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Aus neutraler Sicht von Albert Jörimann "Der reformierte Pfarrherr"

[22. Kalenderwoche]
Auch ich kenne mehrere Menschen!



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und einige davon mag ich sogar richtig gut. An dieser Stelle möchte ich von einem eher unspektakulären Herrn sprechen, von einem pensionierten calvinistischen Pfarrherrn aus der schönen Stadt Genf. Im Gegensatz zum Beispiel zu Zürich ist in Genf inzwischen die Trennung von Staat und Kirche so gründlich vollzogen, dass der Staat nicht mal mehr Kirchensteuern eintreibt. Während also die evangelischen Priester in der Finanzmetropole Zürich nicht nur mit Talaren, sondern auch mit ordentlichen Salären ausgestattet sind, mit denen sie mit Sicherheit viel Gutes tun, hält sich die protestantische Kirche in Genf nur gerade knapp über Wasser, bezahlt ihrem Personal Hungerlöhne und muss eine ums andere ihre Kirchgebäude verscherbeln, in denen der Zulauf sowieso ähnlich mager ist wie in den übrigen Gotteshäusern des dekadenten entwickelten Europas. Und es ist für die calvinistische Kirche schon ein Erfolgserlebnis, wenn sie eine Käuferschaft findet, welche die Tempel nicht geradewegs in eine Moschee umbauen will. Dabei gäben so ne Kirchentürme doch fantastische Minarette ab, wo doch in unserem Land per Volksabstimmung ein Minarettverbot beschlossen wurde, aber für bestehende Bauten gilt das Verbot eben nicht, und da es sich dabei sozusagen um einen Antennenmasten für die Telekommunikation mit dem lieben Gott handelt, der bei Christen, Juden und Moslems sowieso in etwa der gleiche ist, würde das so ungefähr hinhauen. Aber wie auch immer –

Also kenne ich meinen Pfarrer seit ungefähr 8 Jahren; damals stand er knapp vor dem Rücktritt von den Kirchenämtern, die er meistens in Genf ausgeübt hat, wobei er in den sechziger Jahren auch ein paar Takte in der Mission tätig war, konkret in Kamerun; vor drei Jahren hat er diese Wirkungsstätte mit einer kirchlichen Reisegruppe wieder besucht, wobei sich offenbar in den 50 Jahren seit dem Missionseinsatz derart viel verändert hat, dass nicht einmal ein ordentliches Staunen oder eine schön ausgebaute Wehmut zum Ausbruch kamen. Die Reise war aber allemal eine Reise wert, sozusagen, und der Aufpreis in Form von Durchfall und Magengrimmen war schnell und relativ leicht bezahlt, obwohl mein Pfarrer nicht gerade von eiserner Konstitution ist, sondern ziemlich schmal und fein daher kommt. Daneben möchte ich ihn als bedacht, wo nicht bedächtig, wo nicht überhaupt etwas langsam bezeichnen; in der Kommunikation hat sich seine Geschwindigkeit in keiner Art und Weise den modernen Technologien angepasst, manchmal liest er seine E-Mails nur ein Mal im Monat. Was nichts daran ändert, dass er nach wie vor ein sehr genauer Beobachter ist, ausgestattet mit einem leichten Hang ins Scherzhafte, das aber jederzeit Platz macht für große Seriosität und Ernsthaftigkeit, wenn daran Bedarf ist. In dem Punkt unterscheide ich mich von ihm wohl am meisten, weil ich schlicht nicht in der Lage bin, auch nur einen Satz ohne einen Widerspruch oder einen Jux zu formulieren.

Am meisten beeindruckt hat mich in der ganzen Zeit aber weniger das, was der Kollege Pfarrer gesagt hat, als vielmehr das, was er nicht gesagt oder auch wie er es nicht gesagt hat oder vielleicht auch: was er dann doch, aber wie gesagt hat. Nämlich ist so ein Pfarrherr zunächst doch einmal ein Bestandteil des Verwaltungspersonals der Kirche, und zwar erst noch eines, das mit der Öffentlich¬keitsarbeit betraut ist. So ein Pfarrer muss das Wort Gottes intus und exitus haben und nicht nur bibelfest sein, sondern die donnernde Waffe der Religion und des Glaubens in die Welt und unter die Leute bringen. Und dann ist er als Künder des Wortes Gottes zunächst mal umfassend im Recht. Als Handwerker der christlichen Moral sollte ihm niemand etwa drein pfuschen wollen in ein Weltbild bzw. Lehrgebäude. Allenfalls kann man sich auf ein paar Pfennigfuchsereien oder juristische Winkelzüge einlassen wie der oberste Katholik Ratzinger, aber ansonsten sollte man einem Pfarrer nicht aufs Maul schauen, sondern erst einmal einfach glauben.

