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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Libanesische Straßen

Man weiß nicht, wie lange es anhält und wohin es führt, aber die Proteste, welche den Libanon seit mehreren Wochen auf Trab halten, wirken wie ein ziemlich gewaltiges Oktoberfest und erwecken den Anschein, als würde mit einemmal der ursprüngliche, lebensfrohe und säkulare Libanon sein Gesicht enthüllen, als würde die Bevölkerung all die Jahre von Bürgerkrieg, Korruption und Unterdrückung abschütteln wie einen alt gewordenen schäbigen Mantel.



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> Download Ausgerechnet die Hisb'Allah, die selbsternannte Avantgarde des Volkes im Kampf gegen allerlei innere und äußere Feinde, sieht sich genötigt, diesem Volk entgegen zu treten, um sie vom Demonstrieren beziehungsweise eben in erster Linie vom gemeinsamen Feiern abzuhalten. Die Libanesinnen protestieren mit der Landesfahne in der Hand, und hier ist ein Punkt erreicht, wo der Nationalismus einen historischen Fortschritt bedeutet, wo er einen Träger des allgemeinen Interesses darstellt im Kampf gegen die Einzelinteressen, welche das Land bisher unter anhaltenden gegenseitigen Schuldzuweisungen geplündert haben. Salafistenhochburgen, die Schiiten, Christen, Maroniten und was alles sonst noch den Schnabel aufsperrt im Libanon – sie alle stehen gegenwärtig unter Anklage, wie gesagt: ohne dass man wüsste, wie sich die feiernde Bevölkerung nun eine neue und effiziente Regierung oder gar Staatsform verschaffen würde. Aber diese Tage im Libanon, sie zählen zu den historisch bedeutsamsten in der neueren Geschichte des Nahen Ostens. Die Bewegung setzt auf einen Schlag alle Legenden von den religiösen Mächten und von sämtlichen möglichen internationalen Einwirkungskräften, von den USA über Russland bis hin zu Syrien, der Türkei und Israel, abgesehen von Saudiarabien und dem Iran, außer Kraft. Es ist, als würde die mediterrane Kultur mitten aus einem schwarzen Loch heraus in ihrer alten Frische erstrahlen und damit auch die Perversionen in Griechenland und in Italien überdecken. Und für die aktuelle politische Diskussion im Norden Europas von Bedeutung ist zudem der Umstand, dass der Libanon im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung einen der höchsten Prozentsätze an Flüchtlingen beherbergt, nach den Palästinenserinnen seit ein paar Jahren auch noch die Syrerinnen, und dass all dies auf den Straßen und bei den Demonstrationen eigentlich überhaupt kein Thema ist. Das ist wirklich bewegend.

Rund herum rappelt sich Klein-Arabien wieder mal hoch aus dem Schutt, diesmal des syrischen Bürger- und Glaubenskriegs, der auch in den Irak hinein ausstrahlte. Vielleicht ist es der absolut falsche Zeitpunkt, um die Frage nach der Möglichkeit einer Demokratie im Nahen Osten zu stellen, aber da Ruhe und Ordnung nach solchen Kriegen trotz allem hoch geschätzte Güter sind, macht man sich schon Gedanken darüber, ob so etwas von Libyen bis in die Türkei im Jahr 2020 nur unter der straffen Führung echter Männer möglich sei. Eben, bis auf den Libanon und selbstverständlich mit der Ausnahme Israels, dessen territoriale Expansion im Gegensatz zur Türkei mindestens nicht außerhalb der eigenen Landesgrenzen erfolgt, sofern man nämlich das vor fünfzig Jahren besetzte Westjordanland zu Israels Staatsgebiet rechnet, und dies ist offensichtlich seit zwanzig Jahren Praxis und seit ein paar Monaten auch Staatsräson. Innerhalb dieser Grenzen also ist Israel zweifels­frei die einzige moderne Demokratie im Nahen Osten. Dass der Ministerpräsident und seine Familie ein korrupter Sauhaufen sind, ändert daran nichts. Schließlich wurde schon sein Vorgänger Ehud Olmert wegen Korruption verurteilt, wogegen der ehemalige Staatspräsident Mosche Katzav nicht wegen Korruption, sondern bloß wegen Vergewaltigung, sexueller Belästigung und Behinderung der Justiz hinter Gitter wanderte. Was aber nur belegt, dass die Justiz in Israel funktioniert. Was man nicht von ganz Klein-Arabien behaupten würde.

