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Aus neutraler Sicht von Albert Jörimann "Europäische Tea-Party"

[30. Kalenderwoche]
Es dürfte am Wochenende kaum einen zivilisierten Haushalt in Europa gegeben haben, in dem nicht die Todesstrafe für den norwegischen Massenmörder-Kretin gefordert wurde.



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Ich selber zitierte eine Passage aus Roberto Bolaños Roman 2666, in welcher einem Typen der Hodensack aufge¬schlitzt und die Eier bei lebendigem Leibe gemächlich seziert oder geröstet oder zerquetscht oder was auch immer werden. Allerdings fügte ich an, dass so etwas nur illegal und geheim während der Befragung im Gefängnis möglich sei, denn der Staat dürfte sich anschließend in seinem Urteil eben nicht als rächender, sondern nur als strafender Staat zeigen, weshalb auch die Todesstrafe nicht in Frage komme. Und unterdessen bin ich auch von der Hodenquetscherei wieder abgekommen; nicht, weil dieser Kretin es nicht ver¬dient hätte, wer will schon eine quantitative Gerechtigkeit angeben für einen solchen Anti-Men¬schen, sondern eben aus Gründen des Staats, der Staatlichkeit und der dem Staate inne wohnenden Menschen. Es geht nicht. Lassen wir die norwegische Justiz das tun, was sie ohnehin tut, untersuchen, richten, strafen. Mehr ist vernünftigerweise nicht zu verlangen.

Zurückhaltung ist gerade in solchen Situationen ein Imperativ, und ich frage mich, ob ich nicht dagegen verstoße, wenn ich in diesem norwegischen Blutbad nichts als die logische Konsequenz sehe von Strömungen wie der Tea-Party-Bewegung in den USA. An und für sich sind der alte und der neue Kontinent nicht zu vergleichen, aber die Ingredienzien stimmen eben doch ziemlich haarklein überein: Objekt eines längst irrationalen Hasses ist die Sozialdemokratie bzw. der sozialdemokratische Staat oder die sozialdemokratische Bewegung, wobei in den USA diese Tendenz durch die Demokraten beziehungsweise ihren muslimischen Kommunisten-Hitler Barack Obama verkörpert wird. Die Paranoia wegen der Bedrohung der eigenen vollendeten Kultur durch Einwanderer oder sonstiges Gesocks, die Ablehnung des Schutzes der sozial Schwachen auf Kosten der reichen Wohltäter, welche dem Lande freiwillig Arbeitsplätze spenden würden, wenn man sie nur nicht so doll besteuern täte, sowie die evangelikal-christliche Raserei finden in diesem purlauteren Arier-Norweger ihre vollendete Repräsentation, indem er nämlich in Tat umsetzt, wovon die anderen jenseits des Atlantiks immer nur geifern. Jetzt hat er’s ihnen gezeigt. Er hat es auch uns gezeigt, und wer es bisher noch nicht geglaubt hat, der hat es nun gesehen.

Wenn ich mit einiger Anstrengung einen Schritt zurück trete, sehe ich als wirklichen Kern dieser Bewegungen verschiedene Dinge. Erstens bricht im Reflex gegen den Schlächter von Norwegen ein ähnliches emotionales Muster durch, welches den Irren überhaupt zu den Anschlägen trieb, nämlich ein Ge¬fühl der persönlichen Betroffenheit bei gleichzeitiger Unfähigkeit, dieses Gefühl in einer pro¬duk¬ti¬ven oder überhaupt in irgend einer Form auszugleichen – eigentlich müssten ja der Staat und die Polizei, und die tun nix und verhüten solche Dingens nicht mal oder kommen gar eine Stunde zu spät. Es handelt sich bei dieser Ohnmachtsempfindung gemäß der Meinung jener Geschichts¬forschung, der ich anhänge, um einen notwendigen Begleiteffekt des Zivilisations¬pro¬zesses. Die Zivilisation, welche das friedliche Zusammenleben immer größerer Mengen von Menschen überhaupt ermöglicht, erfordert nicht nur die Abtretung des Machtmonopols an den Staat, sondern die Unterdrückung von Trieben und Re¬fle¬xen, und zwar in steigendem Ausmaß. Ich will hier nur ein paar Hinweise geben: Neuerdings ist es schon ver¬bo¬ten, in Wirtshäusern zu rauchen! Die Zivilisation springt hart mit uns um. Viele haben sich erstaun¬lich rasch daran gewöhnt und gehalten und preisen sogar den Vorteil, dass man nun nach dem Wirtshausbesuch nicht mehr aus allen Fasern stinkt. Aber es handelt sich trotzdem um ein weiteres Verbot auf einer bereits unendlich langen Liste an Verboten, die ungebrochen weitere Vorschriften produziert. In der Schweiz müssen Kinder bis 12 Jahre seit ein paar Monaten im Auto auf einen separaten Kindersitz auf die Hinterbank platziert werden. Mit jeder Garantie steigen demnächst die Krankenkassenprämien für Fettleibige. Wenn du im Aldi ein Produkt mit mehr als 500 Kalorien auch nur begehrlich ansiehst, wirst du eine Buße bezahlen müssen und ein Jahrzehnt später in eine Kalorien-Entwöhnungskur eingewiesen. Und so weiter. Dabei habe ich neben den Vorschriften die unglaublichen Ausmaße an Überwachung noch gar nicht angesprochen, der wir unterdessen bereits unterworfen sind, und zwar nicht so sehr vom Staat als vielmehr von Google beziehungsweise der Marktforschung der nationalen und internationalen Konzerne. All dies ist mit der größten Leichtigkeit zu so genannten Profilen zusammen zu basteln, welche dann später an ein Ideal-Profil, an den vollkommen zivilisierten Menschen anzupassen sind. Ob es uns passt oder nicht: Der Zivilisationsprozess verwandelt uns zunächst überhaupt nicht in freie und souveräne Individuen, sondern bloß in Ameisen mit gebleichten Zähnen und gelifteten Augenbrauen.

