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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Todesstrafe für Kinderschänder

Neulich kam ich bei einem Spaziergang an einem Automobil vorbei, mir ist, es wäre ein Volvo-SUV gewesen, aber das kann damit zusammenhängen, dass Volvo lange Zeit die Marke mit dem Renommée von Tierfreunden war, ein Fahrzeug der Rücksichtnahme und Achtsamkeit, was sich nur im zugespitzt widersprüchlichen Geist von Automobilistinnen vereinen kann mit dem Konzept eines Sports Utility Vehicle, also jenes Fahrzeuges, für welches das schweizerische Bundesamt für Straßen und Straßenbau nun die Spurweite der in seiner Zuständigkeit befindlichen Verkehrswege um, was weiß ich, zehn Zentimeter verbreitern will, weil es der Automobile herstellenden Industrie beigefallen ist, ihre Produkte in den letzten Jahren immer mehr in die Höhe und in die Breite auszudehnen.



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Nach meiner Beobachtung hängt das in erster Linie mit den Einparkhilfen zusammen, welche es auch der Durchschnittsautomobilistin ermöglichen, ein immer breiteres und höheres Sports Utility Vehicle auf einen Parkplatz abzustellen, der ursprünglich für einen Smart konzipiert war. Da sie aber nicht nur parkieren, sondern auch fahren, muss man eben gemäß der Logik des zuständigen Amts die Straßen selber fit machen für jene Zukunft, welche die Automobilhersteller planen, das heißt, man muss die Dörfer und Städte endlich wieder mal modernisieren, planieren und mit neuen, breiteren Straßen versehen, nachdem diese Denkmalschützerinnen jetzt jahrzehntelang solche Modernisierungsschritte verhindert haben. Jetzt aber ist diesen Umweltschützerinnen und Volvofahrerinnen die Luft endlich ausgegangen, das Geschrei um den Dieselskandal hat die letzten Lungen­kapazitäten neutralisiert, jetzt geht es vollautomatisiert vorwärts, und das Volvo-Sports-Utility-Vehicle steht für die ideale Vereinigung von grundsätzlich unvereinbaren Dingen im Rahmen eines einzigen Fahrzeugs und seiner Befahrerin.

All dies schießt mir durch den Kopf, wenn ich an diesen wunderbaren Sonntagsspaziergang zurück denke, der im übrigen über weite Strecken entlang der mehrspurig ausgebauten Zufahrtsstraße nach Schaffhausen, knapp oberhalb des Rheinfalls führte. Auch schön, stromaufwärts und mitten im nie endenden Strom der Straßenfahrzeuge, vorbei an den verschiedenen Baustellen, wo die Löcher im Stein, die sogenannten Tunnels, grad neu gebohrt werden, damit die immer breiteren und höheren Automobile ungehindert zirkulieren können, ohne dass man grad die historische Altstadt von Schaffhausen dem Erdboden gleich machen muss, um ihre ungehinderte Zirkulation sicherzustellen.

Wieviele Millionen Beschäftigte arbeiten in Deutschland direkt und indirekt im Automobilsektor? Es müssen so um die 10 Millionen sein, gut die Hälfte der regulär beschäftigten Arbeitnehmenden. Nehmen wir an, die verdienen im Monat 3000 Euro brutto, im Jahr also gut 40'000 Euro, dann haben wir einen Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt von 400 Milliarden Euro, also gut ein Achtel der ganzen Wirtschaftsleistung, und diese 400 Milliarden werden nochmals verdoppelt durch die Wirkung als Konsumausgaben oder über die öffentlichen Haushalte, welche durch die ent­spre­chen­den Steuerabgaben angetrieben werden. Gigantisch! Gratulation! Und: Könnt ihr euch nicht mal was anderes einfallen lassen? Ich weiß, das ist schwierig, aber es ist nun mal einfach hirnrissig, eine ganze Volkswirtschaft auf der möglichst radikalen Vernichtung der wertvollsten Rohstoffe auf­zu­bauen, welche der Planet in sagen wir mal 200 Millionen Jahren aufgebaut hat, nur damit Schluffi sein Gutenachtbier im Nachbarkaff trinken kann, weil er über Kreuz ist mit dem Kronen-Wirt nebenan. Mobilitätsbedürfnisse sind kollektive Bedürfnisse und sollen auch kollektiv befriedigt werden, nicht individuell. Für individuelle Lösungen sind Automobile allerdings sehr wohl perfekt, das weiß ich auch, so gut, wie ich weiß, dass 90 Prozent der privat abgespulten Wege eben nicht zur Rubrik individuelle Lösungen zählen.

