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Wir bleiben alle - Gewinner des Leipziger Hörspielsommers 2010

"Wir selber sitzen in einem massiven Betonklotz fest, und die brauchen ein Spezialteam, um uns hier rauszuholen."

artikel/haus_gr.jpgzwei Polizisten auf einem Dach des besetzen Geländes [Erfurt 16. April 2009]
Wir bleiben alle

Erfurt in den frühen Morgenstunden des 16. April 2009. Mit einem 1,2 Millionen Euro teuren Großeinsatz der Polizei wird eine Hausbesetzung auf historischem Gelände beendet. Die Firma J.A. Topf & Söhne perfektionierte während der Nazi-Herrschaft die Technik der "Endlösung" mit der Entwicklung von leistungsfähigen Krematoriumsöfen für eine Vielzahl der Konzentrationslager sowie Zubehörteilen für die Gaskammern von Auschwitz. Das Industrieunternehmen steht dabei beispielhaft für die bereitwillige Mittäterschaft der Wirtschaft an den NS-Verbrechen und das Versagen der Zivilgesellschaft. In der DDR firmierte der Betrieb unter dem Namen VEB Erfurter Mälzerei und Speicherbau ohne sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Nach der Insolvenz Mitte der neunziger Jahre lag das riesige Firmengelände brach und drohte gänzlich zu verfallen.

Im Jahr 1999 nahm sich der Förderkreis Topf & Söhne der Geschichtsaufarbeitung an und erreichte die Durchführung eines Forschungsprojektes an der Gedenkstätte Buchenwald zur Geschichte der Firma. Die daraus resultierende Wanderausstellung Techniker der "Endlösung" Topf & Söhne - Die Ofenbauer von Auschwitz war u.a. im jüdischen Museum Berlin zu sehen. Unbequemes Hauptanliegen des Förderkreises war jedoch die Errichtung eines Erinnerungsortes am historischen Firmensitz. Der Stadt Erfurt mangelte es zunächst am politischen Willen, zudem fehlte ein Investor, der das riesige Gelände erwirbt und den Gedenkort mitfinanziert. Parallel dazu hatte 2001 die Erfurter Hausbesetzerszene einige der Firmengebäude in Besitz genommen und als alternatives Kulturzentrum genutzt. Die Besetzer setzten sich ebenfalls mit der Geschichte des Geländes auseinander und hatten, durch die mit der Besetzung einhergehenden Medienaufmerksamkeit, einen maßgeblichen Anteil an der öffentlichen Wahrnehmung des Themas Topf & Söhne. Als sich 2007 endlich ein Investor fand, waren ihre Tage gezählt. Der Bebauungsplan sieht den Abriß eines Großteils der Gebäude und die Neubebauung mit Wohnhäusern und Fachmärkten vor. Die Eröffnung des Erinnerungsortes ist für 2011 geplant.

Auf Grundlage der Live-Berichterstattung des Erfurter Bürgerradios Radio F.R.E.I. collagiert das Hörspiel Szenen der Räumung und skizziert Teile der vorausgegangenen öffentlichen Debatte aus der Sicht verschiedener Akteure Besetzer, Polizei, Kommunalpolitiker, Radioreporter etc.). Dem gegenübergestellt wird Firmengeschichte, Geschichte der Besetzung und Planung des Erinnerungsortes aus der Perspektive des Förderkreises Topf & Söhne, der inzwischen als Verein arbeitet. (Dr. Annegret Schüle, Historikerin und Projektleiterin des städtischen Erinnerungsortes; Rüdiger Bender, Vorsitzender).