Und von all dem, von einem markant priesterlichen Gehabe oder von einer selbstsicheren Attitüde der Gerechtigkeit, ist an diesem emeritierten Priester einfach überhaupt nichts zu spüren. Geradezu sichtbar ist dagegen der hohe moralische Anspruch an sich selber und die konsequente Prüfung aller Dinge, die an ihn herantreten, auf ihre Vereinbarkeit mit den Prinzipien der christlichen Ethik hin. Nicht so, dass man einen Katalog mit erlaubten und unerlaubten Tatbeständen durchblättert, sondern in einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Substanz und Einbettung des Gegenstandes, um den es geht. Dieser Pfarrer ist durchaus schwach im Missionieren, ich könnte mir vorstellen, dass das eine der Erkenntnisse aus der Tätigkeit in der Mission ist; umso stärker muss er im Argument sein, und unter uns gesagt, er versucht seine missionarischen Mängel noch nicht einmal mit einer übertriebenen Rhetorik zu kaschieren. Im Gegenteil wird auch im Gespräch immer wieder abgewogen, er ist durchaus langsam; und viel stärker als die durchaus genau gewogenen Argumente wiegen am Schluss immer wieder Überzeugungen und Taten. Beide wurzeln dabei in der kirchlichen Soziallehre, soweit es so etwas bei den Protestanten gibt, und deutlich nicht in der Moraltheologie, wobei während den acht Jahren unserer Bekanntschaft immer deutlicher in den Vordergrund trat, dass die Soziallehre letztlich den mächtigsten Teil der Moraltheologie bildet.

Nun verhält sich die zivilisierte Welt so, dass sie mitten in ihrem relativen und absoluten Reichtum kaum Bedarf hat an Moral, und zwar eben aus dem Grund, dass sie reich ist; Moral ist primär zur Organisation von Armut nützlich, nicht aber von Reichtum, oder modern formuliert: Moral braucht es zur Regulierung von beschränkten Ressourcen, nicht von Überfluss. Ich bin wirklich überzeugt, dass es eine direkte Korrelation zwischen steigendem Wohlstand und abnehmender Religiosität gibt, wobei das Abnehmen der Religiosität ein komplexerer Prozess sein könnte als ein rein quantitativer, denn die entsprechenden Werte können auch einfach nach innen wandern und dort munter weiter existieren, einfach nicht im Anzug der frommen Kirchengläubigkeit. Diesen Prozess hat offenbar auch ein Teil des Klerus begriffen; die neuen Umstände zwingen logisch dazu, die christlichen Werte zunehmend vorauszusetzen als sie zu verkünden oder gar mit dem Arm irgend eines Gesetzes zu erzwingen. Das Ergebnis sind dann eben Menschen wie mein Kollege Leutepriester: Es sind Personen von absolut untadeligem Verhalten, absolut reflektierte Charaktere, die aber ihr Programm und ihre Werte nicht mehr laut in die Welt hinaus schreien, sondern sie gerade noch auf jenen paar Kanzeln verkünden, welche ihnen verblieben sind und vor einem Publikum, das sich in absoluter Freiwilligkeit einfindet, einmal abgesehen von den alten Menschen, welche Trost suchen entweder in der Religion oder mindestens in den überlieferten Formen – was für sie mit hoher Wahrscheinlichkeit auch kein Pappenstiel ist.

