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Aus neutraler Sicht von Albert Jörimann "Geil ist geil"

[19. Kalenderwoche]
Soll ich von einer Zeitenwende sprechen? Hinweise darauf gibt es einige.



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Fangen wir mit Guido Westerwelle an. Seine Spaß- und Klamaukpolitik rund um neoliberale Torheiten hat ihn zwar an die Seite von Angela Merkel gespült, aber im gleichen Moment, da er die Macht angetreten hat, wars auch schon aus damit, nämlich aus mit dem Spaß und dem Klamauk, den muss man sich als Außen¬minister einfach abschminken, und unter der Schminke befand sich – Guido. You can call me Guido. Das reicht nun einfach nicht aus für dauerhafte und substanzielle Wahlanteile, sodass der Spaß- und Klamauk-Guido jetzt auch in der Partei ersetzt werden musste durch das brave Duo Rösler/Lindner – hier hat sich was getan, geschätzte Kolleginnen und Kollegen, und wenn’s nur die Tatsache war, dass sich die deutsche Politik erfolgreich gegen die Italianità zur Wehr gesetzt hat, welche Westerwelle trotz seinem nordischen Anstrich und Nachname als Guido nach Berlin tragen wollte. Die Methode Berlusconi funktioniert in Deutschland nicht, sie funktioniert noch nicht, vielleicht muss man abwarten, bis sich der erste Großkapitalist in die Politik stürzt, vielleicht wird die F.D.P. an die Gebrüder Aldi verkauft bzw. deren Erben, und dann hättet Ihr zwar immer noch nichts zu lachen, aber auf alle Sorten von Discount könntet Ihr in jedem Fall zählen, und das muss nicht einmal immer schlecht sein. Denn auch Discounter sind lernfähig. Zur Vermutung einer Zeitenwende hat mich nämlich der neueste Slogan des Elektronikdiscounters Saturn gebracht: Geil ist geil. Ich musste zwei Mal hinhören und drei Mal nachsehen, ob ich das auch richtig mitbekommen habe, aber es ist eine Tatsache: Die Werbeabteilung von Saturn ist offensichtlich zum Schluss gekommen, dass «Geiz» nicht mehr das richtige Verkaufsargument für den Markt Deutschland ist. Offenbar sind die unteren Kaufkraft¬schichten derart ausgedörrt, dass sie jetzt doch eher unter die begriffliche Zuständigkeit der Caritas fallen und auf die Abwesenheit von Geiz hoffen müssen in diesen schwierigen Zeiten.

