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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Canetti

Hören wir uns an, was Elias Canetti zum Brexit zu sagen hatte beziehungsweise zu den Engländern ...



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> Download ... einer Nation, «die wenig laute Worte über sich macht und doch zweifellos noch immer das stabilste Nationalgefühl zeigt, das die Erde heute kennt. (...) Jedermann weiß, was das Meer dem Engländer bedeutet. Aber es ist zu wenig bekannt, auf welche genaue Weise sein vielbesprochener Indivi­dua­lis­mus und seine Beziehung zum Meer miteinander zusammenhängen. Der Engländer sieht sich als Kapitän mit einer kleinen Gruppe von Menschen auf einem Schiff, ringsum und unter ihm das Meer. Er ist beinahe allein, selbst als Kapitän von der Mannschaft in vielem isoliert. (...) Es kommt bei der Größe des Ozeans darauf an, wem das Meer am häufigsten gehorcht, sein Gehorsam wird erleichtert, wenn das Ziel eine englische Kolonie ist. Das Meer ist dann wie ein Pferd, das seinen Weg gut kennt. Die Schiffe anderer gleichen mehr gelegentlichen Reitern, denen es geliehen wird; aber nur um später in den Händen des Herrn wieder so viel besser zu fahren. (...) Was nun des Meeres Charakter anlangt, so muss man bedenken, wie vielen und wie leidenschaftlichen Ver­än­de­run­gen es unterworfen ist. In seinen Verwandlungen bietet es mehr Abwechslung als alle die Tiermassen, mit denen es die Menschen sonst zu tun hatten; und wie harmlos und stabil sind, am Meer gemessen, die Wälder des Jägers, die Felder des Bauern. Der Engländer holt sich seine Katastrophen auf dem Meere. Seine Toten muss er sich oft am Meeresgrund denken. So bietet ihm das Meer Verwandlung und Gefahr. Sein Leben zu Hause ist komplementär zum Meer gestaltet: Gleichmäßigkeit und Sicherheit sind seine wesentlichen Züge. Jeder hat seinen Platz, der um keiner Verwandlung willen verlassen werden soll, es sei denn, man geht aufs Meer; und jeder Mensch ist seiner Sitten wie seines Besitzes sicher.»

Zugegeben, Canetti schreibt hier über die unterschiedlichen Massensymbole unterschiedlicher Länder und Bevölkerungen. Von den Deutschen heißt es ein paar Seiten weiter hinten: «Das Massensymbol der Deutschen war das Heer. Aber das Heer war mehr als das Heer; es war der marschierende Wald. In keinem modernen Lande der Welt ist das Waldgefühl so lebendig geblieben wie in Deutschland. Das Rigide und Parallele der aufrecht stehenden Bäume, ihre Dichte und ihre Zahl erfüllt das Herz des Deutschen mit tiefer und geheimnisvoller Freude. Er sucht den Wald, in dem seine Vorfahren gelebt haben, noch heute gern auf und fühlt sich eins mit Bäumen.» Und zum Schluss dieses Abschnitts sagt Canetti: «Der Engländer sah sich gern auf dem Meer;der Deutsche sah sich gern im Wald. Knapper ist, was sie in ihrem nationalen Gefühl trennte, schwer­lich auszudrücken.» Und wer sich nun fragt, weshalb das Massensymbol der Deutschen in dem Fall nicht geradeaus der Wald sei, sondern eben schon das Heer, also diese eigenartige wilhelminische Erfindung, der kann diese Frage auch anderen stellen und sie sogar laut in die Welt hinaus schreien, aber kein Canetti wird ihm Antwort geben.

