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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Emilie Gourd

Vor gut sechs Jahren stellte die Stiftung Emilie Gourd eine eigene News-Webseite online. Emilie Gourd war eine bedeutende Schweizer Frauenrechtlerin aus Genf, unter anderem präsidierte sie mehrere Jahre lang den Schweiz. Verband für Frauenstimmrecht, und die nach ihr genannte Stiftung hat sich zum Ziel gesetzt, die Sache der Frau weiter zu fördern.



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actuElles hieß und heißt die neue Plattform, und sie trat in Konkurrenz zur bestehenden Westschweizer Frauenzeitung l'Emilie, welche ihren Namen ebenfalls von Frau Gourd ableitete und eine moderne Form der seit 1912 bestehenden Zeitschrift Le Mouvement Féministe war, die damals wiederum von Emilie Gourd gegründet worden war.

Welches die Gründe für die Lancierung einer Konkurrenz von L'Emilie in der Form von actuElles waren, ist mir nicht bekannt. Bekannt, weil öffentlich einsehbar ist dagegen, dass L'Emilie ziemlich allergisch reagierte und der neuen Redaktion, konkret deren Webmaster geradewegs Maskulinismus und Schwulen­feind­lich­keit beziehungsweise Homophobie vorwarf. Darauf verwies die Stiftung darauf, dass es sich bei diesem Webmaster um einen der Initiatoren der Petition für gleiche Rechte für gleichgeschlechtliche Paare handle, welche letztlich zur Legalisierung der eingetragenen Part­ner­schaften geführt hat, sowie um einen Mitgründer der Schweizer Schwulenorganisation Pink Cross.

Es braucht, mit anderen Worten, nicht unbedingt Twitter und Facebook, um die innere Journalistin zu entfesseln und auf Enthüllungsmission zu senden, das Internet und die Webseiten reichen schon vollständig aus, und schon ist ein Held der Schwulenbewegung als Schwulenfeind enttarnt; auf diese wissenschaftlich fundierte Art wird man, je nach Bedarf, allen Feministinnen ihre Frauen­feindl­ichkeit nachweisen, allen Antirassistinnen ihren Rassismus und natürlich sowieso allen Wurstfressern ihre Herzlosigkeit für Tiere, aber das ist wieder ein anderes Kapitel. Und wo ich grad bei den Rassistinnen bin: Kürzlich hat der verdiente Helmut Schleich, ein fester Bestandteil des bayrischen Kabarettistenhimmels, in seinem Sendeformat Schleich Fernsehen den guten alten Karl Marx gerade heraus als Rassisten bezeichnet; auf Nachfrage lieferte die Redaktion ein paar Ver­weise auf ziemlich unhöfliche Passage aus seiner Korrespondenz, einschließlich ein paar ziemlich abfälliger Bemerkungen über den Schwiegersohn Paul Lafargue. Leider kann ein Rassismus-Nach­weis auf der Grundlage privater Polemik im Freundeskreis nicht gelingen, aus verschiedenen Grün­den, über die ich bei Bedarf gerne referiere, aber nicht an dieser Stelle; hier will ich mich bloß darüber wundern, dass das bayrische Kabarett immer stärker den Drang verspürt, in die fünfziger Jahre zu regredieren. Und wenn wir gerade bei der Wurst sind, so kann ich den folgenden Vergleich anstellen: So, wie ein paar große Denker die Wurst als nichts anderes denn als umgestülptes Schwein bezeichnet haben, so muss man fürderhin wohl sagen, dass in Bayern die fortschrittlichen Ideen nicht mehr im Kabarett, sondern bei Markus Söder zu finden sind. Dass ich diese Beweisführung selber nicht ganz nachvollziehen kann, beweist doch nur, wie richtig sie ist.

