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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Antigeisterspray -

Wenn ich mir die Kinolandschaft von Erfurt vergegenwärtige, muss ich davon ausgehen, dass Ihr den Film «Le Ministre» wohl niemals in einer öffentlichen Vorführung angucken könnt, und glaubt mir, das ist ewig schade, denn einen derart analytischen Film über das Klima in der französischen Regierung werdet Ihr nicht so schnell wieder vorgesetzt erhalten.


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artikel/Aus neutraler Sicht/J_KW_35_200px.pngIm Übrigen betrifft es wohl nicht nur die französische Regierung, sondern sämtliche politischen Spitzenetagen in den entwickelten Ländern und vielleicht auch anderswo. Die Herren Minister hetzen wie von Bienenschwärmen verfolgt in der Geschichte herum im Bemühen, möglichst häufig und möglichst positiv in den Medien aufzuscheinen und so beim Staatspräsidenten oder Regierungschef oder bei Euch halt bei der Bundeskanzlerin Punkte zu schinden. Von Inhalten, politischen Programmen oder gar Prinzipien ist keine Rede. Geld ist ebenfalls keines vorhanden, die entsprechenden Ressourcen sind schon längstens vergeben, und nun übt sich das Kabinett in Schattenkämpfen und Pseudo-Sparübungen; im Film geht es beispielsweise um die Frage, ob die SNCF-Bahnhöfe privatisiert werden sollen, und die ZuschauerInnen werden ZeugInnen einer fast magnetischen Kehrtwendung dieses Ministers, als ihm der Rückhalt im Kabinett plötzlich wegbricht, wie er hinten rum erfährt. Überhaupt erfährt man in diesem Kabinett praktisch alles, nämlich eben hinten rum, und zwar in einer Geschwindigkeit, welche die modernste Mobiltelefonie alt aussehen lässt. Nach zehn Minuten Film verspricht unser Minister im Fernsehen, die Bahnhöfe würden mit jeder Garantie nicht privatisiert, und eine Viertelstunde später lässt er sie fallen wie eine heiße Kartoffel.

Dabei ist dieser Minister nicht etwa ein schlechter Kerl oder gar eine Charakterruine, im Gegenteil, er ist so etwas wie ein Hoffnungsträger, gerade weil er nicht die übliche Karriere der Hofschranzen gemacht hat, sondern so etwas wie ein Mann aus dem Volk geblieben ist, der jetzt allerdings trotzdem nach der Pfeife der Ereignisse, der Fernsehkameras, der Zeitungstitel und der Meinungsumfragen tanzt. Aber man merkt es sofort: Wenn er in diesem Konzert mitspielen will, dann muss er seinem Vorgesetzten, eben dem Premierminister oder dem Staatspräsidenten, welche alle den Vater nennen, Resultate bringen in der Form von Prozentpunkten bei den nächsten Wahlen. Gegen Schluss des Films wird Minister Bertrand Saint-Jean befördert vom Transport- zum Arbeitsminister, und der gute Vater spricht Klartext: Er muss die gravierenden sozialen Krisen im Arbeitsbereich entschärfen und der Partei bzw. der Regierung so jene 5 Prozent Wählerstimmen wieder bringen, welche sie wegen der Unruhen rund um die Privatisierung der Bahnhöfe verlieren wird.

Das finde ich nun wirklich echt reales Kino. Ich bin 100%-ig davon überzeugt, dass es so abläuft. An den Schalthebeln der politischen Macht sitzen Figuren, die von den Schalthebeln bewegt werden, nicht etwa umgekehrt. Und es wäre ausgesprochen verdienstvoll, wenn der Regisseur Pierre Schoeller in regelmäßigen Abständen weitere Filme aus diesem Milieu nachlegen würde: Wie funktioniert die Verwaltung, wie geht das Spiel zwischen Politik und Industrie, und am Schluss kommt er vielleicht sogar zu einer aussagekräftigen Darstellung der Abläufe, wo nicht sogar der Gründe für die Unruhen in den Vorstädten und für die Entwicklungen im Industriebereich, zum Beispiel mit einem Film über die Gewerkschaften, wo man davon ausgehen kann, dass der Hase in exakt den gleichen Bahnen läuft.

