeuglenkerinnen diese Quarantänefrist verbringen können. Die Antwort liegt auf der Hand: In diesen Ländern gelten schärfere Schutzbestimmungen, was den Transport verteuern täte beziehungsweise die Wettbewerbsfähigkeit der Billiglohnschleuder Bulgarien reduzieren. Auch dies ist ein Gesicht des der Zukunft zugewandten Kapitalismus, der uns sonst doch immer so schöne Versprechungen macht.

Hier findest du alle Kolumnen von Albert Jörimann von 2007 bis heute.

Albert Jörimann
05.10.2021

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