Übrigens mögen sich die Zeiten drehen und wenden, wie sie wollen, schwierig sind sie immer. Manchmal bleiben die Zeiten aber ganz einfach im Bett liegen und schlafen noch ne Runde, und es könnte sein, dass wir uns gegenwärtig in solch einer Phase befinden. Trotzdem wachsen wir offenbar mindestens aus dem gelben Bereich heraus, der sowohl für F.D.P. als auch für Neid und Geiz steht. Droht am Ende gar eine umfassende Renaissance der christlichen Grundwerte? – Ich bin mir nicht so sicher, wie weit es in den Gesellschaften westlich des ehemaligen eisernen Vorhangs gelungen ist, die humanistischen Grundlagen hinüber zu retten in eine postreligiöse Gesellschaft. In Teilen des Ostblocks wurde die Kirche trotz Kollaboration mit den Kommunistischen Parteien zu Trägerinnen der Opposition, vor allem natürlich in Polen, aber auch in Russland scheint die Kirche gegenwärtig fast die einzige Institution zu sein, welche moralischen Prinzipien halbwegs konsequent nachlebt, wenn man dort auch einen hohen Preis dafür bezahlen muss, welcher den Namen «Die russische Seele» trägt und eine Mystifizierung sondergleichen beinhaltet; aber wenn man mit der Mystifizierung zu Bett geht, hat man sie vielleicht am Morgen ausgelebt oder sonst wie vergessen. In den neuen Bundesländern Deutschlands dagegen ist die Transformation in ein postreligiöses Wertesystem schnell gelungen, was nix daran ändert, dass die Wurzeln stockchristlich sind. Oder meinetwegen islamisch; wie Ihr wisst, beruhen die Heiligen Bücher der drei großen monotheistischen Weltreligionen alle auf dem gleichen Stamm. – Jedenfalls war es doch bemerkenswert, welche bierseligen Triumphe die Geiz- und Neid-Bewegung zu Beginn des 21. Jahrhunderts gefeiert hat, und neoliberal kann man dieses Aufstoßen mit gutem Grund nennen, da der immer wieder zitierte Grundsatz des Neoliberalismus lautet, dass das Gemeinwohl am besten befördert wird, wenn jeder Einzelne exzessiv für sein Eigenwohl sorgt und alle anderen möglichst stark übers Ohr haut. Daraus entstehe dann die unsichtbare Hand des Marktes. Und jetzt kommt uns Saturn und gackert nur noch etwas von «geil ist geil». Auf einer solchen Ebene ist schlecht Werbung betreiben. Wenn aber die Kurve weiter in die gleiche Richtung dreht, dann müssen wir uns bald wappnen für die zehn Gebote und die Bergpredigt, und der Bund Deutscher Industrieller wird von Angela Merkel erstens die Verwandlung von Wasser in Wein, zweitens die Verdoppelung der Hartz-IV-Sätze und drittens sowieso die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens fordern, Ihr wisst schon, Stichwort Inlandkonsum und so weiter. Wenn wir dann derart christlich korrekt durch die Landschaft wackeln, tauchen hinter uns die Evangelikalen auf, bewehrt mit der anderen Hälfte der Bibelzitate, mit denen halt auch der Christ seine Kriege gegen Andersdenkende, Andersgläubige und nicht zuletzt, wo nicht sowieso vor allem gegen seinesgleichen zu rechtfertigen pflegt. – Da kommt mir übrigens in den Sinn, dass in Großbritannien der alte Krieg zwischen Katholen und Anglikanern wieder in voller Blüte steht, nachdem der Winkeladvokat Ratzinger den reaktionären Teilen des reformierten Klerus und ihren Anhängern die Türe zur heiligen Mutter Kirche voll aufgestoßen hat, sodass in der katholischen Kirche nun die Priesterehe auf dem Umweg über die anglikanischen Pfaffen doch noch eingeführt wird. Vielleicht könnte man auch sagen: auf dem Umweg über den englischen Pudel, denn der Vorreiter dieser Bewegung ist zweifellos der Konvertit Tony Blair, dieser Schandfleck auf sämtlichen historischen Landkarten. Passt mal bloß auf, dass sich der Schrödergerd nicht zum Apostel der russisch-orthodoxen Erdgaskirche mausert.

Wie auch immer: Ich sehe mit einigem Vergnügen, dass sich der Zugriff auf die plumpsten Instinkte der Bevölkerung auf dem Markt nicht mehr rentiert, und wenn ich auch nicht weiß, was denn nun folgt, so halte ich dies schon mal für einen echten Fortschritt. Ein vernünftiger Silberstreif zeichnet sich am Horizont ab. Im kleinen Bereich der Werbesprüche dürfte dies weitere Konsequenzen haben. Nach einer tautologischen Phase, in der VW wieder auf das alte «er läuft und läuft und läuft und läuft» zurückgreift, Colgate mit dem schönen Slogan «Weißer als Weiß geht nicht» auftrumpft und Ariel behauptet: «Sauber ist Sauber», folgt eine allgemeine Versöhnung. Gillette und Wilkison legen ihren Krieg um elektronisch beschallte Sechsfach-Rasierklingen bei und verkaufen wieder normale Rasurköpfe, wenn auch schweineteuer unter dem Motto: Hauptsache, der Schnauz ist weg. Carlsberg Bier wird beworben mit «Trink mit Maß, das macht Spaß», die Pampers-Windeln enthalten noch mehr vitale Wirkstoffe, welche sie an die Babyhaut abgeben, vielleicht sogar wichtige Nährstoffe als Muttermilchersatz oder Muttermilchergänzung, und so weiter. Und wenn Ihr diese neue Ordnung auch auf die Politik überträgt und daraus erst recht einen Exportartikel macht, dann verwandelt sich diese Welt innerhalb von kurzer Frist in ein wahres Paradies. Aber vielleicht dauerts doch noch etwas länger.