Es hilft nichts, dieser Text ist schlecht gealtert. Auf der Suche nach möglichen Erklärungsansätzen, weniger für den Brexit, als vielmehr für die Welle an Dummheit und für den augenscheinlichen Zerfall von zentralen Stücken sämtlicher Ideologien habe ich «Masse und Macht» zur Hand genom­men, um mindestens ein Frühwarnsystem für die Ausbildung einer neuen, unkritischen Masse zu entwickeln, denn ich traue mir unterdessen ja selber nicht mehr immer über den Weg, wenn ich all den bodenlos vernunftfreien Stuss im öffentlichen Raum immer wieder relativiere und sage: Ist doch alles nur halb so wild, in ein paar Jahren oder spätestens nach ein paar halben Generationen hat sich die Aufregung wieder gelegt und dringen die ewigen Werte von Logik und Moral wieder durch diesen Schlamm durch – es gibt ja nicht nur Likes und Followers, sondern auch so etwas wie ein allgemeines Gehirn, an und in dem die normalen Menschen wie Ihr, geschätzte Hörerinnen und Hörer, und ich mit denken. Aber möglicherweise geht das doch nicht so automatisch, wie ich es mir vorstelle, und das sollte man früh genug merken. Wenn man sich jedenfalls die Lage Englands im Moment ansieht, dann packt einen das Grauen: Wie kann es sein, dass sich eine Bevölkerung wegen eines derart gedankenfreien Furzes derart echauffiert und in sich selber zerstreitet? Eine Bevölkerung zudem, die noch Canetti als ausgewogen und nach Sicherheit strebend schilderte?

Eigentlich bin ich kein Anhänger des seit gut zwanzig Jahren herum geisternden Konzepts der Narrative, jener Erzählungen, welche die eigene Identität begründen oder verfestigen und deren Künstlichkeit mit dem Begriff selber bereits stipuliert ist und die im Übrigen in engem Zusammenhang steht mit der Einsicht, dass Geschichtsschreibung immer künstlich ist, dass Vergangenheit von jener Sekunde an, in welcher sie entsteht, beginnt, lügenhaft zu werden, das ist nicht neu. Denn so richtig die Erkenntnis auch ist, dass wir uns in unserem Weltbild und in unseren Gedanken oft auf eine Art von Erzählungen abstützen, welche durchaus als kanonisierter Schulstoff daherkommen, aber eben trotzdem nicht viel mehr sind als Erzählung, so ist noch viel richtiger, dass es uns dies eigentlich wurscht sein kann, solange wir über die Fähigkeit verfügen, das auch so zu erkennen – und von dem Moment an bringt uns das Konzept der Narrative nicht mehr weiter, das heißt, es ist für mich zunächst mal untauglich. Aber im Fall von England und den Engländerinnen kommt es mir doch wieder hoch. Kann es sein, dass dieser Bevölkerung tatsächlich ihre eigene Erzählung abhanden gekommen ist, nachdem die Aufteilung in schurkische Kapitalisten einerseits, durch mächtige Gewerkschaften vertretende aufrichtige Arbeiter und edle Proletarier anderseits vor vierzig Jahren ihre Gültigkeit verlor, aber doch lange Zeit noch als Reminiszenz diente für die Geschichte der Neoliberalen, welche den ohnehin nicht besonders fantastischen Service public oder öffentlichen Sektor mit Gesundheitswesen, Eisenbahnen, Wasserwerken und dergleichen ganz und gar dem Erdboden gleichmachten durch Privatisierung und Gewinnorientierung, während die früher durch mächtige Gewerkschaften vertretenen aufrichtigen Arbeiter immerhin noch als nicht mehr durch mächtige Gewerkschaft vertretene, aber immer noch aufrichtige Arbeitslose weiterlebten? Die treibende Kraft der New Economy, nämlich der Finanzplatz, fand irgendwie nicht so richtig Eingang in das englische kollektive Narrativ, wenn man mal den kurz währenden Versuch des religiösen Überläufers Tony Blair beiseite lässt. Man hat wirklich den Eindruck, gegenwärtig haue und steche da alles durcheinander, und nicht einmal auf die Frage: Wo zum Teufel bleibt denn die Wirtschaft?, gibt es eine richtig richtige Antwort, obwohl ich letzte Woche zum allerersten Mal eine leicht angesäuerte Stellungnahme der englischen Arbeitgeber-Vereinigung gesehen habe. Es scheucht alles durcheinander, aber wofür eigentlich oder wogegen und am Schluss denn doch wofür? Für die Wiedereröffnung der Kohlebergwerke und der Stahlfabriken? Was will England, was wollen die Engländerinnen überhaupt? Sie scheinen es ganz und gar nicht zu wissen und sich für dieses Nichtwissen auf ein mehr oder weniger prähistorisches Thema geeinigt zu haben.

