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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Aufstehen

Wenn Reisen bildet, dann befinde ich mich in einer hoch dekorierten Wissens-Umgebung, in meiner Familie zum Beispiel stehen allein in diesem Jahr Neuseeland, Australien, die Vereinigten Staaten und Bali auf der Trophäenliste, von den Abstechern nach London, Nizza, Mallorca, Teneriffa und so weiter nicht mal zu sprechen, das ist mehr oder weniger der alltägliche Kleinkram, und mittlerweile spreche ich mit den betreffenden Angehörigen schon gar nicht mehr darüber, dass jede Flugreise soviel an Treibstoff verbraucht, als würde man im Privatfahrzeug Marke Audi an den Zielort fahren und zurück,...



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> Download ...für Bali wären das hin und zurück an die 40'000 Kilometer, was bei einem Verbrauch von 5 Litern pro 100 Kilometern gut 2000 Liter Treibstoff ergibt, die man da einfach so mal wegschüttet, um in Bali günstig thailändisch zu essen und die Zehen ins Wasser zu stipsen und sich darüber zu beschweren, dass die Einheimischen so gar keine Sorge tragen zur Umwelt und ihre Plastikabfälle ungefiltert und unverbrannt ins Meer geben, wo sie sich sofort zusammen ballen zu jenem Plastikberg, der unterdessen groß und hoch ist wie die Zugspitze oder der Almdodler und im Pazifik vor sich hin treibt. Gleichzeitig ächzt die ganze Welt unter der Hitze, ja, man hört gar davon, dass es sich um eine Folge des Klimawandels handle und dass dieser Klimawandel von den Menschen gemacht wird unter anderem durch den Verbrauch immer höherer Mengen an fossilen Energieträgern, unter anderem im Individualverkehr, der nach wie vor die höchsten Beiträge zum Treibhauseffekt leistet neben den Heizungen, wenn man einmal vom Irrsinn der Konsum­gesell­schaft absieht mit unbrauchbaren Produkten für nicht vorhandene Bedürfnisse, aber eben: sprechen kann ich in meiner Verwandtschaft darüber nicht mehr, ich mag nicht den selben Menschen immer das Gleiche erzählen, da mag dieses Gleiche noch so wahr sein, und weil ich nicht mehr darüber spreche, haben diese Verwandten unterdessen vermutlich den Eindruck, dass ich ihre Bildungsreisen im Kern gut finde.

Das tue ich übrigens auch, in einem gewissen Sinne; ich glaube tatsächlich, dass Reisen bildet, und ein nicht ganz und gar vernagelter Kopf wird sich an den jeweiligen Destinationen doch den einen oder anderen Gedanken machen, wenn schon nicht über den Klimawandel, so doch immerhin über die verschiedenen Sitten der Völker und darüber, dass wir letztlich doch alle gleich sind und über die gleichen Menschenrechte verfügen und dass die Migration ein hundskommunes Phänomen dieser Zeit ist, sehe sich ein jeder Balireisender nur selber an. Man kann sich übrigens beim Reisen auch Gedanken über den Klimawandel machen, wie jene Miss-Schweiz-Kandidatin, welche sich für ein Photoshooting auf die Malediven fliegen ließ und beim dazu gehörigen Pressegespräch in die Mikrofone flötete, dass es schrecklich sei, dass die Malediven in wenigen Jahren von der Meeres­spiegel­erhöhung überspült würden, wenn wir nicht endlich etwas dagegen unternähmen, zum Bei­spiel nicht mehr Autofahren und Flugzeugfliegen. - Nein, den mit dem Autofahren und dem Flug­zeug­fliegen hat sie eben nicht gesagt. Vermutlich kennt so eine durchschnittliche Miss-Schweiz-Kandidatin solche Zusammenhänge gar nicht, aber Wertstoffrecyceln und vegane Ernährung, min­destens vom Dienstag bis am Donnerstag oder von morgens sechs bis nachmittags um drei Uhr, dafür reicht es schon und damit zu einem ausgewiesen nachhaltigen Engagement für die Umwelt.