Schleich hatte sich in der selben Sendung ein paar Minuten früher noch über Leute mokiert, welche Behauptungen, die in ihr Weltbild passen, als bewiesen unterstellen,, ohne auch nur den Hauch eines Beweise vorliegen zu haben, und in dem Punkt hat er auf jeden Fall recht. Die sozialen Medien eignen sich für solchen Plunder selbstverständlich ganz besonders, aber eben, es geht auch auf dem Internet und im Bayrischen Fernsehen, und wenn es in München mit der Reise nach rechts weiter geht, dann werden die uns im Kabarett demnächst beweisen, dass Karl Marx und Friedrich Engels höchstpersönlich die Ausbeutung der Arbeiterschaft begründet haben. Vielleicht auch nicht. In Genf jedenfalls hat sich die Emilie in der Folge nicht mehr so tüchtig weiter entwickelt; seit drei Jahren fehlt auf der Webseite seit Juli 2017 jegliche Spur von Aktivität, so wie auf dem Mars alle Spuren von Wasser fehlen. Ein baldiger Neustart wird angekündigt, unter dem Motto «L'Emilie dégourdie», was zwar auch eine aufgelockerte Emilie heißt, vor allem aber die Emilie ohne Gourd bedeutet, womit sie der Gründerin der Zeitung einen ordentlichen Tritt in den Arsch versetztn, der gleichzeitig sie selber trifft. Schade drum. Aber eben: Am letzten Samstag haben ja bekanntlich mehrere Millionen Freiheitskämpferinnen und Impfgegnerinnen in Berlin gegen die Corona-Einschränkungen demonstriert, und bei diesen Millionen oder vielleicht sogar Milliarden handelte es sich zweifellos insgesamt um genau diese Sorte von Menschen, denen so etwas wie Wahrheit vollkommen schnurz ist, wenn sie sie nicht selber eingekocht haben.

Kürzlich habe ich einen solchen Beitrag zum bedingungslosen Grundeinkommen gelesen. Der Verfasser hat sichtlich keinen Recherche-Aufwand gescheut, um nachzuweisen, dass das Projekt eines Grundeinkommens von wahnsinnigen 5 Euro pro Monat und Person für den Sudan im Auftrag des Weltwirtschafts­forums entwickelt wurde und von der Bill-Gates-Stiftung finanziert, wobei die Bill-Gates-Stiftung den dialektischen Kniff drauf hat, die Ware am Schluss nicht selber zu bezahlen, sondern Superman dafür bluten zu lassen, nämlich den Steuerzahler, aber das ist wieder ein anderes Kapitel. Der letzte Zweck jedenfalls dieses Grundeinkommens-Projekts, von dem ich übrigens zum ersten Mal erfahren hatte, sei jener, dass man die ganze Bevölkerung biometrisch registrieren könne. In den entwickelten Ländern ist nicht diese Begründung, die halt leider bereits eine staatliche Realität ist, von der Sozialversicherungsnummer bis hin zu den Personalausweisen, sondern ein anderer Ansporn für die Einführung eines Grundeinkommens von oben jener, dass man damit die Sozialleistungen nach unten nivellieren beziehungsweise eben die Kosten des Sozialstaates senken könne. Solche wirren und irren Theorien gibt es zu Dutzenden, und dem verzweifelten oder verzweifelnden normalen Menschen bleibt nur übrig, sich kopfüber in die Wissenschaft zu stürzen zum einen, denn darauf ist doch noch einigermaßen Verlass, gerade weil innerhalb der Wissenschaft nicht alles immer zum Vornherein eindeutig ist, sondern oft geprüft, verifiziert oder falsifiziert werden muss. Zum anderen hilft nur die Zuflucht zur reinen Vernunft, auch wenn dumme Menschen Kant gerne ebenfalls als Rassisten bezeichnen; auch hier gilt: Er war es nicht, weil er es gar nicht sein konnte, er war einfach ein Produkt seiner Zeit, die sich noch mit vielen anderen Dingen auseinander zu setzen hatte, zum Beispiel mit der Physiognomie, mit Miasmen, Temperamenten und so weiter. Wir müssen aber auch nicht alle die Kritik der reinen Vernunft lesen, um vernünftig zu sein, es reicht, wenn man die bekannten Instrumente einsetzt, also in erster Linie die Reflexion mit dem Wissen darum, dass man sich auch mal täuschen oder sogar irren kann, aber stets nach den Grundlagen und der Wahrheit zu suchen hast. So einfach ist das.

