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Aus neutraler Sicht von Albert Jörimann "Atomenergie"

[21. Kalenderwoche]
Am Wochenende hab ich mich mal wieder zu einer Anti-AKW-Demo aufgerappelt, was tut man nicht alles für den inneren Frieden.



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10 km weit gings durch blühende Landschaften, an den Weg- und Waldrändern und unter den Bäumen lagerten überall Menschengruppen, und wenn die Veranstalter beim Abmarsch darauf hingewiesen hatten, dass ein striktes Vermummungsverbot herrsche, so war das etwas übertrieben, indem die Tendenz eher in Richtung FKK ging. Es war jedenfalls ein ziemlich idyllischer Spaziergang zum Fest- beziehungsweise Demonstrationsgelände, und daran konnte auch die Tatsache nichts ändern, dass die lokale Bevölkerung keinen Sparren Verständnis für die AKW-Gegner aufbringt, die hängen nämlich mit ihren Arbeitsplätzen und den Kommunalfinanzen am Atomstrom und sind aus absolut verständlichen, existenziellen Gründen darauf angewiesen, an die Sicherheit der Atomenergie zu glauben, und zwar auch dann noch, wenn ihnen die Brennstäbe um die Ohren fliegen. Da und dort rannte die Dorfjugend um die Ecken mit selbst gebastelten Papp-Plakaten, auf denen stand: Ja zum Atomstrom! Mehr AKW! Viel mehr AKW!, und mit einiger Wahrscheinlichkeit war man sich in den Dorfkneipen einig darüber, dass jetzt der richtige Zeitpunkt gewesen wäre, eine Atombombe auf die beiden Atommeiler Beznau I und II herabzuwerfen, dann hätten die AKW-Gegner mal nämlich ihre Strahlung abbekommen, ein für allemal. Ja, so ist das in unserem schönen Kanton Aargau, dem Gast- oder Standortkanton für volle vier von insgesamt fünf AKWs in der ganzen Schweiz. Und mitten drin, auf einer Wiese zwischen Beznau I und II sowie dem AKW Leibstadt, etwa 15 km von der deutschen Grenze entfernt, saßen, lagen und standen zwischen 20'000 und 30'000 AKW-Gegner herum, die genaue Zahl ist etwas schwierig anzugeben, weil die ersten schon wieder abzottelten, als die letzten noch gar nicht eingetroffen waren. Besonders erfreulich fand ich, dass praktisch keine Schweizer Fahnen mitgeführt wurden; hier wäre ein nationalistischer Diskurs ziemlich absurd, obwohl es nach wie vor die Nationalstaaten sind, die ihre eigene Atom- und Energiepolitik beschließen, was man im Fall von Frankreich als eher unglücklich bezeichnen muss, während sich Deutschland immer mehr von seiner allerschönsten Seite zeigt, nicht zuletzt durch die durchaus epochalen Gewinne der Grünen als Anti-AKW-Partei in den letzten Wochen. Selbstverständlich spielt dabei der Fukushima-Effekt eine Rolle, sowohl bei dieser Anti-AKW-Demo als auch bei den Wahlen im Schwabenland und in Bremen, aber wie sollte er auch nicht? Es ist nun mal eine Tatsache, dass die absolut sichere und zuverlässige Atomtechnologie diesmal in einem technologisch hoch entwickelten Land geplatzt ist, dass der Betreiber jetzt Dutzende Milliarden an Staatsgeldern erhält und dass er selbstverständlich mit keinem müden Yen für die Folgekosten der Havarie haftbar gemacht wird, das heißt, der Staat finanziert nicht nur dem AKW-Betreiber sein Überleben, sondern er kommt auch für alle Schäden auf. So sieht diese Technologie aus, und das Traurige ist nur, dass sich zu den seit über 50 Jahren bekannten theoretischen Einwänden bezüglich der Giftigkeit und der absurden Halbwertszeiten der Abfallprodukte immer wieder auch praktische Katastrophen gesellen, sei es in den End- oder Zwischenlagerstätten für radioaktiven Müll oder eben in den Kraftwerken selber. Jetzt hat man wirklich den Eindruck, als hättet Ihr in Deutschland etwas gelernt aus der ganzen Affäre, mehr noch: Als sei die jetzige Regierungskoalition die historisch genau richtige, um mit dem Krempel Schluss zu machen. Unter der rot-grünen Regierung, welche bei der Energieversorgung eher auf Erdgas als auf AKW setzte, lagen die Verhältnisse noch deutlich anders; da konnte sich die Elektrizitätslobby auf ihre CDU verlassen, die jetzt aber unter dem Druck von Fukushima zur gefährlichsten Waffe der Kernkraftgegner geworden ist. Ein Hoch auf Kanzlerin Angela die I.!