Trotzdem: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit die Länder Klein-Arabiens zu einer demokratischen Regierungsform finden, und zwar zu einer, welche nicht bloß als formaler Umhang für die Behändigung der vorhandenen Ressourcen durch die jeweilige gewählte Regierung dient? Dies ist offenbar seit dem Sturz Saddam Husseins im Irak der Fall, wobei gerade dieser Sturz den Staatsapparat derart geschwächt hat, dass Einzelinteressen im Inland ebenso wie ausländische Einflüsse von Washington über Teheran bis Riad für die anhaltende innere Unruhe sorgen, die vor ein paar Jahren dem Islamischen Staat doch einige Erfolge auf irakischem Boden einbrachte. Auch hier würde man es zunächst einmal begrüßen, wenn sich ein eigenständiger irakischer Nationalis­mus ausbreiten würde, dessen mögliche Inhalte allerdings aus der Distanz von ein paar tausend Kilometern nicht besonders klar erkennbar sind. Abgesehen davon ist es nicht bewiesen, dass die Entwicklung einer Region zwingend über eine Phase des Nationalismus laufen muss; nehmen wir als Beispiel die Scharia und stellen uns zur Abwechslung mal vor, sie wäre ein modernes Instrument, welches unter anderem die Meinungsfreiheit garantiert, neben sozialer Sicherung und weiteren Attributen, da könnte man sich durchaus vorstellen, dass eine sozusagen supranationale religiöse Instanz für die Einhaltung der Regeln und für den gesellschaftlich-wirtschaftlichen Fortschritt sorgen könnte. Warum denn nicht! Bloß entsprechen die aktuellen islamischen religiösen Instanzen in Klein-Arabien durchaus nicht unseren Vorstellungen von gesellschaftlichem und noch nicht mal von wirtschaftlichem Fortschritt. Und damit werden wir wohl in absehbarer Zukunft leben müssen: nämlich damit, dass unsere Kriterien in Klein-Arabien hoffnungslos keinen Wert haben angesichts der Dominanz der schiitischen und sunnitischen Regionalmächte. Bloß im Libanon scheren die Leute sich im Moment grad keinen Deut um diese Realität. Wie gesagt: Es ist bewegend.

Das Grundeinkommens-Volksbegehren in Österreich ist nicht zustande gekommen, das Parlament muss sich also mit dem Thema vorderhand nicht beschäftigen. Selbstverständlich gehen die Diskussionen über die Grundsicherung auch in Wien weiter, ebenso wie in Deutschland, Frankreich und schlicht überall; aber aus ideologischen Gründen lässt man ganz einfach die Hände vom einfachsten und grundlegenden Instrument der bedingungslosen Existenzsicherung. Hier sind ebenfalls nationenübergreifende religiöse Instanzen am Werk, und zwar jene der Schwurbel-Ökonomen. Das deutsche «Handelsblatt» berichtet über das Projekt der Cinque Stelle in Italien unter dem Titel «Grundeinkommen – Die Geschichte eines Flops», ohne darauf hinzuweisen, dass es sich eben gerade darum um einen Flop handelte, weil das Projekt nicht bedingungslos war. Nur gerade eineinhalb Millionen Anträge auf ein Reddito di Cittadinanza wurden gestellt und eine Million genehmigt, vor allem in Süditalien. Die Ökonomietheologinnen vom Handelsblatt, konkret Regina Krieger, lamentieren darüber, dass 780 Euro für eine Einzelperson beziehungsweise 1280 Euro für eine vierköpfige Familie im Mezzogiorno viel zu viel sei und die Menschen aus dem Arbeitsmarkt dränge, statt sie zur Arbeit anzuhalten; gleichzeitig erfährt man aber nebenbei, dass dort in den letzten zehn Jahren 300'000 Arbeitsplätze verschwunden seien. Arbeit in welchen Jobs, Frau Krieger? Dass in Italien ein solches Projekt mit der dazugehörigen Bürokratie eingerichtet wird, versteht sich dagegen von selber, hier werden den Menschen dann doch noch neue Stellen angeboten, sobald es dann einmal klappt mit all den neuen Instanzen.

