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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Exoskelette

Das Schauspiel auf der goldenen Insel Großbritannien macht Spaß, nicht nur, aber auch.



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> Download Die Tories sind heillos gespalten, aber doch nicht in einem Maß, dass sie ihre Partei grad ganz auflösen, vielmehr bildet die Parteimitgliedschaft das Exoskelett der kopflosen Krakeeler, nachdem sich das Endoskelett und darin vornehmlich das Rückgrat vollständig aufgelöst hat. Bei den Labourors ist man sich in Bezug auf ein Exoskelett nicht so sicher; Überreste von Rückgrat sind noch vorhanden, aber nicht alle Teile davon passen zusammen, und vor allem im Hinblick auf den 29. März haben die Korbiniane bisher durchaus keine kohärente Linie gefunden. Aber offenbar erachtet dies im ganzen Land niemand für notwendig oder wichtig, die scheinen vom Eindruck besessen, nach dem 29. März würde man sich einfach kurz schütteln, dann wäre alles wieder wie früher, und zwar sowohl in punkto Weltherrschaft als auch der wirtschaftliche Integration in Europa, abgesehen vom tiefen Frieden zwischen Irland und Nordirland. Na dann auch euch viel Vergnügen, geschätzte Insulanerinnen, wenn ihr euch in Zukunft jeden Morgen von Neuem überlegen müsst, wem ihr denn am aktuellen Tag den Regenschirm über die Dauerwelle ziehen wollt. Ich hoffe bloß, und zwar in eurem Interesse, dass die EU nicht auf den Vorschlag des österreichischen Staatenlenkers Kurz eingeht und die Leidensfrist um zwei Jahre verlängert – machen wir es kurz, hauen wir lieber das Bein ab, als uns die Zehennägel zu schneiden.

A proposito Irland und Nordirland: Ist es jetzt an den Haaren herbeigezogen, wenn ich hier eine Parallele sehe zu Israel und Palästina? Selbstverständlich kommt mir dies in den Sinn wegen der Meldungen über die Zunahme des Antisemitismus in Europa, und lange Zeit spielte die Frage, ob Israel eine zionistisch-imperialistische Macht sei und die Palästinenserinnen die Stellvertreterinnen für sämtliche autochthonen Opfer des Finanzkapitalismus auf der ganzen Welt, eine wichtige Rolle in der Antisemitismus-Debatte; man musste sich immer fragen, ob man mit der Kritik an Israel vielleicht nicht doch die Jüdinnenfresser oder Judenfresserinnen unterstütze. In diesem Punkt hat sich unterdessen etwas geändert: Im Zeitalter der sozialen Medien sind es nicht mehr Leute, welche die Palästina-Frage kritisch behandeln, die den Antisemitismus alimentieren, der alimentiert sich ganz von alleine. Das allerdings ist ein großes Rätsel, und ich denke, dass nur eine vernünftige Haltung, also eben: die kritische Auseinandersetzung sowohl mit dem Antisemitismus als auch mit Israel einen Weg bahnen kann durch das Gestrüpp von Meinungen und Tatsachen.

Die kritische Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus ist relativ einfach: draufschlagen. Zart begeistete Menschen mögen nach wie vor nach starken Erklärungen für alle Übel auf der Welt suchen, sie sollen dabei aber die Hände lassen sowohl von der christlichen Tradition der Pogrome als auch von der Nazi-Tradition der Ausrottung und neuerdings von den islamischen Radikalinskis, denen man in ihr historisches Gedächtnis hinein brüllen sollte, dass die Jüdinnen und Juden über Jahrhunderte hinweg im relativen Schutz der obersten weltlichen und geistigen Behörden der isla­mischen Welt lebten, zu Zeiten, als die Christinnen und Christen immer wieder die jüdische Bevölkerung auslöschten, zwangstauften und gegen sie hetzten, dass es einem auch heute noch die Schamröte ins Gesicht treibt: Was, von solchen rassistischen Hetzern beziehen wir unser Gedanken­gut? – Und ihr wisst schon, dass ich jetzt von Dr. Martin Luther spreche. Also, ihr Moslems, hopp der Besen, besinnt euch auf den toleranten Kern eurer Religion!