Ich weiß, man sollte so was nicht laut sagen, denn man läuft Gefahr, dass sich die Gegner und Intriganten erst recht formieren, wenn so was in der Öffentlichkeit Form annimmt, aber ich kann Euch beim besten Willen nicht schelten dafür, dass Ihr bzw. die Bundesregierung hin und wieder die richtigen Entscheide fällt. Die praktische Kritik erfolgt dann wohl an der Urne, wenn nämlich die CDU tatsächlich im ganzen Land aus den Regierungen fliegt und überall rot-grüne Mehrheiten installiert werden; dann wird sich die CDU wieder auf ihre ursprüngliche Rolle als wichtigste Ver¬tre¬terin der Interessen des Großkapitals besinnen. Ob Frau Merkel dabei weiterhin den Parteivorsitz halten kann, erscheint auf den ersten Blick als unwahrscheinlich; anderseits muss sie ein gutes Macht¬gespür haben, sonst wäre sie kaum dort, wo sie ist, und mit solch einem Machtgespür gelingt vielleicht auch diese Volte. Dann werde auch ich in meiner Beurteilung von Angela Merkel voltigieren, aber fürs erste bleibe ich bei meiner Lobpreisung beziehungsweise Einschätzung von Frau Merkel als der besten sozialdemokratischen Kanzlerin, die Deutschland seit Helmut Kohl hatte. Diese Einschätzung wird übrigens seit mehr als einem Jahr nun auch von den übrigen politischen Kommentatoren geteilt, sodass ich mich sowieso aufmachen kann, um mir eine neue Meinung zu bilden.

Ja, wozu soll ich mir eine Meinung denn sonst noch bilden? Etwa dazu, dass jetzt die polnischen MiteuropäerInnen beginnen, entlang gewissen Teilen der deutsch-polnischen Grenze Immobilien im ehemals ostdeutschen Grenzland aufzukaufen? Dazu habe ich gar keine Meinung, das löst bei mir bloß ein leises, aber durchaus glückliches Glucksen aus. Das ist Europa von seiner schönen Seite, finde ich, ein Beweis dafür, dass sich die Wohlstandsgrenze tatsächlich nach Osten verschiebt, so wie in China die Armutsgrenze nach Westen wandert. Da die Geschwindigkeit aber sehr unterschiedlich ist, das heißt, die Armutsgrenze in China verlagert sich um 100 bis 150 km pro Jahr, während die Wohlstandsgrenze für 150 km rund 10 Jahre benötigt, werden sich die beiden in rund 30 Jahren in der Region Minsk treffen oder am Aral-See. Diese Entwicklung erscheint auf Anhieb wenig problematisch, während noch durchaus nicht feststeht, wie man die Grenzen in Afrika verschieben kann. Ich selber habe dabei keine Spur eines Überblicks. Ich weiß, dass die Amtseinsetzung von Alassane Ouattara in der Elfenbeinküste zu einem riesigen regionalen Politereignis wurde mit allen Stammesfürsten und den VertreterInnen des diplomatischen Corps sowie zahlreichen ausländischen Regierungschefs, u.a. Nicolas Sarkozy oder Blaise Compaoré aus Burkina Faso, Goodluck Jonathan aus Nigeria oder Abdoulaye Wade aus Senegal. Im Tschad bestätigte der Verfassungsrat die Wiederwahl von Idriss Déby Itno mit fast 85% der Stimmen. In Südafrika gewann der ANC wie erwartet die Kommunalwahlen mit 62% der Stimmen, während sich die oppositionelle Demokratische Allianz gegenüber 2006 von 17% auf 24% verbesserte. Aus dem Senegal erreicht uns die Nachricht, dass hier ein riesiger Markt für Solarenergie entsteht, schlicht und einfach, weil die staatliche Elektrizitätsgesellschaft nicht in der Lage ist, den benötigten Strom zu erzeugen. Insgesamt erwarten wir sodann einen OECD-Bericht, in dem am heutigen 24. Mai und im Rahmen der Feierlichkeiten zum 50-jährigen Bestehen dieser Organisation die Indikatoren «für ein besseres Leben» auf der ganzen Welt vorgestellt werden. Es geht also darum, nicht nur das Bruttoinlandprodukt zu messen, sondern weitere Faktoren, welche die Lebensqualität beeinflussen, z.B. Wohnen, Ausbildung, Umwelt, Qualität der Regierung, Gesundheit, Sicherheit, Familie, soziale Beziehungen sowie Wahrnehmung der Lebensqualität. In nächster Zeit können alle BewohnerInnen der 34 OECD-Mitgliedstaaten sich dazu äußern, und die entsprechende Rangliste nach Ländern soll im Frühling 2012 in Afrika vorgestellt werden. Wenn man schon kein Wirtschaftswachstum hinkriegt, dann müssen eben andere Parameter her, um zu beweisen, dass das Leben auch in Afrika lebenswert ist.

