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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Der phänomenale Nummer-1-Bestseller der Sunday Times

Duluth kannte ich bisher nur aus der ersten Staffel von «Fargo», der von den Gebrüdern Cohen produzierten, außerordentlich direkten und lustigen Serie über das Verbrechen und seine Bekämpferinnen im Norden der Vereinigten Staaten von Amerika. Jetzt lese ich in einem Artikel, dass die Stadt am Lake Superior zum Ziel von reichen Klimaflüchtlingen wird, die es in Kalifornien nicht mehr aushalten – zu viel Feuer, zu viel Rauch, zu wenig Luft und Sonne.



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Am Lago Maggiore lässt sich der Klimawandel besser aushalten, vielleicht rutschen die Westküsten-Milliardäre später noch etwas weiter nach Norden an die Hudson Bay, wenn man dort dann auch im Winter baden kann, mindestens in Neopren-Anzügen. Ebenfalls in der Zeitung habe ich gelesen, dass die große Korallenbleiche am Great Barrier Reef vor Australien nicht mehr aufzuhalten sei; die Hälfte dieser Farbkrustenwesen sei schon tot, und die andere Hälfte befinde sich im letzten Stadium, da die Meerwasser-Temperaturen dauerhaft zu hoch seien. Da ich den Systemmedien, welche ich jeweils mit dem Begriff sozialdemokratischer Medienkonsens bezeichne, nicht zum Vornherein traue, wie alle vernünftigen Menschen, stelle ich mir die Frage: Kann das sein? Und die Antwort lautet: sehr wahrscheinlich schon. Ich werde aber so oder so keine Expedition nach Australien ausrüsten, welche die Frage vor Ort klären kann, sondern mich tatsächlich auf die Systemmedien verlassen; im Gegensatz zu verschwörungstheoretischen und rechtsextremen und sonstwie behämmerten Echo­räumen für Blödsinn aller Sorten sind die Systemmedien nämlich der öffentlichen Kontrolle ausgesetzt und können sich die Verbreitung von Lügen und Falschmeldungen gar nicht leisten. Dass damit immer noch genug Handlungsspielraum für Allotria auch bei den Systemmedien offen bleibt, muss man sich nicht von der Bild-Zeitung bestätigen lassen, das ist dann auch wieder klar.

Die Klimaerwärmung ist mit anderen Worten ebenso offensichtlich wie der Unwille, etwas dagegen zu unternehmen. Das ist etwas erstaunlich, denn der Kapitalismus selber oder wie auch immer man dieses sehr späte Entwicklungsstadium eines ehemaligen Kapitalismus und Imperialismus bezeich­nen will, hätte doch jedes Interesse daran, alle Energien, sprich einen ansehnlichen Anteil des vor­handenen und oft brach liegenden Kapitals in die Bekämpfung der Klimaerwärmung zu werfen. Elektromobilität ist ein offensichtliches Stichwort, damit verbunden sind Netze und Speicher­me­dien, aber die Sache geht viel weiter und lässt mich die Aussage wagen, dass im Moment ein grüner Kapitalismus das einzige längerfristige Renditeversprechen bietet. Natürlich ist mir klar, dass damit eine grausame Umstülpung verschiedener Grundmechanismen auf globaler Ebene verbunden ist, namentlich in den beiden Trägerbereichen Automobilität und Energie. Nebenbei geht es aber auch um die Regulierung der Produktion als solcher. Die Welt produziert ja nicht nur Nahrungsmittel für 12 Milliarden Menschen und lässt gleichzeitig 100 oder 300 Millionen Menschen jährlich an Hun­ger sterben; sie produziert auch Bekleidung für 24 Milliarden, Plastikspielzeug für 48 Milliarden Kinder, Schweinefleisch für 220 Millionen Deutsche und so weiter, man muss richtiggehend froh sein um produktive Bereiche, welche zum Vornherein nicht dergleichen tun, als würden sie irgend­welche Bedürfnisse befriedigen, sondern im Gegenteil deren Vernichtung zum Zwecke haben, also die globale Rüstungsindustrie. Im Jahr 2018 wurden gemäss dem Stockholm International Peace Research Institute SIPRI 1.822 Billionen US-Dollar für Rüstungsgüter ausgegeben; das weltweite Bruttoinlandprodukt betrug 85 Billionen US-Dollar. Im direkten Klimatreiber-Sektor Verkehr und Energie lauten die Zahlen dagegen wie folgt: Rund 100 Mio. Automobile wurden hergestellt, was bei einem Stückpreis von 20'000 Dollar ungefähr die gleiche Summe ergibt wie die Rüstungs­güter. Der weltweite Erdölverbrauch liegt bei gut 50 Milliarden Barrel, was je nach Preis zwischen 1.5 bis 5 Billionen US-Dollar ausmacht. Wollte man also sämtliche direkt Treibhaus-wirksamen Ausgaben in die Rüstung verlagern, dann müssten die entsprechenden Investitionen um das Drei- bis Fünf­fache steigen. So sieht es nämlich aus, geschätzte Hörerinnen und Hörer, Aufrüsten gegen den Klimawandel ist angesagt. Die meisten Staaten sind sich ihrer Verantwortung bewusst, so auch Schweden, das sein Automobilgeschäft an die Chinesen verscherbelt hat und jetzt eben das Verteidigungsbudget erhöht.

