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Aus neutraler Sicht von Albert Jörimann "Nochmals Bolanos"

[31. Kalenderwoche]
Manchmal – nein, eigentlich nicht. Nicht manchmal. Im Grunde genommen ist es nie.Ich habe praktisch nie den Eindruck, dass die Überlegungen, welche ich in diesem Sender anstelle, bis nach Berlin vordringen.



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Aber als ich euren Wirtschaftsminister Rösler sah, wie er die deutsche Industrie dazu anhielt, in Griechenland Investitionen zu tätigen, da dachte ich: Gut gesprochen, Philipp, bist ein sympathischer Junge. Für mich eher frustrierend war die Einsicht, dass Rösler in seinem Zuständigkeitsbereich ungefähr die gleichen Forderungen oder Aufforderungen formulierte wie ich im meinen; frustrierend ist dabei, dass solche Schlüsse offenbar derart unübersehbar auf der Hand liegen, dass sie sogar der Wirtschaftsminister aufgreifen kann, sodass ich sie im Prinzip gar nicht als meine eigenen ausgeben dürfte. Wo liegt das Urheberrecht?, ich möchte hier nämlich nicht auch in die Plagiatsmühle hinein geraten, wenn es hier auch nicht um einen akademischen Titel geht, aber doch immerhin um Objektivität und vor allem Neutralität. Ich entschuldige mich hiermit und bitte das Hör-Publikum, sich eine tiefe Verbeugung vorzustellen, während ich einen gefiederten Hut vom Kopf reiße und im großen Bogen mit verdrehtem Arm in die Höhe halte. Kopf unten, Hut oben. So kann das gehen. Und zum Beweis meiner ewigen Unabhängigkeit schiebe ich sogleich nach: Ich hoffe bloß, dass Philipp Rösler nicht etwa jene Unternehmen gemeint hat, die nach Griechenland exportieren und wegen der klammen Finanzlage um ihre Rechnungen bangen müssen. So einem Wirtschaftsminister ist alles zuzutrauen, auch dass er Investitionen mit Exporten kurzschließt, um einerseits für die Öffentlichkeit das Richtige gesagt zu haben und gleichzeitig seine Klientel befriedigt zu haben. Ich denke dabei zum Beispiel an Solaranlagen für Klein¬ins¬tal¬la¬tionen, einen Bereich, in dem sich die deutsche Industrie unterdessen auszeichnet, was ich hier übrigens keineswegs madig machen will, im Gegenteil, aber für den Fall Griechenland kann man die beiden Strategien hier besonders schön aufzeigen: Im einen Fall sorgt sich der Bundes-Wirt¬schafts¬minister darum, dass die deutsche Herstellerfirma, welche zwei Drittel ihrer Komponenten übrigens in China, Vietnam und Weißrussland produzieren lässt, weiterhin oder noch verstärkt in das sonnenüberflutete Griechenland liefern kann, und im anderen Fall ruft der Bundes-Wirt¬schafts¬mi¬nis¬ter diese Firma dazu auf, in Griechenland selber ein Werk aufzubauen, in welchem diese Anlagen selber produziert werden. Da die deutsche Wirtschaft ohnehin im Rufe steht, ihre Wett¬be¬werbs¬position mit nicht immer fairen Mitteln und um jeden Preis auszubauen, denkt der durch¬schnitt¬liche Schuft spontan an die erste Variante, die im Übrigen auch perfekt ins Szenario des neuen Nationalismus passt. Aber ich gehe jetzt mal davon aus, dass Philipp Rösler durchaus von der zweiten Möglichkeit gesprochen hat, welche auf eine etwas weiter entwickelte Art ebenfalls mit dem deutschen Nationalismus vereinbar ist. Und überhaupt: Steht nicht in Ottobrunn bei München das berühmte Otto-Museum, in welchem dem für 30 Jahre König von Griechenland Otto dem I. von Bayern gehuldigt wird? – Na also!

Nehmen wir an, der Wirtschaftsminister hätte das verlangt, was man vernünftigerweise von der Industrie an Griechenland-Engagement verlangen kann und muss, und dass er dies mit halbwegs öffentlichem Trari und Trara getan hat, kann man ihm durchaus nicht vorwerfen, im Gegenteil, es geht eben auch um die öffentliche Meinung, und dieser gegenüber hat Rösler wohl die richtigen Worte gefunden. Überhaupt ist es eine Wohltat, nach dem wirklich aus allen Kriterien hinaus gefallenen Westerwelle auch in der FDP wieder mal einen unbelasteten und einigermaßen vernünftig argumentierenden Menschen am Werk zu sehen; man muss ja mit seinen Argumenten durchaus nicht einverstanden sein, aber er macht immerhin den Handwerker, nämlich den Minister, und nicht den Clown, den Propagandafritzen und den Elder Statesman gleichzeitig. – Damit dies auch mal gesagt ist, und gleichzeitig halte ich auch fest, dass ich mir keineswegs sicher bin, ob Rösler programmatisch eher in die sozialliberale oder in die neoliberale Richtung zielt oder ob er programmatisch sowieso kein Programm hat, ich wollte auf jeden Fall nicht dazu aufrufen, etwa FDP zu wählen, bewahre. –

