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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Jacob Zuma

Aus unerforschlichen Gründen war das Patriarchat im Lauf der Geschichte hin und wieder nach­läs­sig und hat Frauen an echte Machtpositionen befördert, was das ganze Geschwafel über die Min­der­wer­tigkeit des Weibs grundsätzlich als Geschwafel entlarvt hat, ohne dass es weiteren Geschwafels bedurft hätte.

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Dabei waren diese Frauen nicht immer so zart konstruiert wie Hildegard von Bingen; Elisabeth I. von England zum Beispiel verglich sich selber oft mit ihrem Vater, dem blutrünstigen Heinrich dem VIII., und bekanntlich war ihr größter Rivale um den Königsthron ebenfalls eine Frau, Maria Stuart, welche nicht nur zeitweilig Königin von Schottland, sondern zuvor auch Königin von Frankreich gewesen war – damals aber als Gattin des Königs Franz des II., der dann von seinem Bruder Karl IX. beerbt wurde und nicht von seiner Frau, da auch Frankreich von einer starken Frau regiert wurde, nämlich von Katharina von Medici, der Mutter der beiden Nachfolger von Heinrich dem II. von Frankreich.

Trotzdem blieb das Patriarchat das Patriarchat, jene Männerherrschaft, die sich auch noch heute, wenn auch mit schwindendem Erfolg, gegen die vollständige Gleichstellung der Frauen sträubt, wobei man aus logischen Erwägungen nach 5000 Jahren Patriarchat vor der vollständigen Gleich­stel­lung der Geschlechter eigentlich mal ein paar hundert Jahre Frauenherrschaft absolvieren müss­te, aber da sich die Gesellschaft ihrerseits entwickelt und emanzipiert, gelangen wir mög­li­cher­weise ohne weitere Verkrampfungen in einen Zustand des Gleichgewichts der Geschlechter und einer Gleichberechtigung, über die man sich per Saldo gar nicht mehr zu unterhalten braucht. Geschwafel kann dann Geschwafel bleiben.

Es gibt auch noch andere Emanzipationskämpfe, zum Beispiel in den Kolonien oder zwischen den Rassen. Ein paar Kapitel beziehungsweise 25 Jahre nach dem Kippen der Kolonial- und/oder Rassenfrage in Südafrika blicken wir mit einigem Entsetzen auf den ehemaligen ANC-Chef und Staatspräsidenten Jacob Zuma. Der weigert sich schlicht und einfach, vor der Untersuchungs­kom­mis­sion auszusagen, welche seit 2018 versucht, Licht in die verschiedenen Korruptionsfälle bezie­hungs­weise in die systematische Korruption zu bringen, die während seiner Präsidentschaft in Süd­afrika Einzug gehalten hat, nicht zuletzt vermittels der Organisation der Anti-Apartheid-Bewegung African National Council. Zuma ist sich sicher, dass er weder verhaftet noch verurteilt noch in den Knast gesteckt wird, und dies erscheint angesichts des umfangreichen Beziehungs­geflechtes als ziemlich wahrscheinlich. Sein Nachfolger Cyril Ramaphosa hat zwar der Bekämpfung der Korrup­tion höchste Priorität eingeräumt, aber er war selber Zumas Vizepräsident von 2014 bis 2018. In dieser Woche soll Ramaphosa vor der Untersuchungskommission aussagen. Ob auch Zumas Vor­gänger, Thabo Mbeki, als Zeuge geladen ist, entzieht sich meiner Kenntnis; jedenfalls waren Kor­rup­tionsvorwürfe gegen Zuma bereits während seiner Präsidentschaft erhoben worden, worauf Mbeki Zuma im Jahr 2005 als Vizepräsident entließ.