Was habe ich noch gelesen: Brüssel will sich als Europazentrum für das Reisen im Schlafwagen etablieren, nachdem sich die EU überlegt, ob sie nicht das nächste Jahr zum Jahr der Eisenbahnen erklären will. Die Schwedischen Reichsbahnen planen die Einrichtung einer Direktverbindung Stockholm–Brüssel, obwohl auf dem Weg die Deutschen Bundesbahnen gewisse Probleme bereiten wegen der Auslastung der Trassen; aber insgesamt bewahrheitet sich immer mehr jene Pro­gnose, die ich schon vor Zeiten gestellt hatte, als ich euch empfahl, in Erfurt eine Fabrik für die Produktion moderner Schlafwagen einzurichten. Deutschland braucht keine Tesla-Fabrik, um CO2 einzusparen, sondern eine neue Reisekultur in der Form von Schlafwagen zwecks Überwindung längerer Distanzen. Läuft der Antrag jetzt endlich? Oder müssen wir unseren Schweizer Einsehbannbauer und SVP-Mitglied Peter Spuhler mit der Nase drauf stoßen? Wenn sich schon mal mindestens eine kleine Alternative zur neurotischen Fixierung aufs Automobil anbietet, weshalb nutzt ihr sie denn nicht, bitteschön? Nehmt doch einfach das Konzept der japanischen Waben-Hotels und stellt das auf die Schiene, da haben wir doch alles bereits erledigt! Und für die längeren Reisen baut ihr halt wieder die Hotelzüge, wie früher, wo man dann halt auch die Übernachtung bezahlen muss und nicht nur die zurückgelegte Strecke, aber irgendwie kommt man da schon auf seine Rechnung.

Die Musik spielt im Moment zwar eher auf der Hochzeit zwischen den Eisenbahngeschäften von Alstom und Bombardier, welche sich als globaler Konkurrent zur chinesischen Eisenbahn-Firma CRRC positionieren wollen, nachdem die Fusion zwischen Alstom und Siemens aus binnenw­irt­schaftlichen Konkurrenzgründen von der EU noch unterbunden worden war. Hier geht es ebenfalls sehr direkt um den Markt mit dem CO2, aber in einem größeren Umfang; schließlich hat der gesamte amerikanische Kontinent noch einen riesigen Nachholbedarf, von Afrika ganz zu schweigen, wo die Chinesen seit geraumer Zeit im Geschäft sind, aber auch Indien wird seine Infrastrukturen mit der Zeit wenigstens ein bisschen modernisieren wollen. Dazu gehören in Indien wie überall sonst selbstverständlich nicht nur neue Hochgeschwindigkeitszüge oder Nachtzüge, sondern auch mehr und bessere Trassen für diese Züge und auch für den Regionalverkehr, und damit höre ich auch schon wieder auf, bevor ich euch vorrechne, wie die deutsche Automobil­industrie und in ihrem Windschatten die Regierung den Schienenverkehr seit Jahrzehnten syste­matisch sabotiert hat. Erinnert ihr euch noch an ADTranz, den Versuch von Mercedes, die Eisenbahnindustrie zu liquidieren? – Ach, ich hatte ja gesagt, ich höre auf.

Eine letzte Bemerkung für heute gilt wieder mal dem Türk Pascha. In der Rumpelkammer der nicht ganz vergessenen Konflikte hat er nun jenen mit den Armeniern wieder ausgegraben, nachdem er der Christenheit den schweren Schlag versetzt hat, den byzantinischen Dom von Konstantinopel wieder in die Hagia Sophia von Istanbul zu verwandeln, also aus einem Museum wieder eine Moschee zu machen. Da hat unser Herz aber stark geblutet, also meins nicht so sehr, aber wie auch immer. Jetzt stellt er sich an die Seite von Aserbeidschan in der Auseinandersetzung um Berg-Karabach, weil es ja nicht reicht, den Völkermord an den Armeniern begangen zu haben, man muss die Armenier auch noch hassen dafür, dieses Muster kennen wir, zum Beispiel aus Krakau, wo die ersten antijüdischen Pogrome drei Monate nach der Befreiung von Auschwitz stattfanden. In der Praxis wird sich in absehbarer Zeit nicht viel ändern zwischen den Ländern, auch nicht zwischen Aserbeidschan und Armenien und schon gar nicht mit der Türkei, weil in allen Fällen Wladimir Putin die Finger im Spiel hat beziehungsweise letztlich über Krieg oder vor allem über den Frieden bestimmt, und hier sage ich wieder einmal: Gottseidank!, denn wenn man diese Länder unbeaufsichtigt spielen lassen täte, dann hätten wir das Gemetzel schon am nächsten Tag. So aber tragen die beiden ihre Konflikte gegenwärtig auf fremdem Boden aus mit Demonstrationen und Gegendemonstrationen in verschiedenen Städten auf verschiedenen Kontinenten, aber bisher noch ohne Todesopfer. Hoffen wir, dass es dabei bleibt.

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Albert Jörimann
04.08.2020

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