Dafür haben in den USA die Bundesstaaten Kalifornien und Maine ihre Steuerrückerstattungs-Programme für Wenigverdiener auf ein existenzsicherndes Minimum angehoben. Die Earned Income Tax Credits sind eine Art von negativer Steuer, für deren Ausschüttung allerdings eben ein gewisses Minimaleinkommen die Voraussetzung ist. Die negativen Einkommenssteuern gelten als ein Grundeinkommens-Modell neben anderen, wobei an und für sich nicht unbedingt ein Einkommen erzielt werden müsste, aber das wäre wohl im stark wirtschaftstheologisch geprägten Amerika zu viel verlangt. Immerhin ist die Anhebung auf ein anständiges Niveau in Kalifornien und Maine doch ein Zeichen dafür, dass nicht immer und überall alles schlechter wird.

Eigentlich wird alles immer besser, bloß die Ordnung der Dinge und der Menschen scheint zu verschwimmen, ein paar Jahre nach der Auflösung der lange bewährten industriekapitalistischen Verhältnisse. Zunehmend breiten sich neue Lebens- und Erwerbsformen aus und gedeihen mitten unter uns, ohne dass wir das so richtig merken; wir haben aber auch nicht immer einen Namen dafür, und mit Politik im herkömmlichen Sinn hat das schon gar nichts mehr zu tun. Hier bleiben sowieso im Moment nur zwei Ebenen zu betrachten, einmal eine mit Grundsätzen betreffend soziale Sicherung, wirtschaftliche Ausrichtung, Infrastrukturen, Migration und Institutionen sowie eine mit den ihnen zuzuordnenden Geldern aus dem Einnahmentopf. Bei den Grundsätzen würde ich empfehlen, die Weiterentwicklung in Richtung Demokratie auch in Europa zu untersuchen; sie betrifft nicht nur die Ausbildung der Subjekte dieser Demokratie, also der Bevölkerung, zu echten Akteuren der Demokratie, sondern sie betrifft auch die Beziehung zu den kontinentalen Instanzen. Da geht es zum Beispiel darum, dass man nicht unbedingt die Höhe, aber doch das System der Steuererhebung mit der Zeit mal vereinheitlicht, was der Steuerflucht und Steuerhinterziehung schon mal einen Teil der Grundlagen entziehen täte. Ein einheitlicher Mehrwertsteuersatz in der gesamten Europäischen Union, ein einheitliches System der Einkommenssteuern – das wäre ja schon mal ganz wunderbar. Die Vereinheitlichung der Bildungssysteme wäre ebenfalls ein Wunsch, bis zu dessen Erfüllung noch einige Zeit vergehen muss, offenbar, wenn allein in Deutschland jedes Bundesland weiterhin seine eigenen Standards pflegt, wie soll man da auf die Schnelle etwas Gemeinsames auf dem ganzen Kontinent hinkriegen?

Von solchen Sachen mal abgesehen, mag sich anschließend Revolutionär oder Reaktionär nennen, wer will – solange sie sich an die Grundwerte der Aufklärung und an die Menschenrechte halten, spielt das keine so große Rolle.



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Albert Jörimann
03.12.2019

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