Während also die Griechen weiter herum trudeln und immer noch nicht ihre 50% oder 60% der Staatsangestellten entlassen haben – das hätte Rösler übrigens von mir abkupfern können –, steckt die Türkei offensichtlich im 4. Akt ihrer Staatskrise beziehungsweise der Transformation von einem osmanisch bestimmten Staatswesen mit einer undurchdringlichen Elite aus Ministerialbeamten, hohen Militärs und Bankiers und Unternehmen, welche den Staat und die Wirtschaft und damit mehr oder weniger das gesamte Land fest im Griff haben, zu einem modernen Staat sozial¬demo¬kra¬tischer Gestalt. Der Rücktritt der gesamten militärischen Führung ist einerseits ein schlagender Beweis dafür, dass Tayyip Erdogan und der George-Clooney-Klon Abdullah Gül bisher mit gewaltigem Erfolg gearbeitet haben; anderseits muss man davon ausgehen, dass in diesen Tagen oder Wochen der letzte Gegenschlag des alten Filzes erfolgen muss, wenn er überhaupt noch erfolgen will. Ich kenne die Verhältnisse innerhalb des Militärs überhaupt nicht; höchstens kann ich annehmen, dass eine offene Revolte nicht nach dem Rücktritt, sondern unter Leitung der aktuellen Führung erfolgen hätte müssen. Vielleicht vollzieht sich hier nur noch in der Öffentlichkeit, was in der Praxis bereits eine gut verankerte Realität ist. Memorabel ist dieser Schritt nichtsdestotrotz, und ich wünsche dabei viel Erfolg. – Letzte Woche habe ich übrigens einen alten Kollegen wieder getroffen, der vor ein paar Jahren zurückgezogen ist in die Türkei, konkret nach Kleinasien bzw. an die türkische Ägäis-Küste. Jetzt arbeitet er wieder in Zürich. Es sei nicht mehr wie früher, hat er gemeint, in der Türkei zähle heute nur noch das Geld. Ein anderer Kollege dagegen hat vor ein paar Jahren ein Miethaus gebaut und lebt jetzt von den Mieteinnahmen und lässt es sich gut gehen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich aus diesen zwei Momentaufnahmen tiefere Schlüsse ziehen kann; vielmehr bleibe ich bei meinen bewährten Vorurteilen, welche bezüglich der Türkei seit einiger Zeit grundsätzlich positiv aussehen, bei allem, was da noch zu tun bleibt.