Letzte Woche habe ich aufs Geratewohl ein Buch gekauft, das mir Aufklärung über Geopolitik versprach, es trägt den Titel «Prisoners of Geography» und wird als Nummer-1-Bestseller der Sunday Times angepriesen. Bei der Sunday Times und der ihr beigeordneten Tageszeitung The Times handelt es sich ebenfalls um Systemmedien, aber nicht um welche des sozialdemokratischen Medienkonsens, sondern um welche des Systems Rupert Murdoch – ihr erinnert euch vielleicht noch an die News Of The World, die vor bald 10 Jahren nach einem Abhörskandal eingestellt wurden, nachdem sie jahrelang Auflage gemacht hatte mit Kampagnenjournalismus im Stil der Bild-Zeitung, nur noch etwas radikaler im Sinne der reaktionären Murdoch-Ideologie und zuguns­ten der konservativen Tories in England. In spezieller Erinnerung ist mir Frau Rebekka Brooks, die Chefredakteurin, welche mit David Cameron ausgeritten war oder auf oder unter ihm herum, ach, ich weiß es schon nicht mehr so genau, jedenfalls wurde Frau Brooks verurteilt respektive freige­sprochen und 2015 zum CEO News UK ernannt. Mit anderen Worten: Es war nicht gerade die feinste Referenz, die mich zum Kauf dieses Buches bewegte, und als ich dann auch noch sah, dass Sir John Scarlett KCMG OBE, von 2004–2009 Leiter des MI6, ein Vorwort dazu verfasst hatte, war mir klar, dass es sich hier um weitgehend unbrauchbare Schmonzetten aus dem Gruselkabinett der britischen Propagandamaschine handelt. Das World Factbook der CIA ist im Vergleich dazu eine Trutzburg der Wissenschaftlichkeit. Trotz allem habe ich mich an die Lektüre gemacht und wieder einmal erfahren, dass Russland geo- oder kontinentalpolitisch vor allem das Einfallstor der kontinentaleuropäischen Flachebene durch Polen zu fürchten hat, zum einen, dass der Osten einigermaßen ungefährdet, weil unwegsam ist, im Norden die Meereshäfen so oft zugefroren sind, dass man dort keine echten Flottenstützpunkte errichten kann, womit neben dem übrigens kaum erwähnten St. Petersburg eigentlich nur noch Sewastopol im Schwarzmeer übrig bleibt, Wladiwostok liegt auch oft unter einer dicken Eisdecke. Damit sind die geopolitischen Pflöcke der russischen Außenpolitik auch schon eingeschlagen. China hat dagegen praktisch überhaupt keinen Weltmeer-Zugang, da vor seinen Küsten die Japaner und weitere Inselstaaten einen ziemlich effizienten Schutzwall bilden, einmal abgesehen von relativ skeptischen Nachbarn wie Vietnam sowie den US-Alliierten in Indonesien und auf den Philippinen, welche die Passage in den indischen Ozean militärtechnisch versperren. Jaja, da war in China dann noch die Rede vom Hindukusch beziehungsweise von Tibet, welches der Chineserer einfach besetzt halten muss, damit von den Höhen des Himalaja keine Bedrohung herabrollt wie eine Steinlawine, und so weiter und so fort.

