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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Missverständnisse

Ihr habt sicher vom neuesten Urteil des Volksgerichtshofs in Bremen gehört, der dieses, wie es sich für ein richtiges Volksgericht gehört, auch gleich vollstreckt hat in perfekter Zusammenarbeit mit der nie lügenden Presse ...



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> Download ... RTL berichtet im Mittagsmagazin Punkt 12 identifizierend über einen vermeintlichen Pädophilen, und die Schöffen ermitteln ihn und schlagen ihn vorsorglich, aber dafür nur halb tot. Der zuständige Reporter ist laut Eigenwerbung Thorsten Sleegers, der Redaktionsleiter ein Herr Volker Kutz. Um die identifizierende Berichterstattung hier abzuschließen, noch die Adresse der Redak­tion, ach was, das können investigative Journalisten oder Volksrichter selber herauskriegen. Für die anderen: Volker Kutz' Habitat befindet sich bei der InfoNetwork GmbH mit Adresse nicht am Damian-Hirsch-, sondern am Picassoplatz Nummer 1 in der deutschen Hauptstadt des Humors, in Köln. – Im Anschluss daran weist RTL jede Schuld von sich, sie hätten nie behauptet, der Mann sei pädophil, und implizit hört man den Rest der Aussage: «Was ist das überhaupt, Pädophilie? Unser Sender hat noch nie eine Sendung zu diesem Thema ausgestrahlt.» Was da alles zusammenkommt, gehört schon fast in ein Museum für Gegenwartskunst der Gattung eben Damian Hirsch, es ist, mit Ausnahme des Betroffenen selber, reiner Kitsch zu nennen, eine Praxisübung in Beatrix von Storch und Russia Today, und eines steht fest: Dieses Ereignis repräsentiert rein gar nichts. Solche Idioten gibt es immer wieder, man hört die Volksrichter und Volksschläger geradezu, wie sie am Stammtisch sitzen und sagen: «Aber verdient hat er es eben doch!», und wer RTL schaut, ist sowieso selber schon im Orkus, also Schwamm drüber und, selbstverständlich, dieser Scheiß- und Brunzsender bitte umgehend geschlossen, nachdem ihm eine Buße in Höhe seines gesamten vorhandenen Betriebskapitals und aller weiterer flüssiger Mittel aufgebrummt wurde.

Sonst ist da nix bis auf die eine Tatsache, dass wir hier wohl mit einem grundsätzlichen Versäumnis der reformierten Kirche konfrontiert sind. Diese hat es nämlich unterlassen, den Kirchen­steuer­zah­ler­Innen beizubringen, dass sie zwar im Gebet tatsächlich über einen direkten und unvermittelten Draht zum lieben Gott verfügen, dass sie damit aber noch nicht habilitiert sind, eigene Moral­vor­stel­lungen zu formulieren und gar durchzusetzen. Der Grund dafür ist einfach und logisch: Das Volk beziehungsweise seine Bestandteile, nämlich die VolksrichterInnen, sind gar nicht in der Lage, eigene Moralvorstellungen zu entwickeln; was sie dafür halten, sind unmittelbare Kopien von allgemeinen Moralvorstellungen, und aus diesem Grund muss das Volk auch darauf verzichten, die Moralvorstellungen von Beatrix von Storch mit der eigenen Faust anzuwenden. Ja, mehr noch: Für Moralvorstellungen sind nicht einmal Beatrix Storch oder Benno Berghammer oder Bernd Höcke zuständig, sondern eben nach wie vor die Kirche oder, im Falle zunehmenden Unglaubens oder abnehmender Glaubensintensität, der Staat. Die Kirche aber, mindestens die evangelische, hat es im Zuge ihrer eigenen Aufklärung versäumt, die Gläubigen auf das Moralverbot für das Volk einzuschwören. So erntet sie jetzt RTL.

Davon abgesehen ist, mit Ausnahme der Geschehnisse beziehungsweise insgesamt zwei Opfern des investigativen Journalismus von Thorsten Sleegers, nichts passiert. Dagegen rückt die Frage ins Zentrum, wie weit euer bayerischer Innenminister zu gehen bereit ist bei seinem Versuch, im Hinblick auf die Landtagswahlen im Herbst den Volkskommissar für Flüchtlingsfragen zu machen. Da ich den Seehofer Horst nicht kenne, kann ich diese Frage nicht beantworten, bloß entstehen daraus zwei andere Fragen. Die eine ist jene, ob die CSU mit der Seehoferei nicht vielleicht in der Mitte mehr Stimmen verliert, als sie bei den Deutschnationalen gewinnt. Das wäre doch eine schöne Neuerung, mal den Hofreiter Toni als Regierungschef zu sehen anstelle des soeben frisch installierten Publikums-Kreuzritters Markus Söder. Vielleicht ist effektiv dies der innerste Antrieb des Ministers des Innersten.