Immerhin könnte man sich in Sachen Zeitenwende auch vom Tod des Obertrottels bin Laden bestätigt sehen. 10 Jahre nach dem definitiven Auftritt auf der Weltbühne liegt die fundamental-islamistische Kreatur in den letzten Zuckungen. Das Ende hat sich allerdings schon vor dem Abgang des Kaida-Multimillionärs ereignet, nämlich mit den demokratischen Revolutionen in Nordafrika; das ist ja das genaue Gegenteil davon, was die Kaida angestrebt hat. Somit setzt die Eliminierung von bin Laden nur den Schlusspunkt hinter das Ende, wobei mit verschiedenen letzten Zuckungen nach wie vor zu rechnen ist. Zu diesen Zuckungen zähle ich auch das Aufkommen der Evangelikalen in der alten Christenheit, welche mit Sicherheit nichts mehr und nichts weniger als die Entsprechung zu den fundamentalistischen Tendenzen im Islam bilden. Dieser hirnverbrannte Pastor in den Vereinigten Staaten, der ums Verrecken einen Koran verbrennen musste, darf als Ikone für diese Tendenz stehen; man kann bloß froh sein, dass ihm Rupert Murdoch oder die Gebrüder Koch nicht ein paar Millionen Dollar zur Verfügung gestellt haben, damit er seinerseits eine Rakete in die Hagia Sofia oder noch besser in die Kaaba in Mekka schießt. Nein, die Idioten gehen hüben wie drüben nicht aus; in Kairo legten die Fundamentalisten am Wochenende Feuer an eine koptische Kirche, wir dürfen unsere Köpfe weiter schütteln. Aber auch die nichtfundamentalistische Bewegung sorgt weiterhin für Bewegung in der Hals- und Nackenregion. Offenbar ist es ganz schlimm, dass sich eure Frau Bundeskanzlerin öffentlich über die Tötung von bin Laden gefreut hat. Das scheint man in gewissen Kreisen nicht zu dürfen, es könnte offenbar einen schädlichen Einfluss auf die öffentliche Moral haben. Ich halte dagegen, dass die öffentliche Moral von Dingen wie dem Anschlag auf die Zwillingstürme im September 2001 viel stärker beschädigt wird als von der absolut berechtigten Freude darüber, dass der Auftraggeber schließlich doch noch kurz und bündig erschossen wurde. Richtet bitte Frau Merkel meine besten Grüße und Wünsche aus.

Daneben lese ich in einer Zeitungsbeilage, dass gewisse Ökonomen die Stirn runzeln über das gewaltige Wirtschaftswachstum in der Türkei, das ihrer Ansicht nach nicht zur Gänze von wirtschaftlichen Basiswerten gestützt wird, sondern vor allem auf allzu leichtem Zugang zu Geld beruht, der wiederum dank dem gegenwärtig tiefen internationalen Zinsniveau möglich ist; so soll die Summe der Privatkredite im letzten Jahr um 42% gestiegen sein. Immerhin liegt das Budgetdefizit voraussichtlich bei nur 2% des Bruttoinlandprodukts, was als überschaubar gilt; welches Ausmaß die private Verschuldung tatsächlich hat und was sie im Verhältnis zum Leistungsbilanzdefizit ausmacht, kann ich hier in Ermangelung konkreter Zahlen nicht angeben. Trotzdem halte ich die Perspektiven dieses Landes nach wie vor für gut, indem nämlich zum Wirtschaftswachstum von rund 9% im letzten Jahr (nach einem Rückgang um 5% im Vorjahr) ein zunehmendes geografisch-politisch-strategisches Gewicht kommt, das sich eben auch auf die Wirtschaft letztlich nur positiv auswirken wird. Ich habe verschiedentlich erwähnt, dass der Demokratisierungsprozess in der arabischen Welt zwangsläufig mit einer wirtschaftlichen Komponente untermauert werden muss; wenn dies bei Gelegenheit auch in Syrien zur handfesten Option wird, dann kommt die Türkei erst recht in die Gänge.






Albert Jörimann

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Albert Jörimann
10.05.2011

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