Damit dies auch wieder einmal gesagt ist. Aber zurück: Auf diesem Spaziergang kamen wir an zahlreichen Automobilen vorbei, bewegten und stille stehenden, und eines davon stach mir ins Auge, wie erwähnt, vermutlich war es trotz allem kein Volvo-SUV, sondern einer dieser Billig-4-Rad-angetriebenen Geländewagen, Dacia Duster oder was auch immer, vermutlich aber ganz einfach ein VW. Ins Auge stach er mir aber nicht wegen der Marke, sondern wegen eines Aufklebers, der fast die ganze Hinterfront bedeckte. Er bestand aus einem Schriftzug, der sich rund um eine schöne Gewehrpatrone bog und besagte: Die Pille für Kinderschänder. Nun, dachte ich, da hat einer vielleicht ein Herz für Tiere, aber ganz sicher keines für Kinderschänder. Bringt der gepflegte Westeuropäer so etwas aber auf seinem Privatwagen wirklich zum Ausdruck wie ein Glaubensbekenntnis? Ist der Kinderschänder in der westeuropäischen, aber auch in der zentral- und osteuropäischen und überhaupt in praktisch allen Gesellschaften nicht sowieso allgemein unbeliebt und ist die Kinderschänderei nicht mit hohen Strafen belegt, wobei die Rede geht, dass Kinder­schän­der unter allen Gefängnisinsassen so quasi den Abschaum darstellen?

Doch, doch, doch, es ist so. Weshalb also bringt so ein Automobilist seine negative Haltung gegenüber Kinderschändern, welche nur der individuelle Ausdruck einer allgemeinen Ablehnung ist und sein kann, derart prominent zur Geltung? Würde ein anderer Automobilist vielleicht einen dicken Aufkleber mit dem Inhalt: «Ich fahre nur bei Grün über die Kreuzung!» an der Hecktür seines Fahrzeugs oder noch prominenter gar quer über die Windschutzscheibe anbringen? – Nein, das macht er nicht, das ist zu selbstverständlich; aber der Kinderschänder-Kleber-Automobilist ist von seinem Thema offenbar derart tief betroffen, ja gar aufgewühlt, dass es aus ihn heraus muss, er muss Zeugnis ablegen, sonst wird es ihm eng in der Brust. Und da es nun einmal so ist, begibt sich der neutrale Spaziergänger zwangsläufig auf den Weg der Interpretation, und von all den möglichen Varianten kommt er, also komme ich immer wieder auf den einen Verdacht: Der Besitzer des Fahrzeuges hat ein Problem weniger mit der allgemeinen als vielmehr mit der eigenen Pädophilie.

Diese Interpretation muss nicht stimmen. Immerhin fordert die Gewehrpatrone als Pille für Kinderschänder recht deutlich dazu auf, in den einschlägigen Fällen nicht etwa eine medikamentöse oder gar psychologische Behandlung anzuordnen, wie dies im Rahmen der Kuscheljustiz normaler­weise der Fall ist, sondern die Täter geradewegs zu erschießen, mit oder ohne Prozess. Unser VW-Besitzer ist ein Befürworter der Todesstrafe. Das kann man ja sein, das ist nicht verboten, und es gibt sogar gute Gründe für die Todesstrafe für besonders gravierende Delikte. Allerdings gibt es auch gute Gründe gegen die Todesstrafe, was den Gesetzgeber dazu bewogen hat, sie abzuschaffen, und zwar generell, zum Beispiel aus verfahrensrechtlichen Überlegungen, also weil man die Mög­lich­keit eines Irrtums nicht immer ausschließen kann, vor allem aber sind es die institutionellen Argumente: Die Gesellschaft beziehungsweise der Staat bedient sich bei der Bekämpfung der Barbarei keiner barbarischer Instrumente, und das Töten wird in jedem Fall als barbarischer Akt angesehen. Zudem gesteht das Gesetz dem Angeklagten vernünftigerweise in jedem Fall gewisse Grundrechte zu, die Menschenrechte, das Recht, sich zu verteidigen und so weiter. Die ausführliche Begründung findet sich bei Rechts- und Staatsphilosophen und in populärer Form auf dem Internet im schlauen Buch des Fähnleins Fieselschweif, also auf der Wikipedia. Einschließlich des Verweises auf Immanuel Kant, der für Mörder die Todesstrafe als logisch ansah.