Es ist immer wieder erschütternd, wie sich Helden der Befreiung in Schurken der Bestechung verwandeln, wenn sie an die Macht kommen. Die Geschichte der Dekolonialisierung ist voll von solchen Beispielen. Umgekehrt ist nicht ganz sicher, ob meine postkolonialistische Perspektive wirklich lupenrein ist, und zwar unabhängig davon, dass ich als weißer Mann etwa kein Recht haben sollte, schwarze Männer zu kritisieren nach tausend Jahren Unterdrückung, darum geht es wohl nicht. Meine Kritik ist nicht die eines weißen Mannes, sondern jene aus Sicht der Vernunft, welche eine Gesellschaft auf den Grundlagen von Freiheit, Gleichheit und Brüder- und Schwes­ter­lich­keit im Rahmen einer Demokratie fordert, zudem noch garniert mit den Errungen­schaften der modernen, globalisierten Warenproduktion. Konkret: 25 Jahre nach Abschaffung der Apartheid müsste man vor allem in den schwarzen Slums der südafrikanischen Städte markante Verbes­se­run­gen sehen im Wohnungsbau, bei den Infrastrukturen, bei den Verdienstmöglichkeiten. Ich bin kein Südafrika-Experte, aber nach meinem Wissensstand halten sich diese Verbesserungen in einem sehr geringen Rahmen, und die Ursache dafür ist die, dass die ANC-Elite die Prioritäten anders setzt, nämlich beim eigenen Bankkonto.

Trotzdem hat meine Kritik ihre seltsame Seite, nämlich in der Auffassung, dass so ein Befreiungs­held halt auch nach der Befreiung weiterhin ein Held und Beispiel porentief reiner Moral sein müsse und könne. Bei Nelson Mandela hat dies wohl noch zugetroffen, bei seinen Nachfolgern immer weniger; offensichtlich liegt hier kein Naturgesetz vor. Grundsätzlich sind ja auch die Zustände bei uns, die uns normal scheinen, nichts anderes als die zur Gewohnheit gewordene Gestalt von Ausbeutungs- und Abhängigkeitsverhältnissen, die allerdings zweihundert Jahre und mehrere Kriege lang Zeit hatten, um sich in eine sozialdemokratische Form abzuschleifen. So etwas kann im Süden nicht durch eine Befreiungsbewegung innerhalb von sechs Monaten geleistet werden. Im Fall von Südafrika höre ich den Nachhall der alten Apartheid-Stimme, welche unkt und murrt, dass die Schwarzen das mit dem Wirtschaften und Regieren halt einfach nicht drauf hätten. Aber hier zeigt sich nur das Problem, dass man tatsächlich nach 50 Jahren systematischer Unter­drückung und unter anderem dem kategorischen Fernhalten von Machtmechanismen nicht von einem Tag auf den anderen die entsprechenden Machthebel lupenrein zu bedienen weiß. Da müssen die Jungs und Mädels jetzt durch, und gerade darum wäre es so wichtig, den obersten Lumpen Jacob Zuma auch im hohen Alter mal richtig dranzunehmen.

Nun, so, wie wir gelernt haben, mit und in unseren Abhängigkeitsverhältnissen zu leben, werden wir auch mit weiteren Defiziten auf der ganzen Welt weiter leben, zum Beispiel mit der Erdopampelmuse, die immerhin Anlass zu lyrischen Aktivitäten gibt: Man könnte ihn auch Erdapfel nennen oder Pferdeapfel, Pferdeapfelpamelmuse und was der schönen Dinge mehr sind; man kann, wenn man sehr bescheidene Ansprüche hat, Gewinn daraus ziehen, Wladimir Wladimirowitsch Putin einen Mörder zu nennen und die Namen seiner Opfer aufzuzählen, wobei mir persönlich die Geheimdienst-Agenten eher egal sind, das zählt mehr oder weniger zu deren Berufsrisiko, aber die Journalistinnen und Politikerinnen wie Frau Politkowskaja oder Natalja Estemirowa oder Anastasia Baburowa, die zusammen mit Stanislaw Markelow ermordet wurde, oder Boris Nemzow, die stehen alle auf dem Kerbholz von Putin, und im Moment hat man den Eindruck, er würde Alexej Nawalny gerade vor den Augen der Weltöffentlichkeit umbringen. Zu Nawalny muss ich anfügen, dass der Eindruck auf die Medienarbeit zurückzuführen ist, welche Nawalny zweifellos ausgezeichnet beherrscht; man merkt in der Wortwahl der Journalistinnen, dass sie keine akkuraten Informationen haben und in erster Linie Druck auf die Behörden ausüben möchten, was auch nicht dem Ideal der Informationsfreiheit entspricht. Auf der anderen Seite setzt Wladimir Wladimirowitsch das Spiel mit der Wahrheit und mit dem Leben Nawalnys ebenso offensichtlich als Treibmittel für genau dieses Medienspiel ein, ähnlich wie der türkische Pferde­apfel, sodass man nicht im Einzelfall, sondern eben nur generell Wladimir Putin einen Mörder nennen muss.