Für all dies steht unter anderem die Sozialdemokratie, nämlich jede vernünftige Form der aktuellen Politik, also durchaus nicht die SPD, sondern durchaus sogar die FDP, so leid mir das tut, aber vor allem die CDU, und die sozialdemokratischste von allen ist vielleicht in Deutschland die CSU als wahre Volkspartei, obwohl die, ähnlich wie die FDP an der 5%-Hürde, in Bayern an der 50%-Hürde zu scheitern droht. Die SPD-, FDP-, CDU- und CSU-Sozialdemokratie steht für den Staat, wel¬cher selbstverständlich die Armen beschützt, zwar lausig und zu Hartz-IV-Sätzen, aber doch immerhin mit gewissen Restbeständen der gesellschaftlichen Solidarität; das Grundeinkommens-Modell von Dieter Althaus nennt sich absolut zu Recht das «Solidarische Bürgergeld». Der Be¬schüt¬zer-Staat ist aber längstens auch zu einer psychischen Instanz geworden, die sowohl im Individuum als auch im gesamten Gesellschaftskörper ihre Realität hat; wie man diese Realität dann empfindet, wie man sie intellektuell umsetzt und was man daraus schließt, kann durchaus variieren beziehungsweise es variiert denn auch, wie man eben am Beispiel Norwegen sieht: Hier ist es ein einzelner, versprengter arischer christlicher Terrorist, während in den USA eine ganze Bewegung von sagen wir mal 21,374% der Wählerstimmen das ganze Land in eine Wahn-Periode treibt. Übrigens erinnere ich an dieser Stelle an meine Vermutung, dass Barack Obama zum Vorzugsziel von Attentätern werden müsse; bisher hat sich dies nicht bewahrheitet, der Ausgleich ist den Rechtsextremen und Kukluxianern nicht gelungen, und genau aus diesem Grund muss ein anderes Ventil gefunden werden. Darum ist diese Tea Party so virulent. Wiederum zurück im alten Europa wollte der Attentäter zwar offensichtlich auch dem sozialdemokratischen Regierungschef bzw. der Regierung ans Leder, aber sein Ingrimm galt insgesamt jener sozialdemokratischen Bewegung, welche sich widerstandslos schon im Jugendalter in die Friede-Freude-Eierkuchen-Tatenlosigkeit sozialdemokratischen Gut¬men¬schen¬tums einlullen lässt. Im Kern steht beide Male der sozialdemokratische Staat bzw. die sozialdemokratische Grundgesinnung im Visier.

So ist das Problem, das hier in Blutbächen zum Ausdruck gekommen ist, ein wirklich gesellschaftliches Problem, auf das ich im Moment unglücklicherweise keine Antwort habe. In der Vergangenheit, so unterstellen meine Vertrauenspersonen in Sachen Zivilisationsgeschichte, hat sich die Integration zivilisatorischer Verhaltensweisen bzw. Fortschritte durchaus nicht immer beziehungsweise praktisch überhaupt nie aus Einsicht in die Notwendigkeit ergeben. – Und auch hier ist die Nebenbemerkung am Platz, dass diese hegelsche Freiheitsdefinition letztlich eine nicht nur kleinbürgerliche, sondern absolut repressive Definition ist, mit der sich mindestens ein Schweizer mit einigen radikaldemokratischen Wurzeln nie so recht anfreunden konnte – allerdings auch ohne sie kate¬go¬risch abzulehnen, ihr Wahrheitsgehalt ist allzu offensichtlich, aber ebenso offensichtlich nicht vollumfänglich, aber dies eben nebenbei. – Zivilisatorische Prozesse wurden immer in Konflikten verinnerlicht, manchmal über das Mittel von Schauprozessen, und da kann man auf den Kommunisten¬schlächter Stalin verweisen ebenso gut wie auf die mittelalterlichen Hexenverbrennungen oder auf jenen Prince of Wales, der an seinen Eingeweiden durch London geschleppt wurde; und manchmal fand der Verinnerlichungsprozess in anderen Gewaltformen statt. Ich gehe davon aus, dass die Deut¬schen ihren Verinnerlichungsprozess während der Nazi-Zeit, aber vor allem während der anschließenden Denazifizierung noch mehr oder weniger im Unterbewusstsein präsent haben. Dementsprechend erscheint es mir absolut zwingend, dass diese Epoche auch heute noch oder gerade heute wieder für viele Anti-Sozialdemokraten, welche sich auf die Freiheit des Individuums beziehen, als Referenzpunkt genommen wird. Und die Frage stellt sich tatsächlich, ob wieder mal ein Krieg nötig wird für eine weitere Verinnerlichungsetappe, deren Begleitgeräusch immer wieder der alte Stoßseufzer ist: Nie wieder. Wie lange noch bis zum nächsten Nie wieder? – Oder gibt es auch hier moderne und friedliche Formen? Der norwegische Hitlerjunge lässt daran zweifeln.

