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Aus neutraler Sicht von Albert Jörimann "Keine Seeblockade"

[27. Kalenderwoche]
Manchmal ist es nicht so recht ersichtlich, aus welchen Gründen ganze Landstriche dem vernünftigen Denken Adiö sagen und sich kollektiv dem Blödsinn, konkret einem stumpfen Nationalismus zuwenden.



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Den ungarischen Fall haben wir mit Kopfschütteln als Eigenart einer ohnehin unverständlichen Kultur abgetan, und wir hoffen, dass sie nicht demnächst alle Zigeuner in Konzentrationslager stecken und jene Nachbarländer, die Ungarisch sprechenden Minderheiten beherbergen, überfallen. Wenn sie ein auch nur ein Viertel so langes Gedächtnis haben wie die Israeli, dann können sie sich mit den Österreichern zusammentun zum Bündnis Zukunft Österreich-Ungarn, womit die zeitliche Stoßrichtung auch im Begriff tauglich geklärt wäre, und im Namen der Habsburger das ehemalige Heilige Römische Reich deutscher Nation reklamieren, also inklusive Spanien und Lateinamerika und die Niederlande; als Bündnispartner stehen ihnen die norditalienischen Padanier zur Verfügung, die sich ihrer keltischen Ursprünge rühmen und mindestens insofern auch die Confoederatio Helveticorum zur Allianz bitten könnten. Soviel zum aggressiveren Nationalismus oder Regionalismus; etwas defensiver, aber nicht weniger absurd tritt gegenwärtig der dänische Nationalismus auf, der das kleine Heringland schüttelt wie ein heftiger Fieberanfall; es besteht ernsthafter Grund zur Annahme, dass die nach den Zollämtern demnächst auch eine Mauer bauen, um Dänemark vor dem Ansturm der Deutschen zu schützen, ein paar Steine und die entsprechende Technologie können aus verschiedenen DDR-Archivbeständen aktiviert werden. Alternativ könntet Ihr den Dänen vorschlagen, Ihr würdet von allen 90 Mio. Einwohnerinnen und Einwohnern Deutschlands Geruchskonserven ans dänische Außenministerium zustellen; vielleicht sind bald einmal auch Anlagen zur Verbrennung von Büchern oder konsequenterweise zur Unterbindung des internationalen Sprach- und Datenverkehrs gefragt. Die Finnen nationalisieren, die baltischen Kleinstaaten, die Schweden und die Norwegerinnen, die Französinnen wissen gar nicht, was Nationalismus ist, weil das ihre Natur bzw. die Natur ihres Bewusstseins ist, und erfunden habens sowieso die Schweizer. Europa ist ein Narrenschiff, und die Vereinigten Staaten von Amerika segeln weit voraus. Dabei gibt es sogar vernünftige Begründungen für die Auflösung der Rationalität: Technisch gesehen ist es die Proliferation der Informationen bzw. der getunten Informationen, also der geschönten oder gewichteten Informationen bzw. der vollendeten Form von Public Relations, und daneben haben wir es zweifellos mit primitiven, aber vitalen Reaktionen auf die Verlagerung der Gewichte auf der ganzen Welt zu tun; all dies ist sodann möglich dank dem Verschwinden sämtlicher globaler vernünftiger Gedankenströmungen im öffentlichen Luft- und Geistesraum. Es wäre umgekehrt im Namen der Vernunft verdankenswert, wenn jemand ein paar Vorlagen für den Aufbau einer solchen Strömung liefern würde. Ich sage dies im Wissen darum, dass sich auch die Gegenthese vertreten lässt, dass nämlich das Verschwinden der Ideologien nicht zwingend ein schlechtes Zeichen sein muss; aber sich dann eben die allerdümmsten Kommunikationsinhalte über den Kontinenten ausbreiten, das spricht dafür, eine neue Ideologie zusammen zu basteln, welche eben in erster Linie vernünftig und damit ebenfalls in erster Linie antinationalistisch und international sein müsste.