Was wiederum nichts daran ändert, dass er die Leitfigur der Atommacht Russland ist, der sich soeben ein lebenslanges Regierungsrecht gesichert hat, sich also auch formell zum modernen Zaren ausgerufen hat; mit ihm und mit Russland ist zu rechnen und damit ist auch mit denen zu sprechen, aber man könnte doch ein paar symbolische Dinge tun, im Fall von Deutschland einfach die Fertigstellung von North Stream II verhindern, wobei dann sicher die Drohung im Raume steht, das durch North Stream I fließende Gas abzustellen – das alles ist nicht so einfach. Trotzdem fragt man sich, wenn man davon ausgeht, dass Putin noch nicht ganz hinüber ist, weshalb der Zaren-Darsteller das tut? Möglicherweise handelt er auf ein Gipfeltreffen hin, an welchem dann viele schöne Sachen aufgelöst und versprochen werden, wer weiß. Trotzdem werden wir Putins Kerbholz nicht vergessen.

Zu den weiteren Defiziten in unserer Umgebung gehört der Tabakkonzern Philip Morris Inter­na­tional, dessen CEO Jacek Olczak sich gerade so benimmt, als wäre er der Leiter der Welt­gesund­heitsorganisation und der weltweiten Liga gegen Lungenkrankheiten und der internationalen Föde­ration zur Bekämpfung des Rauchens. Vor Jahrzehnten habe ich mal einen gezeichneten Scherz gesehen, in dem eine Werbeagentur eine neue Marke so anpreist: Die neue Zigarette ist derart leicht, dass sie mit Erfolg zur Bekämpfung von Lungenkrebs eingesetzt wird. Jetzt sind wir so weit. Philip Morris International gibt sich als Protagonist der Bekämpfung des Rauchens. Allerdings produziert das Unternehmen weiterhin Zigaretten. Das ist dann auf eine andere Art kriminell.

Was haben wir noch? Ach ja, diese Pandemie. In Indien sind wir unterdessen bei 200'000 Neu­an­stec­kungen pro Tag, das Land produziert zwar Impfstoffe für die ganze Welt, aber die eigene Bevölkerung wird damit nur schlecht und recht versorgt. Wer will, kann auch hier Vergleiche anstellen mit dem Nachbar China. Und wer will, kann sich auch hier in darwinistischen Sprüchen ergehen oder behaupten, das Virus sei nur eine weitere Form der Grippe, eine Grippe einfach, für die in Brasilien Massengräber ausgehoben werden. Aber es stimmt schon: Wenn das Zeuchs mal ausgestanden ist und die Menschen entweder alle mit dem Virus angesteckt oder geimpft sind, dann wird man diesen Zahlen nicht mehr jene Bedeutung zumessen, die sie im Moment haben. So bleibt mir denn nur das zweifelhafte Vergnügen, die Liste mit der Übersterblichkeit nach Ländern anzugeben, wie sie Reuters letzte Woche veröffentlichte: Zuoberst steht Ecuador mit einer Übersterblichkeit von 62%, gefolgt von Mexiko mit 57%und Bolivien mit 53%; dann kommen San Marino mit 33%, Armenien mit 29%, Brasilien mit 24%, Oman mit 22%, die Vereinigten Staaten mit 21% und Liechtenstein mit 21%. Deutschland taucht auf dieser Liste schon gar nicht auf. Aber die dritte Welle ist ja noch nicht ausgestanden.

Hier findest du alle Kolumnen von Albert Jörimann von 2007 bis heute.

Albert Jörimann
20.04.2021

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