Und damit komme ich zum letzten Punkt meiner Überlegungen aus dem Versuch einer Distanzierung heraus: Wenn ich das richtig beobachtet habe, sind rechte und rechtsextreme Parteien heute in erster Linie anti-sozialdemokratische Bewegungen, deren Hauptenergie sich aus der Behauptung der individuellen Rechte speist; dazu gehört unter anderem und prominent der Kampf gegen die Political Correctness, welche zweifellos ein Oberflächenphänomen des Zivilisationsprozesses dar¬stellt. Wer die Political Correctness respektiert, hat bereits den Schwanz eingezogen. Wenn man sich ein bisschen im Umfeld der rechten Wirrköpfe umhört, wird man fest¬stel¬len, dass hier nirgend¬wo eine klare Ideologie herrscht, sondern nur die Forderung nach Freiheit, in erster Linie natürlich Meinungsäußerungsfreiheit, konkret das Recht, nationalistischen, rassistischen, antisemitischen, sexistischen oder auch nur ganz einfach brunzdummen Stuss zu äußern. Die Ideologie ist gar keine, sondern beruht im Kern auf der spontanten Reaktion des Individuums gegen Vorschriften jeglicher Art, das kennen wir aus unserer eigenen Kindheit; wenn diese Vorschriften praktisch in aller Öffentlichkeit und fast jedes Jahr weiter ausgebaut werden, sind solche Reaktionen nichts als verständlich. Sie sind nicht spezifisch rechts, es hat auch viele Anarchisten, die so denken, oh, Entschuldigung: so fühlen, natürlich. Bei den Rechten ist es bloß belustigend, dass sich die anarchische Reaktion des Individuums dann sofort in einen rechtsnationalen Sumpf der besoffenen Gemeinsamkeit flüchtet, in dem das Individuum noch viel gründlicher verdampft als unter den Rahmenbedingungen der Political Correctness bzw. der Sozialdemokratie. Diese dialektische Reaktion von kindlichen Gemütern macht mindestens noch vorderhand noch Spaß, vor allem, weil sie in der Regel begleitet ist von rationalen Abnormitäten der Sonderklasse.

Letzthin sandte mir ein entfernter Bekannter begeistert einen Trickfilm zu, welcher das Streben nach unbedingter Freiheit bzw. ihre systematische Unterdrückung durch den Staat illustrieren sollte. Es ging darin um einen Typen, zu dem ein entfernter Bekannter eines Jugendfreundes kommt, um ihn um ein bisschen Geld zu bitten für die Ausbildung seiner Kinder. Der Typ drückt eine 20-er Note ab, worauf der Bekannte den Jugendfreund ebenfalls um Knete angeht; der Jugendfreund aber lehnt ab. Und schon kommt die Moral von der Geschicht: Der Staat will mit der gesamten US-Army den Jugendfreund dazu zwingen, seinem Bekannten eine 20-er Note rüber zu schieben! – Ist dies gerecht? Ist der Jugendfreund etwa amoralisch?

Geschätzte Hörerinnen und Hörer, so saumäßig bekloppt, wie die Geschichte tönt, so bekloppt ist der Trickfilm eben, und ihr könnt ihn Euch selber reinziehen unter www.freiwilligfrei.info, er heißt: Ist George asozial?, und es handelt sich ganz eindeutig um ein aus dem Amerikanischen importiertes und synchronisiertes Gewächs des oben beschriebenen Tea-Party-Haufens; allerdings betrifft es hier den anarchistischen Teil der Bewegung, welcher sich von den Ultrakonservativen leider in keinem Jota unterscheidet. Diese Webseite führt übrigens den Untertitel «Denken hilft», und das gibt mir, der ich auf Erden nur eine allerhöchste Instanz kenne, nämlich die Vernunft, nun wirklich zu denken. Gibt es nicht auch eine Strafbehörde, welche die Usurpation zentraler Begriffe ahndet?

Das war aber noch vor Norwegen. Und wenn ich hier versuche, einige Überlegungen zu möglichen Motiven und gesellschaftlichen Realitäten rund um diesen norwegischen christlichen Arier und Massenmörder zu formulieren, dann erfolgt dies nicht in der Absicht, diesem Anti-Menschen auch nur die Gnade einer Erklärung zukommen zu lassen, und vor allem trete ich zurück vor dem Schmerz der Betroffenen, der Familien und der gesamten norwegischen Gesellschaft.








Albert Jörimann

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Albert Jörimann
01.08.2011

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