Skript/Regie/Ton/Produktion: Andreas Kubitza, 2010
Musik: Reisegruppe Z: Ausschnitte aus "Souterrain Psychédélique", (c) Creative Commons, mit freundlicher Genehmigung der Autoren

Die Jurybegründung:

„Ein Hörspiel ist ein Hörspiel. Es kann in einer in sich geschlossenen Inszenierung eine fiktive Geschichte erzählen. Zum Beispiel. Es kann aber auch seine Genre-Grenzen sprengen und mittels Originaltönen in die Nähe des Features rücken. Wie zum Beispiel bei Andreas Kubitza. Dann stellt sich die Frage, ob sein Hörspiel „Wir bleiben alle“ tatsächlich ein Hörspiel ist. Ist es, hat die Jury beschlossen – nicht zuletzt, weil sie das Thema von „Wir bleiben alle“ sehr viel mehr interessiert hat als die leidige Genre-Frage.
Wir hören, wie die Polizei ein von jungen Leuten besetztes Gelände räumt, das einmal eine Fabrik gewesen ist. Wir hören davon, dass diese Fabrik „Topf & Söhne“ hieß und Krematoriumsöfen für Konzentrationslager wie Auschwitz und Buchenwald baute und optimierte. Wir hören, dass die Besetzer ein autonomes Kulturzentrum auf diesem Fabrikgelände eingerichtet und die vergessene Geschichte des Ortes ins Bewusstsein der Stadt geholt haben. Und wir hören, wie die Stadt auf diese Initiative reagiert. Wie die Bürger reagieren, die Politiker.

In Form einer Collage schneidet Kubitza Live-Berichterstattung, Hintergrundinformationen und Meinungsäußerungen in- und gegeneinander. Und dabei gelingt ihm mit „Wir bleiben alle“ ein – im besten Sinne des Wortes – politisches Hörspiel. Ein Hörspiel, das weit über sein konkretes Thema hinausweist und von der immer währenden Auseinandersetzung mit der Vergangenheit erzählt.
Andreas Kubitzas Hörspiel „Wir bleiben alle“ erhält den Preis in der Kategorie „Beste Idee“.

Radio F.R.E.I. sendet das Hörspiel am Sonntag, dem 1. August, 15.00 Uhr.

weitere Informationen:
Hörspielsommer

F.R.E.I.stil
29.07.2010

Kommentare

  1. Eine schöne Collage finde ich. Sehr schade ist nur dass gegen Ende die Einrichtung eines Gedenkortes der Besetzung so diametral entgegengestellt wird. Das ist so nicht richtig. Rein örtlich hatten die besetzten Räume nichts mit dem Verwaltungsgebäude zu tun. Es wäre also ein leichtes gewesen den Gedenkort einzurichten und die Besetzung trotzdem zu erhalten.
    Dagegen argumentiert der Förderkreis mit Sachzwang. Mit Sätzen wie "Das ist der Lauf der Zeit" wird die Entscheidung begründet, dass der Investor das Verwaltungsgebäude renoviert und dafür mit dem restlichen Gelände machen kann was er will. Dabei steht das Profitstreben des Investors natürlich außer Frage.
    Die BesetzerInnen haben jedoch von Anfang an kritisiert, dass die Einrichtung bzw. die Renovierung und damit erst Möglichmachung eines Erinnerungsortes an einen privaten Unternehmer abgeschoben wird und wurde. Dagegen forderten sie eine öffentliche Auseinandersetzung und die Einrichtung eines Gedenkortes im öffentlichen und eben nicht privatwirtschaftlichen Interesse.

    Die BesetzerInnen haben die Geschichte des Geländes auch nie für eigene Zwecke instrumentalisiert. In der Öffentlichkeit wurde immer die Ansicht vertreten dass die Einrichtung eines Gedenkortes im Verwaltungsgebäude nicht genug sei, sondern das gesamte Gelände dazu genutzt werden sollte. Ob in diesem Fall ein Autonomes Zentrum auf einem kleinen Teil des Geländes förderlich für eine Auseinandersetzung mit Geschichte gewesen wäre, wäre zu diskutieren gewesen. Doch dazu sollte es nicht mehr kommen.
    Mir fällt auf dass die BesetzerInnen bis zum Schluss das gefordert haben was der Förderkreis, wie am Ende des Hörspieles deutlich wird, eigentlich viel lieber gehabt hätte. Schade dass es zu dieser Entsolidarisierung kam.

    fliegvogelflieg - 29.07.2010, 12:20