Viel weiter bin ich noch nicht gekommen, und ich weiß auch nicht, ob ich mir die Mühe noch nehmen werde weiterzulesen, aber eine Passage hat mich vorübergehend aus dem Lesedämmer geweckt, nämlich eine Meldung von einer gemeinsamen chinesisch-russischen Marineübung im Jahr 2015 – im Mittelmeer. Hoppla!, dachte ich mir, was sucht der Chineserer denn im Mittelmeer? Vom Russen ist mir bekannt, dass er neben den Schwarzmeer-Stützpunkten den Hafen im syrischen Tartu betreibt, aus welchem ihn der US-amerikanische Präsident Obama vor neun Jahren vermittels der unabhängigen syrischen Befreiungsarmee drängen wollte, was aber in die Hosen ging, wie man sich erinnert. Aber der Chinese? – Und dann fand ich auf dem Internet ein weiteres Dokument von einem Herrn Doktor Michael Paul von der Stiftung Wissenschaft und Politik, in welcher dieser über die Anstrengungen Chinas berichtet, auch auf den Weltmeeren zu einer Weltmacht heranzureifen vermittels des Baus einer unendlichen Anzahl von Kriegsschiffen – vor etwa einem Jahr waren es über 300 Stück im Vergleich zu den 270–290 der US-Marine, und geplant ist der Ausbau auf 450 Kriegsschiffe und 99 Unterseeboote bis im Jahr 2030. Das ändert zwar nichts im beschränkten Zugang Chinas zu den Weltmeeren; es braucht Marinebasen, die man zum Beispiel in Afrika relativ günstig erhält, in Havanna auf Kuba sind vielleicht neben den Investitionen in die Fracht­umschlag­anlagen auch ein paar militärische Komponenten dabei, auch in Lateinamerika würden sich ein paar Bauunternehmen und Regierungen sicher über entsprechende Investitionen freuen, aber es ist nicht auszuschließen, dass die US-Amerikaner da ihr Veto einlegen. Herr Paul berichtet in diesem Bericht auch ausführlich von den gemeinsamen russisch-chinesischen Marinemanövern mit einer schönen Tabelle für die Jahre 2012–2019, wobei ich damit insofern nicht viel anfangen kann, als ich keinen Vergleichswert habe, zum Beispiel mit den Turnübungen der US-amerikanischen Marine in den verschiedenen Weltgegenden, in denen sie aktiv ist. Abgesehen davon erscheint mir der angestrengte Bau von Kriegsschiffen sowieso einigermaßen fragwürdig, kann man solch ein Schiff heutzutage doch mehr oder weniger per Knopfdruck vom Meer wegputzen, egal, ob mit einer Drohne oder einem Cruise Missile oder vielleicht tatsächlich demnächst mal mit einer Laserwaffe aus einer niedrigen Erdumlaufbahn; im Moment sind die dort oben stationierten Geräte wohl noch eher der Aufklärung und vielleicht für die Störung der Kommunikationsmittel dienlich als direkt als Waffensysteme, aber so weit kenne ich mich dann auch wieder nicht aus.

Sehr lustig, all dies, lustig übrigens auch trotz allem der Hinweis aus dem erwähnten Buch, dass im Osten Russlands einerseits die Bevölkerung abnimmt wie fast überall im ganzen Territorium, dass anderseits aus dem Süden immer mehr chinesische Wirtschaftsmacht hereindrängt in das Land in der Form von Handelsunternehmen, aber, wer weiß, vielleicht demnächst bald auch einmal von Produktionsstandorten. Dass Tim Marshall in solchen Aktionen immer die Vorbereitungs­hand­lungen für eine spätere mögliche Annexion durch China sieht gemäß dem expansiven Prinzip, dass China einen Anspruch auf die Verteidigung der chinesischsprachigen Bevölkerung erhebt, wo auch immer sie sich befindet, also zum Beispiel auch in Kalifornien oder eben demnächst in Duluth, versteht sich von selber. (Das Gleiche gilt laut Tim Marshall selbstverständlich auch für Russland.) Aber auch wenn man dies mal beiseite lässt, so enthält die russisch-chinesische Kooperation, welche beileibe nicht nur eine militärische ist, doch einige durchaus interessante Aspekte, deren Studium ich der Stiftung Wissenschaft und Politik schon jetzt ans Herz lege – ich werde die entsprechenden Veröffentlichungen sicher mit größerer Aufmerksamkeit lesen als den phänomenalen Nummer-1-Bestseller von Rupert Murdochs Bestsellerliste.


Hier findest du alle Kolumnen von Albert Jörimann von 2007 bis heute.

Albert Jörimann
20.10.2020

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