Übrigens soll man die Kandidatinnen für Miss-Wahlen oder sogar für andere Castingshows wie zum Beispiel Deutschland sucht das Supermodel nicht unterschätzen, es hat da zum Teil echte Hochschulabsolventinnen drunter. Mit anderen Worten: Wenn du eine dumme Nuss bist und ungebildet, hast du nicht mal bei einer Castingshow eine Chance, also solltest du dringend in der Welt herum reisen.

Nun gibt es auch weniger umweltbelastende Arten der Vorwärtsbewegung, zum Beispiel mit dem Veloziped, oder gar des Reisens, und hier nenne ich den Zug, auch wenn der in Deutschland ange­sichts des vorherrschenden Bahnunternehmens nicht im allerbesten Ruf steht, wie hieß der Junge nochmals, den man in Berlin nicht mehr brauchen konnte und deshalb in die Leitungsgremien der Deutschen Bahn abschob, Pofalla wohl? Oder der andere Verkehrsminister, der Dobrindt, dessen Reisehorizont die Strecke München–Berlin wohl nicht übersteigt, diese dafür in Fortbewegungs­mitteln des Bereitschaftsdienstes der Deutschen Flugwaffe.

Aber egal, jedenfalls bringt auch der Zug ein, wenn auch nicht gerütteltes, so doch immerhin minderes Maß an Bildung. So las ich zum Beispiel gestern bei der Heimfahrt von Erfurt nach Zürich bei einem Fahrgast, der mir nicht mal direkt, sondern eine Reihe weiter in Fahrtrichtung gegenüber gestuhlt war, sodass es mir nicht möglich war, den dazu gehörigen Artikel ganz zu entziffern, aber immerhin, las ich also in der «Bild»-Zeitung, welche dieser Fahrgast in den Händen hielt, die Schlagzeile: «Wie rechts ist die neue linke Bewegung von Sarah Wagenknecht?» – Und da erinnerte ich mich daran, in der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift «konkret» den Leitartikel des dementen Gremlitza gelesen zu haben, in welchem er das Thesenpapier der «Linken» zur Ein­wan­de­rung mehr oder weniger unverhohlen mit einem NSDAP-Programm verglich, neben ver­schie­de­nen anderen Faschismus-Vorwürfen an verschiedene andere Parteien, Städte und Regimes, unter anderem das berühmte Regime von Visegrad. Mit anderen Worten: Die «Bild»-Zeitung schreibt neuerdings bei der «konkret» ab, und das finde ich jetzt doch wieder seltsam. Also warf ich noch im Zug einen Blick auf die Webseite der neuen linken Bewegung von Sarah Wagenknecht mit dem Titel «aufstehen.de» und fand da ebenfalls Schlagzeilen, zum Beispiel oder vor allem, nämlich zuerst: «Den Bürgerinnen und Bürgern muss zugehört werden!» – Naja, das hatte ich nicht nur von verschiedenen Populistinnen und Populisten schon zuvor gehört, ich hatte mich auch immer wieder gefragt, wobei denn. Erfahrungsgemäß, und ich möchte dies schon in den Rang eines Theorems, mindestens aber einer Arbeitshypothese erheben, hört man, wenn man den Bürgerinnen und Bürgern zuhört, genau das, was man hören will. Die berühmten Sorgen und Nöte sind immer diejenigen, nach welchen die Zuhörerin oder der Zuhörer fragt. Die «aufstehen»-Schlagzeile ist mit anderen Worten hoch untauglich, ganz abgesehen vom Umstand, dass Zuhören bekanntlich niemals andere Folgen hat als anschließendes Vergessen. «Flaschen sammeln darf keine Lösung sein», die nächste Schlagzeile, hat mir deutlich besser gefallen, da kann ich mir etwas vorstellen drunter; aber dann war schon wieder fertig mit der Webseite, weil ich natürlich keinen der hundert aufge­schalteten Videobeiträge anklicken wollte, und ich wurde einfach auf den 4. September vertröstet, wenn dann die Bewegung losgehen soll.