Übrigens heißt der Film im Beititel nicht etwa «Staatsräson», sondern «Staatsauftrag» oder Staatsübung, L’exercice de l’état. Und ebenfalls übrigens scheint sich mein Wunsch bereits erfüllt zu haben, bevor ich ihn geäußert habe, indem es sich, wie ich vom Internet erfahre, um den zweiten Teil einer Trilogie handeln soll, dessen erster «Versailles» war, der mir aber leider Gottes noch unbekannt ist. – Und noch der Hinweis, dass «Le Ministre» von den Gebrüdern Dardenne produziert wurde, die in der französischsprachigen Filmwelt nicht ganz unbekannt sind und u.a. schon zwei Goldene Palmen von Cannes gewonnen haben.

Weiter kann ich vermelden, dass ich den Bestseller «Der 100-Jährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand» probegelesen habe, und ist dies mit Sicherheit ein süffiges Buch, stilistisch nicht mit besonderer Akkuratesse abgefasst, aber doch zügig und vor allem mit den Rückblenden des 100-Jährigen auf fast ein ganzes Jahrhundert auch ein klein wenig ein Geschichtsbuch, allerdings nicht im Stil der Geschichts-, sondern eher der Geschichtenschreibung, mir kam spontan der Film Forrest Gump in den Sinn. Ach, mir kam überhaupt noch manches andere in den Sinn, Figuren wie dieser Allan Karlsson, welche zufällig über die wichtigen Schauplätze des Weltgeschehens stolpern, ohne dass die offizielle Geschichtsschreibung von ihnen Notiz nimmt, gibt es in der Literatur nicht gerade wie Sand am Meer, aber doch recht häufig, sodass ich bei der Bewertung der Originalität doch gewisse Abstriche mache. Sie werden auch nicht ausgebügelt durch ein paar an den Haaren herbei gezogene Absurditäten, wie z.B. einen Elefanten im rückwärtigen Bereich des Automobils zu transportieren usw. oder die Einführung eines bekloppten Bruders von Albert Einstein; ohne dass es auch nur den geringsten Anlass gäbe, den Autor Jonas Jonasson dafür zu tadeln, gibt es eben auch keinen wirklichen Anlass, ihn dafür zu loben, und das gilt insgesamt wohl für das ganze Buch. Ich sage dies nicht, weil ich den Schunken ohne Vergnügen gelesen hätte, ganz im Gegenteil, und an gewissen Orten kommt sogar so etwas wie Spannung auf; all dies wird aber wieder relativiert durch den Kapitalfehler, nämlich dass der 100-Jährige letztlich eben doch 100-jährig ist und bleibt bzw. immer älter wird, und dass er mit 102 Jahren die erste Erektion seines Lebens produziert, das kann ich dem Autor dann nicht mehr durchgehen lassen. Denn das, Herr Jonasson, wäre ein anderes Buch gewesen oder hätte ein anderes Buch werden müssen, ein absolut mögliches Buch, eines, in dem ganz andere Grenzen gesprengt werden als jene der historischen Wahrheit. Hier läge oder liegt Stoff begraben, den der schwedische Medien-Consulting-Spezialist durchaus vergeigt hat. Dieses Buch hat den falschen Titel oder aber den falschen Ein- und Ausgang. Ansonsten, wie gesagt, ist es durchaus vergnüglich zu lesen, und man braucht dem Lesepublikum absolut keine katastrophalen Zeugnisse auszustellen dafür, dass es den Schunken in die Bestsellerlisten gepuscht hat.