Daneben hatte ich an dieser Stelle mal von jener Passage aus dem Roman 2666 von Roberto Bolaños gesprochen, in welcher der Kollege ich weiß nicht wie viele Dutzend Frauenmorde in Santa Teresa in Mexiko referiert; ich versuchte zu erklären, weshalb mir diese Aufzählung weitgehend gleichgültig blieb, was von Bolaños vielleicht sogar beabsichtigt war, aber mit den Morden blieb mir eben die gesamte Passage gleichgültig, und das kann nun auch der beste Schriftsteller nicht wollen. In der Zwischenzeit habe ich trotzdem weiter gelesen, denn 2666 besteht eigentlich aus drei Romanen, obwohl die Kritik manchmal von fünfen spricht, aber es sind im Wesentlichen drei, und der dritte Teil hat mir zunächst am besten gefallen, nämlich geht es da zu Beginn um ein seltsames deutsches Kind in einem seltsamen Deutschland, in welchem beispielsweise Preußen als eine untergegangene Insel dargestellt wird und in dem die Dörfer Namen haben, das Dorf der Roten Männer, das Dorf der Blauen Frauen, das Dorf der Dicken, das Eierdorf, welches sich mit jedem Jahr weiter von der Küste entfernt, als würden seine Häuser sich selbständig machen, das Schweinedorf oder das Dorf der geschwätzigen Mädchen. Hans Reiter ist der Name des Kindes, 1920 geboren, und Bolaños schreibt: «Er sah nicht aus wie ein Säugling, sondern wie eine Alge», und er beschäftigt sich denn konsequenterweise auch in erster Linie oder überhaupt ausschließlich mit den Tier- und Pflanzenarten an Europas Küsten. Hier fabuliert Bolaños herum, dass es eine Lust ist; zum Teil erinnerte mich das an den Anfang der «Blechtrommel», bloß ist es ernorm viel bunter. Dann haut es den Reiter in die Wehrmacht und in derselben nach Frankreich und an die Ostfront, und hier verliert sich dann die erste Sorte von Fabulieren und macht einer zweiten Platz, dem naiven Herumstolpern in verschiedenen europäischen Weltgegenden; zum Teil kommen weit schweifende Exkurse dazu, welche mich wiederum an Wladimir Sorokin erinnern, nicht zuletzt deshalb natürlich, weil sie in der Sowjetunion spielen, und dann mündet die Geschichte mit dem Kriegsende in den normalen Erzählfluss eines normalen Romans mit amerikanischen Leutnants und Beziehungen und so weiter. Da kann man nichts machen, aber zu jenem Teil, der während der Nazi-Zeit spielt, möchte ich doch noch anmerken, dass ich kaum einmal einen Erzähl-Ansatz zu dieser Epoche gesehen habe, über dem der Himmel derart frei war von Schicksal und Verdammnis. Reiter zieht durch Osteuropa ähnlich wie der Simplicissimus von Grimmelshausen durch den dreißigjährigen Krieg, also mehr oder weniger behämmert, unfähig, sich auf die menschliche Dimension des Krieges als solcher einzulassen; etwas Ähnliches hat vielleicht Brecht im Stück «Schwejk im Zweiten Weltkrieg» versucht, aber ansonsten ist der Ablauf und der Ausgang von deutscher Literatur, welche sich mit dieser Zeit beschäftigt, immer schon zum Vornherein streng ritualisiert festgelegt und mit einem riesigen Rucksack, ja mit einem ganzen Berg an Schuld bepackt. Das hat denn auch prompt die deutsche Nachkriegsliteratur über weite Strecken unleserlich gemacht, diese drückende Last, unter welcher sich einfach weder Poesie noch Ästhetik entwickeln konnten. Vielleicht braucht es dafür tatsächlich den unabhängigen Blick eines chilenisch-spanischen Autors; mich aber hat dies richtig befreiend angemutet.

Ganz und gar nicht dieser Belastung entronnen ist dagegen ein anderer Autor, den ich mir zufälliger¬weise in den Ferien vorgeknöpft habe, bei dessen Lektüre ich aber genau wegen des dauernd lastenden und dräuenden Schuld-Bergs immer wieder ins Stocken gerate, und zwar handelt es sich um ein ostdeutsches Gewächs, konkret um das Buch «Die Stille» von Reinhard Jirgl. Der Junge kann etwas, das merkt man sofort, auch wenn der Einsatz bzw. der Ersatz der drei Buchstaben e, i und n, also ein oder manchmal noch mit s, also eins, durch die Zahl eins ganz offensichtlich weder planmäßig noch mit irgendwelchen Absichten erfolgt, also rein manieristisch genannt werden muss, was angesichts der sprachlichen Fähigkeiten des Herrn Autors absolut überflüssig erscheint; aber vor allem hängt das Bewusstsein irgendeiner Schuld oder überhaupt sämtlicher Schulden des deutschen Volks und des deutschen Ich-Erzählers über den Seiten wie ein niemals sich auflösender Wolkenhimmel, und das halte ich für unerträglich. Nicht, weil es so etwas nicht geben könnte, sondern weil sich Jirgl damit ganz klar und eindeutig dem Duktus der westdeutschen Nachkriegs-Literatur unterwirft, wobei es ihm selbstredend nicht schwer fällt, die Perpetuierung der Nazi-Herrschaft durch die SED-Herrschaft unter den gleichen Schuld-Deckel zu fassen. Dass die kollektive Schuld sich wie im kleinen ABC des deutschen Nachkriegs-Literaten auch in der individuellen Schuld exprimieren muss, versteht sich von selber, und hier handelt es sich konkret um ein Kind, das der Protagonist seiner jungfräulichen Schwester gemacht hat anlässlich des ersten Ehestreits mit seiner ungefähr im gleichen Monat geschwängerten Frau – mein Herr, bei allem Respekt für die literarischen Qualitäten, die man sich übrigens offenbar auch in technischen Berufen aneignen kann, wie ich nicht ohne Vergnügen feststelle, ist eine solche Schuld- oder Gewissens- oder Über-Ich-Literatur trotz der ästhetischen Handfertigkeit für mich und 25 Jahre nach dem Tod von Heinrich Böll einfach nicht mehr auszuhalten.





Albert Jörimann

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Albert Jörimann
02.08.2011

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