Auf unsere antisemitischen Neonazis dagegen wollen wir, wie gesagt, schlicht und einfach draufhauen, und zwar in erster Linie mit dem Mittel des Gesetzes, aber auch mit den Mitteln des Geistes, indem wir immer wieder wiederholen: Die Menschenrechte sind unteilbar, niemand darf aufgrund seiner Rasse oder Religion benachteiligt werden, das reicht schon mal fürs erste. Wir wollen dabei nicht außer acht lassen, dass die Antisemitinnen davon ausgehen, dass irgendwo im Sumpf des kollektiven Unter- oder Unbewussten eine Schicht lagert, welche sie insgeheim unterstützt und befürwortet – sonst hätten ihre Aktionen ja gar keinen Sinn. Die Existenz einer solchen Schicht zu bestreiten wäre nun völlig sinnlos – im kollektiven Unter- und Unbewussten lagert sämtlicher Giftmüll aus allen Zeiten ganz friedlich neben all den wunderbaren Errungen­schaf­ten der Zivilisation, das ist erstens eine Tatsache und zweitens später dann eine bloße Frage des Managements, und diese Managementfrage heißt eben gerade Zivilisation; wenn es den Individuen und der Gesellschaft insgesamt gelingt, einen Umgang zu finden mit den eigenen düsteren Seiten, und zwar einen unbedingt repressiven Umgang, dann kann sich eine freie Gesellschaft entwickeln; wenn die Gesellschaft aber toleriert, dass all die Schichten des Unter- und Unbewusstseins frei auf den Alleen der Gesellschaft spazieren gehen, dann müssen wir uns ein ähnliches Spektakel vorstellen, wie wir es im Moment in der englischen Politik beobachten. Im Kern ist so etwas nicht mal antisemitisch, der Kern besteht vielmehr darin, wie vierjährige Kinder eine besondere Vorliebe für Kaka und Pipi zu entwickeln und neben die Kloschüssel zu scheißen und zu pullern.

Soviel hierzu, und wie gesagt, die gesetzlichen Instrumente sollten grundsätzlich ausreichen, um auf die Nazis draufzuhauen; wo nicht, müssen halt Moralinstanzen der körperlichen Züchtigung eingerichtet werden, sofern sie nicht bereits existieren, zum Beispiel in den vehementesten Zweigen der Antifas, die man hierfür nicht genug loben kann.

Und jetzt tief Luft geholt und angesetzt zum Israel-Bashing. Nein, das lasse ich mal bleiben; es reicht die Feststellung, dass Israel einen aggressiven und zum Teil rechtsextremen Brückenkopf von Europa und den USA am Mittelmeer bildet, hochgerüstet von den Zehen- bis zu den Haarspitzen, was allerdings seine Gründe hat, wie man weiß. Die Komplizenschaft der Rechtsnationalisten rund um Bibi Netanjahu mit den antisemitischen Rechtsnationalisten in Ungarn und Polen dagegen ist ein Rätsel, dessen Lösung man auch in den Tiefen des Talmud oder der Kabbala wohl nicht finden wird. Daneben gibt es in Israel auch moderate Strömungen, die vielleicht bei den nächsten Wahlen sogar an die Macht kommen, während die sozialdemokratische und zum Teil sogar sozialistische Ideologie, welche in den Gründer­zeiten vorherrschte, praktisch ausgestorben scheint. – Das gilt übrigens genauso für die sozialistischen Bewegungen im arabischen Raum. – Es gibt nach wie vor starke Medien in Israel, eine unabhängige Justiz, staatliche und gesellschaftliche Organisations­prin­zipien, welche eindeutig modern sind, zum Beispiel in der Form regelmäßiger Prozesse gegen korrupte Minister und Regierungschefs und ihre Frauen, und neben dem permanenten Krieg an den Rändern und der Unterdrückung der Palästinenserinnen und dem anhaltenden Landraub und illegalen Siedlungsbau stehen gleichberechtigt all die Errungenschaften der Moderne, von welchen unzählige Araberinnen und Araber genauso profitieren wie die Israeli. In erster Linie ist Israel aber der perfekte Sündenbock für die moslemisch-arabische Liga, von welcher ich nicht im Traum erwarte, dass sie in den nächsten hundert Jahren auch nur einen ernsthaften Schritt in Richtung von Frieden und Ausgleich unternehmen wird. Die nationalen Regierungen mögen immer wieder Abkommen mit Israel schmieden wie Ägypten und neuerdings sogar Saudiarabien, es ist zum Brüllen komisch, aber in der Bevölkerung halten sie den Antizionismus am Glimmen und manchmal am Lodern. Das ist das Grundproblem, nicht jenes der palästinensischen Flüchtlinge; für diese kann man eine Lösung finden, ohne dass vierhundert Jahre verstreichen müssen wie im Fall von Irland und Nordirland. Natürlich nicht die Wiederherstellung des Zustandes wie vor hundert Jahren oder meinetwegen vor zweitausend, wie dies die Israeli als Legitimation für die Staatengründung manchmal angeben, aber Lösungen sind möglich, und zwar gute.