Daran zweifle ich übrigens in keiner Art und Weise und auch nicht daran, dass Glück auch unter anderen Rahmenbedingungen als jenen des industriellen Wohlstandes möglich ist. Vielleicht soll diese OECD-Umfrage präzis dazu dienen, in den nicht industrialisierten Ländern ein gewisses Bewusstsein für andere Dinge als Rasierwasser und dreifach saugfähige Pampers zu schaffen. Soweit die entsprechenden Werte über die internationalen Fernsehstationen mit den ihnen anverbundenen Werbeabteilungen vermittelt werden, müsste man allerdings darauf achten, dass diese Werbesendungen einen solch hehren Zweck nicht sofort konterkarieren. Auch die Übernahme von täglichen Seifenopern aus dem westeuropäischen oder nordamerikanischen Alltag müsste sofort abgestellt und durch eine lückenlose Berichterstattung über lamaistische Meditationen in kargen Bergwelten ersetzt werden. Ansonsten es kein Zufall, dass die Migrationsströme immer nur die eine Richtung haben, die andere Richtung heißt Tourismus. Auch wenn materieller Reichtum oft nur einen Popanz des Glücks darstellt, ist er doch mächtig genug, um die Phantasie und auch die Handlungskraft der Menschen zu beleben, und mit dieser Tatsache müssen wir weiterhin leben, da mag sich die OECD noch so bemühen, den AfrikanerInnen ihr urtümliches Leben als das einzig wahre zu verkaufen, sie werden das nicht schlucken und weiterhin adidas-Turnschuhen den Vorzug geben vor einem zerschnittenen Autopneu, durch den ein paar Schnüre gestochen wurden. Und wenn das dazu führt, dass die Menschheit in ein paar Jahrzehnten tatsächlich allesamt schöne und billige Kleider tragen, vor allem aber, dass sie hässliche und ebenfalls billige Autos fahren, dann stellen sich einige Fragen, an denen sich die nachstoßenden Generationen ihre Zähne ausbeißen sollen – vielleicht hat man bis dahin völlig neuartige Antriebs- und Energietechniken entwickelt. Und wenn nicht, dann winkt am Horizont nach wie vor der alte Heuler: Drogen. LSD ins Trinkwasser, das löst auf einen Schlag sehr viele soziale und Ressourcen-Probleme. Anderseits schafft es vielleicht neue; es gibt schließlich eine kleine Minderheit an Phantasten, die behauptet, dass die entwickelten Gesellschaften bereits seit längerer Zeit voll sediert seien; einige Zivilisations¬erscheinungen ließen sich anders überhaupt nicht erklären. Ich bin mir da nicht so sicher, vielmehr ich glaube nicht daran, aber einen definitiven Beweis dafür habe ich nicht.

Wie auch immer: Solange der Wind weht und das Gras wächst, solange in Bayern die CSU an der Macht ist, solange Peter Sloterdjik seine Schwurbelduseleien noch in Worte fassen und diese in eine Syntax zwängen kann, solange braucht niemand Angst davor zu haben, dass demnächst ein qualitativer Sprung die Welt in eine neue Dimension der globalen Gemeinschaft zu befürchten ist. Wir machen jetzt mal ordentlich weiter, immerhin in absehbarer Zeit ohne Atomenergie.





Albert Jörimann

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Albert Jörimann
23.05.2011

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