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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Italien im Oktober

Was denn jetzt? Das Budget der italienischen Regierung sieht für die nächsten drei Jahr ein Defizit von 2.4% des Bruttoinlandproduktes vor. Zu finanzieren durch neue Schulden, logo, es kommt auch nicht mehr drauf an.



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> Download 2017 belief sich die Staatsverschuldung auf 2250 Milliarden Euro bei einem BIP von 1600 Milliarden Euro. Wie üblich streiten sich die Beteiligten, Fachleute und Politike­rin­nen, über möglichst alle Aspekte; die Mehrausgaben sollen der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit dienen, nicht einfach neue Stellen schaffen, sagen die einen, und so sollen die Mehrausgaben auch Mehreinnahmen schaffen. Aber auch für das Grundeinkommen braucht es Geldmittel, wobei es sich nach aktuellem Stand der Informationen nicht um ein Grundeinkommen, sondern um eine Art von Hartz IV handelt, allerdings ohne Sanktionen und vor allem für den Süden des Landes. Andere Fachleute fürchten sich vor dem Anstieg der Zinsen, die Italien für seine Staatsanleihen bezahlen muss, aktuell 3.1 Pro­zent, während Deutschland sein Geld für 0.5% aufnehmen kann. Zudem will die Europäische Zentral­bank demnächst keine Staatsanleihen mehr aufkaufen, und irgendwann ist auch eine Erhöhung des Referenzzinssatzes nicht ausgeschlossen. Die Auswirkungen auf die italienischen Staatsfinanzen kann man sich leicht ausmalen. Auch das Gebrüll der aktuell an der Macht sich befindlichen Brüllaffen kann man sich jetzt schon vorstellen, scheiß EU, scheiß EZB, scheiß Euro. Dass die EU, ähnlich wie in Griechenland, in Italien zahlreiche Projekte finanziert, unter anderem die Übernahme von Sozialversicherungsabgaben für junge Beschäftigte, aber auch Strukturfonds, welche das Land allerdings oft gar nicht anzapft, weil es daran scheitert, die richtigen Formulare zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle einzureichen, das gehört nicht zum Argumentarium der Brüllaffen.

Ja, was jetzt? Die Regierung will eine Flat Tax einführen, also eine lineare Lohnsteuer, aber auch hier kann man lange debattieren, weil zum Beispiel Selbständigerwerbende schon jetzt zahlreiche Möglichkeiten haben, ihren Lohn um verschiedene Nebenkosten und Auslagen zu kürzen. Man sagt, dass Luigi Di Maio seinem Finanzminister verschiedene Ressorts zu entziehen plant, um selber über die entsprechenden Budgetposten entscheiden zu können; die Cinque Stelle haben als vollständiger Neuling in der Politlandschaft tatsächlich einen enormen Nachholbedarf bei der Vergabe von Posten und Positionen im Staat, welche Abhängigkeiten und Mehrheiten sowie die Beziehungen in die Privatwirtschaft schaffen. Das ist die negative Interpretation der Angelegenheit, denn eigentlich waren die Cinque Stelle ja gerade angetreten, um diesen Filz auszumisten, und vielleicht bemüht sich Di Maio tatsächlich darum – bloß fehlt unsereinem als neutralem Beobachter einfach der Glaube, dass man dieses verzwirbelte System auf diese Art und Weise aushebeln kann. Aber man wird das ja bald mal sehen, spätestens nach Vorlage des ersten handfesten Budgets für das Jahr 2019. Wenn es bei dieser Gelegenheit nicht endlich zum definitiven Krach zwischen den krachledernen Ausländerfressern der Lega und dem seltsamen Sammelsurium der Cinque Stelle kommt, dann kann man dieser Regierung sogar eine gewisse Stabilität zutrauen.

Aber ansonsten eben: Was jetzt? Business as usual, möchte man meinen, einfach die Rhetorik ist wie bei Trump zu einer Tourette-Rhetorik geworden. Das ist aus der Entwicklungsphysiologie – naja, nicht gerade sehr bekannt, aber doch einigermaßen vorstellbar: Es wird langsam dunkel, und die Brüllaffen stehen vor dem Lichtschalter und schimpfen gegen die Dunkelheit und gegen alles, was ihnen sonst noch beifällt, dass sich die Balken biegen, anstatt einfach das Licht anzuzünden.