Gute Nachrichten für euren Verkehrsminister für einmal aus Frankreich: Ein Bericht über die Regionallinien der französischen Eisenbahnen empfiehlt, die Trassen umzubauen und als Buslinien zu nutzen, nachdem über Jahrzehnte hinweg keinerlei Investitionen getätigt wurden, weder in die Infrastrukturen noch ins Rollmaterial noch in Verkehrskonzepte auf der Grundlage der Eisenbahn. Andi Scheurer hat wohl ein Glückwunschtelegramm nach Paris gesandt mit der Empfehlung, auf diesen neuen Autofahrspuren keine Geschwindigkeitsbeschränkungen aufzustellen, dann würde auch er wieder die öffentlichen Verkehrsmittel benützen.

Was dagegen der Ausgang der Wahlen in Nigeria sein wird, lässt sich vorderhand noch nicht so genau bestimmen, wenn man die üblichen Zweifel und Vorwürfe einberechnet, wie sie in Schwarzafrika anlässlich von Wahlen jeweils auftauchen. Mit Veränderungen ist auf jeden Fall nicht weiter zu rechnen, mindestens auf der politischen Ebene, während Nigeria auf sozialer und wirtschaftlicher Ebene mit Sicherheit einer der dynamischsten Staaten auf dem Kontinent ist, wenn auch nach anderen Regeln als die, welche sich bei uns durchgesetzt haben. Im Kongo beginnen nach dem Ende der Wahl-Wirren heute Dienstag die Boxmeisterschaften, und zwar auf dem Bahnhofplatz von Kinshasa, und zwar beteiligen sich Boxer aus sieben Provinzen am Titelkampf. Letzte Woche ist der ehemalige Präsident Antoine Gizenga gestorben, und da seine Regierungszeit mehr als zehn Jahre zurückliegt, loben ihn alle Parteien in den höchsten Tönen. Felix Tshisekedi entsendet politische Friedensmissionen in die entlegenen Provinzen, Joseph Kabila ruft seine Anhänger zur Arbeit im Interesse der Bevölkerung auf, mit anderen Worten, in Afrika alles wie gehabt. Von Michaela Rugwizangoga aus Rwanda habe ich keine Neuigkeiten, aber auf dem Internet habe ich einen Artikel der taz gefunden vom Juni 2018 zur Eröffnung der kleinen VW-Montageeinheit, welcher Frau Rugwizangoga vorsteht, und der Artikel beginnt so: «Ein Mann wischt mit dem Taschentuch noch einmal den Staub vom Logo, wenige Minuten bevor Ruandas Präsident Paul Kagame eintrifft.» Was mit einer solchen journalistischen Brillanz und Verve beginnt, man fühlt sich an den Spiegel aus den Zeiten vor Relotius erinnert, geht mit ganz vernünftigen Ausführungen über den Verkehrskollaps in Kigali weiter und über den Plan, im erwähnten VW-Werk ein paar Fahrzeuge zu montieren, deren Einzelteile per Post von Daressalam gesendet werden und die anschließend vor allem als Taxis dienen sollen. Zudem erspart die Endmontage in Kigali die Einfuhrzölle; und schließlich will Rwanda bei Gelegenheit die Einfuhr von Gebrauchtwagen verbieten, was per Saldo auf eine echte Lex VW herauslaufen täte. Das freut am Rande sicher auch euren Verkehrsminister, auch wenn der lieber BMW und Audi in Rwanda sähe als VW, aber die sind dann vielleicht doch zu teuer.



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Albert Jörimann
26.02.2019

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