Und dann aßen wir am Sonntagabend bei einer Kollegin, welche steif und fest behauptete, sie hätte bei einem Aufenthalt in den Vereinigten Staaten vor mehreren Jahren in einem Warenhaus eine Abteilung gesehen, in der verschiedene magische Kräuter und Salben angeboten wurden zur Bekämpfung von Migräne, Karrierestau und Bösen Blicken; am meisten überzeugt in dieser Schilderung hat mich aber eine Produktereihe mit Dosensprays gegen böse Geister. Ich habe diese Produkte anschließend auf der Webseite von Wal-Mart gesucht, wusste aber nicht so genau, in welchem Departement diese Ware anzusiedeln wäre, bei Spirits gibt’s auch Liköre, und unter Ghostboosters erhält man bloß die Merchandisingprodukte zum Film, mindestens auf den ersten siebenhundert Seiten im Warenkatalog; und als ich auf Anti Sorcery Spray tippte, da tauchte an zweiter Stelle Garnier Fructis Style Sleek and Shine Anti-Humidity Hair Spray auf, 8.25 Unzen für 3 Dollar 47. Weiter hinten wurden mir unter Anti-Sorcery-Spray ein Bügeleisen Shark GI 568 Ultimate Professional Steam Iron für 49 Dollar 99 oder ein Duschkopf Conair Microban Chrome 5-Spray Handheld WaterSense Showerhead für 29 Dollar 88 angeboten, Duschen ist also klar preisgünstiger als Bügeln in der Geisterbekämpfung, und auf dem viertletzten Platz liegt dann L’Oréal Paris Sublime Sun Advanced Sunscreen SPF 30, 4.2 Unzen für 7 Dollar 97. Dann wechselte ich zu Yahoo und suchte ebenfalls nach Antihexen-Spray, und schon tauchte ein Black-Magic-Angebot auf, aber es war bloß ein Mittel, mit dem man übermäßiges Spritzen beim Schweißen vermeiden kann, und noch der Super Natural Spray mit dem Untertitel Black Magic Spray Tan verweist nicht aufs Übernatürliche, sondern bloß aufs Supernatürliche. Es ist also schwierig, diese Produkte auf dem Web zu orten, und trotzdem glaube ich dieser Kollegin, da sie meistens nur für gute Zwecke lügt, und ein solcher lag hier nicht vor. Also gehe ich davon aus, dass man in Amerika Antigeister-Spray kaufen kann, vermutlich in verschiedenen Geschmackssorten und nach unterschiedlichen Kategorien, Böser Blick, Mundgeruch und so weiter; und zwar kann man dies nicht nur in den traditionell animistisch angehauchten Regionen im Süden der Vereinigten Staaten, sondern voll auch an der Ostküste, denn die Kollegin sprach konkret von Philadelphia.

Schön! – Und eine andere Kollegin fügte noch an, dass sie in Mexiko mal ein Pulver mit dem schönen Namen «Lleva Clientes» erworben hätte, das man auf den Möbeln, in den Auslagen und durchaus auch auf den Kleidern verteilen könne, und dann würden die Kunden wie magisch angezogen, und bei ihr hätte das tatsächlich etwas genutzt, als sie ihren Kleinladen eröffnet hätte. Allerdings hat die Kundschaft bei der Eröffnung von Kleinläden eine absolut natürliche Tendenz zuzunehmen, da es den Laden zuvor ja gar nicht gegeben hat und da der Entscheid zur Eröffnung besagten Kleinladens hoffentlich nicht einfach ins Blaue hinaus, sondern nach einer ausgewachsenen Kommunikationsleistung im Bekannten- und Freundeskreis und in der Nachbarschaft erfolgt ist. Aber vielleicht kann man all dies auch unter das Pulver subsummieren.

Was will ich auf der moralischen Ebene damit sagen? Nichts weiter, als dass das Leben schön ist, solange es noch so absolut sinnvolle Produkte wie Antigeisterspray gibt. Im Vergleich zu den fünfzehntausenddreihundertsiebenundachtzig verschiedenen Haarspray- und Sonnenschutzcrèmes ist das absolut beruhigend und insgesamt schon ein richtiggehend vernünftiges Angebot. Und bezüglich der Literatur und des Films braucht man sich vorderhand auch noch keine Sorgen zu machen. Dies ist mein Beitrag unter der Rubrik «Gutes Leben», zu der ich abschließend noch anfügen möchte, dass es kaum je so viel verhärmte und verbitterte Gesichter, Gestalten und Figuren gibt wie jene, die sich suchend und wissenschaftlich zum Guten Leben äußern und Vorschläge für den Weg dorthin ausarbeiten. Irgendwie stimmt da etwas nicht zusammen. Möglicherweise wäre diesen Menschen eher mit einer Sorte Spray gedient, das gibt es nämlich, Johanniskraut oder LSD oder was auch immer.

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Vormittags im Programm
28.08.2012

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