Wobei, ehrlich gesagt, wer mir in Sachen Europäische Union ein Licht anzündet, dem bezahle ich gerne ein Bier. Aber das ist ein anderes Kapitel.

Am Italiener und an der Italienerin manifestiert sich ebenso deutlich wie vorübergehend die Reaktion des sehr ungleichen Europas auf den Druck der afrikanischen Migration. Deutlich im Vokabular des Brüllaffen Salvini, dem zahlreiche Bestandteile der italienischen Bevölkerung applaudieren, weil er es endlich mal ausspricht, was die anderen politischen Kreise ständig unter den Teppich gekehrt haben, nämlich eben, dass es nicht eine Flüchtlings-, sondern eine Migrations­bewegung gibt, zu welcher sich der alte Kontinent durchaus zu äußern hat, zu welcher er eine Politik zu formulieren hat. Das haben die anderen unterlassen, weil sie schlicht überfordert waren, und wenn Salvini mit seinem Primatenlatein Erfolg hat, so hauptsächlich deswegen. Temporär ist das Phänomen der Brüllaffen in Italien deswegen, weil davon auf absehbare Zeit nicht viel mehr übrig bleiben wird als das, was vom Movimento Sociale Italiano, den früheren und echten Neofaschisten übrig geblieben ist. Ich erinnere immer wieder und immer wieder gerne daran, dass vor, was weiß ich, zwölf Jahren ausgerechnet Gianfranco Fini, der Chef der Neofaschisten, begonnen hat, von den Migranten als von Menschen zu sprechen, die ebenso gut Rechte haben wie die indigenen Italienerinnen und Italiener. Bald darauf gab es die klassischen Neofaschisten nicht mehr. Etwas in die Richtung wird sich auch mit der Lega ereignen, nicht mit dem Salvini, selbstverständlich, aber mit der Partei und vor allem mit ihrem aktuellen Bündnispartner, den fünf Sternen. Dem Italiener und der Italienerin ist das Mittelmeer und damit auch die Küsten auf der anderen Seite dieses Tümpels viel zu nahe, als dass man hier auf Dauer eine Mauer in den Köpfen errichten könnte. Und so wartet unsereiner halt darauf, dass sich auch diese Bewegung zutode läuft, dass der Dauer-Tourette auch dem Durch­schnitts-Italiener und der Durchschnitts-Italienerin zuviel wird.

Der politische Mensch sucht unterdessen nach einer halbwegs modernen politischen Bewegung, in Italien zum Beispiel in den Ruinen des Partito Democratico. Dieser ist zwar offenbar auch im Nachwuchsbereich gespalten zwischen jenen, welche einen radikalen Kurs fordern ohne jedes Paktieren mit den Eliten und anderseits jenen, welche das Land prag­ma­tisch erneuern möchten. Die ersteren, die linken Systemkritikerinnen und Systemkritiker, sind übrigens daran, eine neue Bewegung mit dem Namen Giacobini aufzubauen, wobei es sich allerdings schon wieder um eine Bewegung handelt, also um ein Gebilde, das angeblich hierar­chie­frei funktioniert, was zwar eine der Versprechungen der Kommunikations­technologien und der sozialen Netze war, sich aber als inhaltsleer erwiesen hat, siehe unter anderem die 5-Sterne-Bewegung, deren Gründer neuerdings wieder als Kabarettist durch die Städte tingelt, und das ist sicher kein Zufall. – Sei's drum, die Jakobiner werden wir im Auge behalten, nicht zuletzt darum, weil sie sich an US-amerikanischen Vorbildern orientieren, die wiederum Bernie Sanders als Vorbild haben, ihr Logo ist ein schwarzer Jakobiner, ein Rebell aus Haiti aus jener Zeit, als sich die Sklaven auf Haiti gegen die revolutionären Jakobiner aus Paris auflehnten. Und ihre Positionen – sind durchaus nicht sozialdemokratisch, sondern uralt. Armut bekämpfen, Medicare behalten, lauter solche ehrenwerte Dinge – aber so richtig tolle Antworten auf verschiedene Grundfragen auf institutioneller, technischer, migrationstechnischer Ebene haben die Jungs schon aus dem Grund nicht anzubieten, weil sie die Diskussion darüber gar nicht erst führen. Bernie Sanders löst alle Probleme. Bei aller Sympathie für den alten Haudegen: So etwas ist ganz einfach unfruchtbar.