Unabhängig davon ist die Flüchtlingsfrage derart virulent geworden, dass sich kein Schwein mehr um eine etwas konkretere Aussage drücken kann als jene, die ich jeweils zu geben pflege, nämlich dass es sich von selber versteht, dass weder Deutschland noch Dänemark alle 4 Milliarden potentiellen Flüchtlinge dieser Erde aufnehmen kann. Die berühmte Frage nach der Obergrenze muss beantwortet werden, zwar nicht von mir, da ich keine Kompetenzen habe in der Sache, aber von jenen Kräften, die etwas zu sagen haben in eurem Land und in Dänemark. Diese Leute sollten sich nicht an der Moral orientieren, denn die gibt keine Zahlen vor, sondern bloß ein paar allgemeine Rechte, zum Beispiel jenes auf Asyl, aber auch jenes auf freie Niederlassung, also auf Migration, und zwar zunächst weltweit, zusammen mit dem berühmten Streben nach Glück, das wir aus der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten kennen. Die moderne Gesellschaft hat bei der Konkretisierung dieser allgemeinen Sätze einige zentrale Faktoren zu berücksichtigen. Nicht ganz so zentral, weil unser Vertrauen in das Volk und insbesondere das deutsche Volk seit 85 Jahren nachhaltig angeschlagen ist, erscheint die öffentliche Meinung. Trotzdem muss man sie im Auge behalten und in erster Linie die Tatsache, dass die öffentliche Meinung keinesfalls nur von Beatrix Storch oder Norbert Lücke bestimmt wird. Aber dazu später. Wichtig ist die Tatsache, dass die moderne Gesellschaft eine durchaus nicht symmetrische Interessensbalance entwickelt hat, die zunächst darauf beruht, dass sich innerhalb der Bevölkerung keine größeren Veränderungen ergeben. Der bestimmende Faktor in dieser Balance sind die Geldzuteilmechanismen, in erster Linie Wirtschaft und Beschäftigung, und der typbildende Faktor besteht aus den Korrekturmaßnahmen, also den sozialstaatlichen Institutionen. Diese Balance bestimmt in erster Linie, wo die Obergrenze anzusetzen ist. Wenn weder genügend Beschäftigung noch genügend Sozialstaat vorhanden ist, um die Zuwanderung zu verdauen, dann ist die Obergrenze überschritten.

Dass dies heute in Deutschland der Fall ist, bezweifle ich. Anderseits kommt hier die Vox Populi oder vielleicht eher die Vox Plebis zum Tragen, welche reagiert, lange bevor diese Grenze erreicht ist. Die Stimme des Volkes ist ja auch nicht dazu verpflichtet, erst an jenem Zeitpunkt aufzujaulen, wo die Balance zusammenstürzt. Ein deftiges Stirnrunzeln in der Flüchtlingsfrage erscheint mir völlig normal. Und dass die Forderung nach Integration nicht nur richtig ist, sondern auch zentrale Bestandteile der berühmten Kultur umfasst, ist nichts als logisch; ich verweise auf die französischen Vorstädte, in welchen die wahabitischen Kleriker tatsächlich um die Vorherrschaft kämpfen bis hin zur Anwendung der Scharia auf kleinem Niveau. Es gibt Leute, die behaupten, solche Quartiere gebe es auch schon in Deutschland, zum Beispiel in Neukölln in Berlin; ich kann das nicht beurteilen, meines Wissens handelt es sich hier um Problemquartiere, aber nicht um Exklaven Saudiarabiens. Probleme und Problemquartiere aber wird es auf absehbare Zukunft weiterhin geben, auch unter den Bedingungen der sozialdemokratischen Moderne, und wir sollten nicht so tun, als wäre die sozialdemokratische asymmetrische Balance etwa ein Zustand frei von Problemen gewesen, bis die Flüchtlinge aufgetreten sind.