Ich glaube wirklich, dass mein Kollege oder sogar Freund, wobei ich das nicht so genau weiß, da wir uns definitiv viel zu wenig sehen und auch im Lauf der Jahre kaum einmal länger miteinander gesprochen haben, dass also mein Freund und Kollege ziemlich exakt an jenem Punkt die Theologie praktiziert, da sie sämtliche vernünftige Kritik sowohl an der Bibel als auch an der Religion und drittens und ebenso wichtig an der Kirche als Institution absolut übernommen hat und die frohe Botschaft im Wissen um die zum Teil brutale und blutige Kirchengeschichte mit der Zurückhaltung eines modernen, eben aufgeklärten Bewusstseins verkündigt. Nun erwähne ich dies nicht, um hier in seinem Namen Propaganda zu machen für das Christentum, dazu bin ich unglücklicherweise nicht in der Lage, obwohl ich klar erkenne, dass meine ontologischen Koordinaten – ich bitte um Verzeihung für diesen Ausdruck ebenso wie um Verständnis dafür, dass ich in gelehrten Exkursen auch hin und wieder ein Fremdwort platzieren muss –, dass also die Eckpunkte meines Wertesystems klar aus der kirchlichen Küche stammen und mir von meinen durchaus gläubigen Eltern eingetrichtert wurden, bevor die Religionskritik an die Reihe kam. Ich erwähne dies aus dem Grund, weil ich in diesem Kollegen Pfarrer aus Genf eine eindrückliche Gegen-Figur sehe, sowieso zu all den Großkotzen, die das Bild in den elektronischen Medien bestimmen, vor allem am unteren Rand mit derart abscheulichen Kotzbrocken jenseits sämtlicher Wertesysteme wie Dieter Bohlen und Konsorten, aber auch in zentralen Gesellschaftsbereichen, wo Grundsatzfragen der Gesellschaft diskutiert werden, also im Bereich des Politischen; und auch hier haben die Medien im Publikum schon längstens jenen Bedarf nach Heldenfiguren oder Missionaren irgendwelcher Art geschaffen, nach Charaktermasken, welche innerhalb der ihnen zur Verfügung stehenden 4 Sekunden Sendezeit irgendwelche Stereotype absondern müssen, welche ihnen und ihren Parteien nachher als Markenzeichen dienen und zur Wahl verhelfen. Kurz: Mein Freund Pierre Herold ist für mich die eigentliche Gegenfigur zu all dem hirnlosen, unzivilisierten Stuss, welcher uns dauernd in die Quere kommt, wenn wir uns ernsthaft darum bemühen, periodisch so etwas wie Einsicht zu gewinnen.

Sie sind übrigens durchaus nicht in der Mehrheit in ihren Kirchen, weder in Genf noch in Zürich noch in Dresden. Die Führungsriege in den Kirchen kennt das Problem und versucht, mit den Mitteln der modernen Kommunikation einigermaßen im Rennen zu bleiben. Die Haltung meines Kollegen und seiner MittheologInnen erscheint nämlich erstaunlich defensiv, wobei sie im Grunde eher passiv ist; passiv aufgrund der Einsicht, dass der wirklich autonome Mensch seine Einsichten eben selber tätigen muss und nicht aufgrund einer PR-Veranstaltung in einem Raum, der bloß zufällig gerade Kirche heißt. Hier kommt natürlich das evangelische Prinzip der privaten Zwiesprache mit dem Schöpfer zur vollen Blüte, aber eben, es ist auch defensiv. Dabei hat es durchaus seine Attraktivität. Wenn ich kürzlich meinem Erstaunen Ausdruck verliehen habe darüber, dass nicht mal mehr MediaMarkt/Saturn mehr auf den Spruch «Geiz ist geil» setzt, dann betrifft dies auch die zugrunde liegende Marktforschung, welche offenbar ausfindig gemacht hat, dass das Kaufpublikum langsam doch wieder auf andere Werte anspringt als nur gerade auf den allerplattesten Materialismus, der im übrigen nicht zu verwechseln ist mit dem Materialismus im philosophischen Sinne. Einfach setzt die passive Haltung solcher Theologenmenschen durchaus voraus, dass der Gesamtmensch in den entwickelten reichen Gesellschaften letztlich imstande ist, selber zu denken. Obwohl es eigentlich keine Begründung gibt für diese Annahme, handelt es sich um ein Axiom, das ich selber ebenfalls als Maxime setze. Vielleicht verstehe ich mich mit Pierre Herold aus diesem Grund, manchmal durchaus auch ohne Worte.





Albert Jörimann

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Albert Jörimann
31.05.2011

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