Was die Aussichten für Italien angeht, so bleiben für mich die Fragen auf allen Ebenen unbeant­wortet. Der traditionelle, kleinteilige Bankensektor ist in weiten Teilen in sich zusammengestürzt. Die Großbanken Unicredit und Intesa San Paolo sowie die neue fusionierte Banco Popolare di Milano dagegen haben das letzte Geschäftsjahr sogar sehr gut abgeschlossen. Ist die italienische Industrie lebensfähig? Ich weiß es nicht. Die Einführung des Euro kam ja praktisch gleichzeitig mit dem Ende des konventionellen Industriezeitalters. Die Automarke Fiat hat sich mirakulöserweise erfolgreich geschlagen dank der Fusion mit Chrysler, aber auch hier sind in Italien immer wieder Staatsbeihilfen fällig. Sind die IT-Kapazitäten vorhanden? Der Dienst­leis­tungs­sektor, auch außer­halb der Städte? Die Statistik weist weiterhin Rekordwerte für die Arbeitslosigkeit von Personen unter 35 Jahren aus. Das mag damit zu tun haben, dass ein Teil bei den Eltern angemeldet ist und studiert oder mit was auch immer, aber von einer modernen und florierenden Volks­wirtschaft erwarte ich dann doch andere Angaben, sogar auf der Ebene der Statistik. Also, was haben wir hier? Ein Land, das tendenziell seine traditionellen Stärken in der Industrie und an den Universitäten verliert, oder einfach eines, in welchem sich sehr unterschiedliche Ent­wick­lungs­ge­schwin­digkeiten herausgebildet haben?

Na gut, im Moment machen wir uns eher Sorgen um die Zukunft von England respektive um die Art und Weise, wie die Insel den Abschied vom Festland vollzieht. Die Versuchung, den Briten eins ans Bein zu treten bei diesem eindeutigen Rückfall in eine nationale und nationalistische Vergangenheit, ist natürlich außerordentlich groß, und umso mehr muss der Kontinent bezie­hungs­weise muss die Europäische Union Größe zeigen und dafür sorgen, dass die Rechtssicherheit gewahrt bleibt und dass es nicht zu irgendwelchen Verheerungen kommt im Reich, nicht der Mitte, sondern des Randes. Zum einen können wir ja gar nicht zurück in die frühere Nationalstaatlichkeit, die auf der wirtschaftlichen Autarkie in den meisten Sektoren aufbaute. Und zum anderen wollen wir es auch nicht, auch wenn es nur aus volkspädagogischen Gründen wäre. Die Engländerinnen und Engländer sollten ebenso wie die Europäerinnen und Europäer bei Gelegenheit wieder mal zur Besinnung kommen und sich daran erinnern, woher die Idee eines geeinten Europas stammt, übrigens nicht nur eines geeinten Europas, sondern sogar einer geeinten Welt, damit dies auch wieder mal gesagt ist. Und man sollte bei all den nationalistischen Exzessen bei Gelegenheit auch wieder mal daran denken, wie selbstverständlich es für alle Menschen heute ist, ihre Wochenenden und auch ihre Wochentage in möglichst allen Ländern zu verbringen, zwecks Verbringens der Freizeit, aber auch zwecks des Arbeitens und zwecks was weiß ich sonst noch was. Statistisch gesehen sind die Menschen nicht nur auf Facebook vernetzt wie noch nie zuvor, sie sind auch tatsächlich in allen Städten der Welt zuhause. Das könnte von mir aus bei Gelegenheit auch ideologisch mal an die Oberfläche kommen.



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Albert Jörimann
02.10.2018

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