Ja, es wäre schön, wenn der Wecker für eine Zeit ohne Ideologien klingeln täte; aber an die Stelle der klassischen Weltbilder tritt eben nicht das freie Denken und Handeln, sondern es brechen ganz simpel all jene abortierten Figuren des Ressentiments an die Oberfläche, welche ansonsten sowohl von den rechten wie auch von den linken Konzeptionen unterm Deckel gehalten wurden, und wenn dieser Deckel dann mal ab ist, dann dampft und duftet das unstrukturierte und begriffslose kollektive Bewusstsein, vielmehr: Unbewusstsein einfach vor sich hin und drängt mal hier, mal dort in eine politische Form. Ich möchte dabei nicht etwa eine reale Gefahr an die Wand malen, denn die zugrunde liegenden globalen Mechanismen vermögen diese Gruselgestalten in keiner Weise rückgängig zu machen oder einzudämmen; vielmehr nehmen sie ihre abstruse Gestalt gerade darin an, dass sie entgegen ihrem eigenen primären Gegrunze immer irgend ein Arrangement mit der realen modernen Welt treffen müssen, das dann auch immer sehr schön absurd daher kommt. In der politischen Form wird der Nationalismus gerne zum Hebel, um einigen grölenden Burschenschaften vorübergehend zu Geld und Einfluss zu verhelfen. Berlusconi wurde auf einer solchen Bewegung in Italien sogar zum reichsten Mann des Landes; allerdings verfügen die Italiener seit eh und je über ihre eigene Irrationalität. In Österreich haben es die braunen Buben immerhin fast geschafft, die Bayrische Landesbank in den Ruin zu treiben. Von Ungarn ist mir noch kein solcher direkter Interessenzusammenhang bekannt, aber ich zweifle keine Sekunde an seiner Existenz, während in Dänemark offenbar einfach die Hälfte der Bevölkerung ein Schlammbad nimmt. Vom finnischen Bären dagegen weiß ich gar nichts; beim finnischen Nationalismus gehe ich weniger von einer wirklich tief reichenden politischen Bewegung aus als vielmehr von einem normalen Rollen des Staats- oder Volksschiffs auf einem Meer von Düsternis und Vodka, das in absehbarer Zeit wieder von der Gegenbewegung aufgefangen wird. Vielleicht tue ich dem Finnerer ja Unrecht, aber ich halte den wunderbaren Roman «Der wunderbare Massenselbstmord» für eine nach wie vor gültige Beschreibung der finnischen Gemütslage, Nationalismus hin oder her.

So oder so: Da die Zeit offenbar noch nicht reif ist für eine Welt ohne Ideologie, muss man sich an das Verfassen der Nachfolgetexte machen. Was wäre unter anderem dem Nationalismus, diesem gefährlichen Tier aus der Gattung der Volksseele entgegen zu halten? Es gibt verschiedene Ansatzpunkte. Einer ist bekannt, nämlich der wirtschaftliche. Die modernen Gesellschaften beruhen hier auf einer ungeheuer dichten Verflechtung weltweit, von den Produzenten über die Lieferanten bis zu den Konsumentinnen. Hier liegt ein Problemfeld darin, dass der Reichtum für die normalen Volksschichten immer noch über das Gesellschaftsspiel der Arbeitsplätze verteilt wird, was ein höchst dynamischer Bereich ist. Alle Wirtschaftssektoren verändern sich ständig, dauernd verschwinden welche, werden wegrationalisiert oder in Billiglohnländer transferiert, während ebenfalls dauernd neue Bereiche entstehen. Dabei sind zwei Grundtendenzen feststellbar: Die neuen Sektoren werden nach einer gewissen Zeit ebenso von Automation und Billigproduktion erfasst wie die konventionellen; in den entwickelten Hochlohngesellschaften haben nur spezialisierte Tätigkeiten und Kleinserien längerfristig Bestand. Zum zweiten entstehen neue Sektoren in der Regel rund um Kompetenz-Standorte wie technische Universitäten oder in politischen geförderten Bereichen und Regionen. Solche Zentren mit einer anständigen Wertschöpfung und notabene hohen Löhnen sind vital für das wirtschaftliche Gedeihen von Regionen und Ländern. Es ist offensichtlich, dass hier die nationale Politik ihre Rolle weiterhin spielt. Aber auch die Grenzen der Politik sind klar: Es ist auf Dauer nicht denkbar, dass eine Region oder ein Land allein sich die gesamte Wertschöpfung in einem Sektor oder auf einem Kontinent unter den Nagel reißt. Entweder würden dabei die anderen Länder und Regionen ausbluten, oder aber es käme tatsächlich zu einer Form des Kriegs, soweit eine solche Politik nicht bereits als Krieg eingestuft werden muss. Aus diesem Grund müssen die entsprechenden Anstrengungen in Verträgen oder im Rahmen von supranationalen Organisationen geregelt werden. – Dies wäre notabene eine der Hauptaufgaben der EU. Bisher hat sie sie neben der Montanindustrie vor allem für die Landwirtschaft wahrgenommen; aber vermutlich bestehen solche Absprachen auch für weitere Bereiche, mindestens von dem Zeitpunkt an, da sich die Sektoren einigermaßen konsolidiert haben. – Umgekehrt wäre es der Beruhigung der dumpf kochenden Volksseele durchaus zuträglich, wenn solche Abmachungen gelegentlich auch publiziert würden, inklusive der Argumente, Gegenargumente und Gegenleistungen; Wirtschaftsstrukturpolitik heißt bekanntlich gleichzeitig Raum- und Bevölkerungspolitik. Soweit solche Informationen ausbleiben oder soweit überhaupt nicht davon gesprochen wird, erhält eben gerade jener begriffslose Schlamm- und Schleimbeutel einer nicht informierten öffentlichen Meinung laufend neue Nahrung.