Ich kann also nicht beurteilen, ob Sarah Wagenknechts Versuch, eine Einheitsfront zu bilden, politisch rechts geprägt ist oder nicht. Dass sie damit Mehrheiten innerhalb von verschiedenen politischen Parteien an sich binden kann, glaube ich nicht; dagegen könnte ich mir vorstellen, dass sie als Person glaubwürdig genug ist, um eine Bewegung in Gang zu kriegen. Glaubwürdiger und vor allem langlebiger jedenfalls als Martin Schulz, welcher so etwas mit seiner Kanzlerkandidatur seinerzeit ebenfalls versucht hat, damals noch innerhalb der SPD, dann aber seinen Kurs jämmerlich aufgegeben hat, vermutlich eben wegen der Kräfteverhältnisse innerhalb dieser SPD, und von einer solchen SPD ist Sarah Wagenknecht ja nun nicht belastet. Nein, Frau Wagenknecht könnte gerade wegen ihres eigentlich etwas spröden, distanzierten, um nicht geradeaus «distan­cier­ten» Auftretens, dem zahlreiche Merkmale eines echten Populisten oder einer echten Populistin fehlen, zumal der Schaum vor dem Maul, durchaus Sympathien in überdurchschnittlichem Maße anziehen. Mal sehen. Um nachhaltig zu sein, braucht aber auch Sarah Wagenknecht mehr als die Gabe des Zuhörens, sie braucht ein paar knackige Vorschläge, und wenn sie die hat, auch auf die Gefahr hin, dass sie etwas populistisch tönen, so kann da durchaus etwas werden draus. Einfach nicht als Einheitsfront gegen rechts, da macht keine einzige der vorhandenen Parteien mit, aber eben, als Bewegung. Ideal wäre, habe ich mir sagen lassen, wenn sie sich zu dem Behuf zusammen täte mit Frauke Petry. Aber das wäre dann wohl schon Plebsistisch und nicht mehr Populistisch, das macht uns Genossin Wagenknecht nicht. Und was es mit den Anleihen bei Ludwig Erhardt auf sich hat, mit denen sie uns vor ein paar Monaten beglückt hat, das steht ebenfalls in den Sternen. Am Schluss angelt sie sich noch Hanswerner Sinn als Berater. Hauptsache, daraus wird eine Bewegung, und ich möchte doch darauf hinweisen, dass es absolut unstatthaft ist, hier einen Vergleich, erneut, zu den Nazis zu ziehen, nur weil die sich zeitweise ebenfalls als Bewegung konstituiert haben. Ich könnte dagegen halten mit der Zürcher Bewegung aus den 1980-er Jahren, die mit Nationalsozialismus überhaupt nichts am Hut hatte. Ein bisschen Abstand von Gremlitza, dazu möchte ich dann doch geraten haben.

Eine Bewegung! Wir haben in Frankreich die Erfahrung gemacht, dass Emanuel Macron mit der seinigen das gesamte politische Establishment weggefegt hat; und in der Neuen Zürcher Zeitung bin ich auf eine andere Bewegung gestoßen, nämlich die Brüsseler Stiftung «Le Mouvement», mit welcher der US-amerikanische Journalist Steve Bannon Europa zu einer rechtsnationalistischen Revolution führen will. Laut der NZZ versteht sich Bannon dabei als Gegenstück zum Milliardär George Soros, was mit Sicherheit auf Sympathien beim sesshaften Urban Orban in Ungern stoßen wird, aber bei richtigen Weltreisenden, also Mitgliedern der Bildungselite wohl weniger. Steve Bannon hat einen einfachen Hau mit seinem Projekt einer Internationale der Nationalisten, und mehr braucht man dazu wohl nicht zu wissen. Die Europäerinnen sind schlicht und einfach keine US-Amerikanerinnen, wie wir in den letzten zwei Jahren realisiert haben mit zunehmendem Entsetzen darüber, wie radikal ein großer Teil der Bevölkerung in den USA jegliche Vernunft eingebüßt hat oder überhaupt ablehnt. Umgekehrt wird Steve Bannon mit seinerseits zunehmendem Entsetzen realisieren, dass dies in Europa nicht der Fall ist.


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Albert Jörimann
08.08.2018

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