Eben gerade nicht! Die Veränderung der gesellschaftlichen Ungleichgewichte war ja seit eh und je das große Thema der politischen Linken. Sie muss sich jetzt halt in der Migrationsfrage auch eine Position leisten, auch wenn dies zur Beschäftigung mit verschiedenen Grundsätzen zwingt, zum Beispiel zum Eingeständnis, dass der Internationalismus schon längst zum reinen Lippenbekenntnis verkommen ist. Immerhin hängt die Linke wie auch die vernünftigen Abteilungen des Zentrums nach wie vor wenigstens am Kontinentalismus, man weiß hier wenigstens, dass der Nationalismus vom Beginn bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in der Gegenwart nichts mehr zu suchen hat. Prinzipiell kann man sich ungefähr so fassen: Langfristig stellen wir uns eine Welt ohne Reich­tumsgefälle und ohne Grenzen vor; bis dahin wird es aber noch Jahrzehnte dauern, auch wenn die Entwicklung oft schneller vonstatten geht, als wir uns das vorstellen. Vorderhand aber versuchen die entwickelten Gesellschaften, ihre interne Struktur zu verbessern, die Chancengleichheit zu verwirklichen, Geschlechterdiskriminierung zu beseitigen und allen Menschen eine anständige Bildung und den Zugang zu den verschiedenen Institutionen, vom Krankheitswesen bis zum Rechtssystem, zu garantieren. Gleichzeitig verpflichten sie sich dazu, eine bestimmte Anzahl von Menschen aus den weniger entwickelten Ländern und Regionen aufzunehmen, je nachdem sie zu integrieren oder aber sie auszubilden, damit sie als Inkubatoren der Entwicklung in ihre Heimatländer oder in andere Weltregionen ziehen mögen – ebenso wie eine bestimmte Anzahl von Menschen aus den entwickelten Ländern. Die Regeln hierzu können je nach Belieben festgelegt werden, zum Beispiel in der Form von Green Cards, wie sie die US-Amerikaner kennen, im Umfang von, sagen wir mal für Deutschland: 100'000 bis 200'000 Stück pro Jahr. Dazu gesellen sich Maßnahmen der Nothilfe, welche in jene Länder gehen, die von Katastrophen und Kriegen betroffen sind beziehungsweise im Kriegsfall in deren Nachbarländer. Und es muss strukturelle Maßnahmen geben. Auf Ebene der Europäischen Union – und die ist die einzige hierfür zuständige Instanz – wären dies die von mir schon längstens gepriesenen Assoziationsabkommen mit den Ländern des Maghreb, was zunächst vor allem die wirtschaftliche Ebene betrifft, aber recht offen sein müsste für Personen, die nur zum Teil ans Green-Card-Kontingent angerechnet würden. Jaja, ich spreche von den Nafris, von denen ich große Stücke halte, man muss ihnen nur die Chance geben, so zu leben wie alle anderen, das heißt insbesondere mit Frau und Familie.

Dieses Programm reichert man noch an durch einige Parameter aus der Wirtschaft, aus dem Sozial­bereich, zum Beispiel bei Pflege und Betreuung, wo in den entwickelten Ländern zum einen ein echter Personalnotstand herrscht, wo anderseits gerade in den klimatisch ansprechenden Regionen des Maghreb die bestehenden Kurangebote ausgebaut werden könnten. Und der zentrale Parameter in jeder Beziehung ist die Integration, nicht nach völkischem Muster, sondern eine Integration in die zentralen Werte und Begriffe der Aufklärung, wie sie bekanntlich auch von den Klassikern des wissenschaftlichen Sozialismus immer wieder gefordert wurden.

Ach ja, zum Asylrecht wollte ich noch sagen, dass ich dieses weitgehend abschaffen würde, und zwar durch die Einschränkung, dass es nur für Länder aus der näheren Umgebung angewendet werden kann. Ich halte es zwar für absolut erstrebenswert, auch Leute aus fernen Weltgegenden im Land zu beherbergen, ja, justament mit ihrer Kultur und Küche und so weiter; Integration heißt eben nicht Auslöschung der Identität, sondern ihre Anpassung. Solche Menschen haben dann aber im Rahmen des erwähnten Green-Card-Systems einen, mindestens beschränkten Zugang.

So sehe ich das für die nächsten paar Jahre.



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Albert Jörimann
19.06.2018

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