Genau dazu möchte ich jedenfalls raten: vermehrt die Fachdiskussionen zu Rate zu ziehen, die in der Wikipedia oft recht gut zusammengefasst sind. So etwas dürfte meinen automobilistischen Anhänger der Todesstrafe nicht überzeugen und muss es auch nicht; aber es zeigt immerhin auf, dass hinter dem Verbot der Todesstrafe nicht eine internationale Verschwörung steht, welche den durch­schnitt­lichen Westeuropäer davon abhalten will, sich wie ein echter Mann zu benehmen und eben jedem Missetäter, der es verdient, eine Kugel zwischen die Augen zu verpassen, sondern eine Reihe von Überlegungen zum modernen Staat, zur Gesellschaft und zum Individuum.

Aber werfen wir zwischendurch einen Blick auf die Börse. Der Dow Jones schloss am letzten Freitag bei 26'154 Punkten, immer noch etwas unter dem Höchststand von 26'616 Punkten vom 26. Januar. Zwei Jahre zuvor, am 15. Januar 2016, hatte er noch bei 15'988 Punkten notiert und machte sich dann an einen weitgehend kontinuierlichen Aufstieg. Der Nasdaq fiel ebenfalls im Januar 2016 unter 4000 Punkte und kletterte dann unverdrossen auf über 7000 Punkte Mitte Januar 2018, gab kurzfristig etwas nach und bewegt sich seit einem Monat zwischen 7500 und 7600 Punkten. Der Dax tauchte anfangs Februar 2016 unter 9000 Punkte und marschierte dann durch bis auf 13'600 Punkte im Januar 2018, gab im Frühjahr aber deutlich nach auf unter 12'000 Punkte, erholte sich, gab erneut nach und steht heute bei rund 12'000 Punkten. Der Hongkonger Hang Seng Index fiel im Februar 2016 auf fast 18'000 Punkte und stieg dann stetig auf über 33'000 Punkte im Januar dieses Jahres. Bis im Mai wackelte er etwas herum und gibt seither stetig nach. Am letzten Freitag stand er bei 27'300 Punkten. – Das Kurs-Gewinn-Verhältnis im Dax wiederum liegt nach einem Absturz im Jahr 2012 auf gut 7.50 heute wieder bei etwas mehr als 13; im Dow-Jones-Kurs-Gewinn-Verhältnis fällt der Sprung kurz vor und während der Finanzkrise auf, da stand es zeitweilig bei 140, um sich im Jahr 2010 wieder zu normalisieren bei 22, ein Wert, der auch heute noch Bestand hat.

Was sagen uns diese Zahlen? Nicht besonders viel, wenn man davon absieht, dass der Dow Jones innerhalb von zweieinhalb Jahren um über 50% gestiegen ist, der Nasdaq um 75% und der Dax um einen Drittel. In Hongkong betrug die Zunahme gut 50%. Generell geht man davon aus, dass es sich hier in erster Linie um die Wiederherstellung der Börsen-Normalität handelt, die im Zuge der Finanzkrise vor 10 Jahren außer Kraft gesetzt wurde. Normalität heißt in erster Linie Vertrauen in die Liquidität der Banken und der Märkte. Diese Normalität ist mit anderen Worten heute gut zweieinhalb Jahre alt. Wenn es stimmt, dass sich ordentliche Finanzkrisen alle 7 Jahre ereignen, dann dauert es noch viereinhalb Jahre bis zur nächsten.


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Albert Jörimann
18.09.2018

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