Das Massensymbol der Schweizer sind übrigens laut Canetti die Berge, jenes der Franzosen ist die Revolution, jenes der Spanier der Matador beziehungsweise die Menge, die ihm zujubelt. Italien habe überhaupt kein Massensymbol, und jenes der Juden sei die Wanderung durch die Wüste. Und so sieht man an diesem Text so schön wie in fast keinem anderen, wie sich Weltanschauung im Lauf der Zeit verändert beziehungsweise wie stark Weltanschauung aus der Zeit hervorgeht, in welcher sie die Welt anschaut – ein weiterer Beitrag zur Relativitätstheorie, wenn man so will.

Im Übrigen besagt die Relativitätstheorie in Bezug auf die Weltanschauungen, dass es ihnen gut tut, wenn sie von Zeit zu Zeit von Grund auf hinterfragt werden. In solchen Zeiten reicht es nicht aus, die Standardantworten auf alle Fragen auszuhändigen. Ich spreche hier weniger von den engeren wissenschaftlichen Bereichen, obwohl es auch hier Bemühungen gibt, am eigenen Leib festzustellen, ob die Erde tatsächlich eine Scheibe ist oder doch eine Kugel – wer erinnert sich nicht an den famosen Mike Hughes, der sich persönlich von seiner Überzeugung überzeugen wollte und im letzten März doch mit einer Rakete ein paar hundert Meter hoch in den Weltall gelangt ist und auch gesund wieder zurück kam. Seither hat man allerdings nichts mehr von ihm gehört. Aber eben, darum geht es nicht, sondern im Wesentlichen um den Gesellschaftsvertrag und seine grund­legen­den Werte wie Solidarität, soziale Netze, dann Handelsfreiheit, Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz und anderswo und so weiter. Insgesamt geht es um so etwas wie ein Glaubensbekenntnis des modernen Menschen in Bezug auf seine eigene Konstitution, und wie gesagt, diesem Glaubens­bekenntnis tut es ganz gut, wenn man es von Zeit zu Zeit generalüberholt. In solchen Phasen kommen dann halt auch die Tabus an die Reihe, das versteht sich von selber, in Deutschland zum Beispiel die systematische Ermordung von 6 Millionen Juden in Deutschland und in anderen Ländern Europas als logische Folge des Antisemitismus, und wenn dieses Tabu hinterfragt wird, gibt es zwangsläufig ein paar Torenköpfe, welche die Vernichtungslager und die Vernichtung insgesamt bestreiten, das ist normal, und es reicht durchaus, sie in die Schranken zu weisen und im Falle von Gesetzesübertretungen in den Knast zu stecken. Aber das ist ja nur ein Beispiel; die Glaubensbekenntnisse werden in ihrer Gesamtheit hinterfragt, und da braucht es dann starke Charaktere, um solchen Befragungen standzuhalten. Grundsätzlich sollten die tragenden Werte der Gesellschaft aus solchen Diskussionen gestärkt und erneuert hervorgehen; aber die Diskussionen selber können manchmal schon tumultuösen Charakter annehmen, eben, wie in England oder wie bei den Gelbwesten in Frankreich. Dort ist es übrigens sehr lustig, wie sich die Hüter des linken Glaubensbekenntnisses bemühen, diese Bewegung in ihre eigenen Systeme hinein zu interpretieren. Sie erinnern dabei ganz und gar an die Ärzteschaft, welche die Komödien von Molière bevölkert.

Aber was soll's. Insgesamt bietet England im Moment schlicht und einfach beste Unterhaltung, Commedia dell'Arte, und so drängt sich eine neue Interpretation dieses seltsamen Landes auf: England ist gar keine Insel, es war noch nie eine, übrigens, sondern per Fährbetrieb schon in prähistorischen Zeiten als Festland erschlossen; jedenfalls ist es auch in modernen Zeiten keine Insel mehr, sondern schlicht und einfach eine Theaterbühne, und ob uns das Stück gefällt, ist eine andere Sache, wie schon Shakespeare wusste: 'tis ten to one this game can never please all that are here: some came to take their ease and sleep an act or two. But those, I fear, we've frighted with our trumpets. So, 'tis clear, they'll say 'tis naught. Others, to hear the city abused extremely and to cry: „That's witty!“, which we have not done neither. That, I fear, all the expected good we're like to hear for this play at this time, is only in the merciful construction of good women. For such a one we show'd 'em. If they smile and say, 'twill do, I know, within a while all the best men are ours, for 'tis ill hap, if they hold when their ladies bid 'em clap.



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Albert Jörimann
22.01.2019

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