Ein anderer Ansatzpunkt besteht in der Diskussion der Beziehung zwischen Individuum und gesellschaftlicher Organisation. Das tönt jetzt verzweifelt platt, enthält aber einige interessante Ans ätze. Wenn ich vorher gesagt habe, dass die Wirtschaft mit ihren Sektoren einem dauernden Wandel unterliegt, so scheint dem gegenüber die Gesellschaft mit ihren Bestandteilen statisch, und genau dies ist weder der Fall noch sollte es der Fall sein dort, wo es dennoch der Fall ist. Will sagen: In der Regel ziehen die Menschen den Wirtschaftsmöglichkeiten hinterher, weitgehend ohne Radau und Pauken und Trompeten, soweit sie nicht selber welche schaffen, und dies halte ich sogar für einen sehr lobenswerten Umstand, indem nämlich das Individuum auch de facto von der Scholle getrennt wird, nachdem diese Trennung wirtschaftlich schon vor zweihundert Jahren erfolgt ist. Wenn man heute so etwas wie Heimatliebe entwickeln will, so kann dies nur auf der Grundlage einer weit reichenden Mobilität erfolgen. Die Verwurzelung muss jeweils an völlig neuen Orten und allenfalls auch in neuen gesellschaftlichen und produktiven Bereichen möglich sein. Eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, welche mehr als 10 Prozent der Bevölkerung über Generationen hinweg immobil am gleichen Ort hält, ist eine gefährliche Sache. Auch dort, wo die Menschen über Generationen hinweg gute Arbeit finden, zum Beispiel im Bergbau, müsste man mehrjährige Auslandaufenthalte für obligatorisch erklären. Das moderne Individuum darf sich nicht modern nennen, solange es nicht die Grundzüge anderer Lebensweisen kennen gelernt hat. – Heut5e sind dafür nicht mehr zwingend eigentliche Wanderjahre notwendig; nicht zuletzt das Internet trägt einen wichtigen Teil bei zum Schliefen der Grenzen. Umgekehrt wächst im Internet eine andere, nämlich die Sprachgrenze; neben der Lingua Franca, also dem Englischen, wird der Austausch über Sprachgrenzen hinweg eher unterbunden als gefördert. Das ist auch der Grund, weshalb Dänemark eine Mauer gegen Deutschland, nicht aber eine Seeblockade gegen England verhängt hat.



Albert Jörimann

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Albert Jörimann
05.07.2011

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