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Aus neutraler Sicht von Albert Jörimann "Die Weltlage nach bin Laden"

[18. Kalenderwoche]
Erst in 20 Jahren wird man sagen können, ob die Bande um Osama bin Laden letztlich ein Relikt irgendeiner Steinzeit war oder ob sie eine neue Epoche einläutete; jedenfalls war sie insofern postmodern, als sie ein prähistorisches Weltbild verband mit höchst zeitgemäßen Waffen- und Kommunikationssystemen, mit Dingen also, die als solche ihrem Glauben widersprechen.



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Fest steht auf jeden Fall, dass die Erledigung des Cheftrottels die Wiederwahl von Präsident Obama im nächsten Jahr gesichert hat, immer unter der Voraussetzung, dass die republikanische Nazipropaganda nicht vorher zu einem erfolgreichen Attentat führt, wie ich dies ja schon seit zwei Jahren erwarte. Bisher vergebens, Gottseidank, bloß die Abgeordnete Gabrielle Giffords wurde niedergeschossen von einem Fan, der die Tea-Party-Slogans so wörtlich nahm, wie sie gemeint sind. Wenn die jetzt ihre Felle definitiv davon schwimmen sehen, werden sie wohl die richtige Artillerie aus dem Kasten holen, und damit wird’s nochmals brenzliger für den einzig wahren Barack Obama. Der Staatsfeind Nr. 1 ist erledigt, und gerade deswegen herrscht in der Umgebung des Präsidenten höchste Alarmstufe – nicht wegen möglicher Racheakte der Kaida, sondern wegen des Tea-Party-Gesocks, das eben hauteng hinein passt in die Vermutung, dass doch eine neue Epoche angebrochen ist. Die Amis spinnen. Offenbar denken sie das umgekehrt auch von Europa; mindestens Mitt Romney, einer der ewigen republikanischen Präsidentschafts-Kandidaten-Anwärter, schießt verbal in allen ballistischen Kurven gegen den alten Kontinent, wo es ja lauter so verdammenswerte Einrichtungen wie obligatorische Krankenkassen, Sozialversicherungen, Gewerkschaften und rudimentäre Regeln für die freie Marktwirtschaft gibt, auch die Straßen sind nicht im Arsch, das Eisenbahnnetz mindestens in den Rudimenten noch intakt und so weiter; daneben haben die Europäer noch nicht mal einen richtigen Präsidenten, und unter richtig versteht Mitt Romney natürlich sich und seinesgleichen. Nein, Europa ist aus Sicht der US-Republikaner definitiv abgeschifft.

Aus meiner Sicht gilt dies allerdings in erster Linie für die USA. Für die dringend notwendigen Infrastruktur¬projekte fehlt es diesem Land an jenen Mitteln, die es erst recht nicht dafür einsetzen würde, wenn es sie hätte. Zwar verfügt das Land nach wie vor über ein gewaltiges Wirtschaftspotenzial, aber daneben wächst vor allem die relative Armut, während die globale Bedeutung zunehmend auf die militärische Kraft zurückgestutzt wird. Wenn man das Finanzkapital ebenfalls als eine Waffe ansieht, dann war die Finanzkrise vor drei Jahren eine gewaltige Abrüstungsrunde, von der in erster Linie die Vereinigten Staaten betroffen waren. Eine Weile lang können sie mindestens ihre Exporte noch mit weiteren Dollar-Abwertungen stützen wie früher die Italiener; aber wenn der Wechselkurs demnächst mal unter 50 Cent sinkt, dürfte die Toleranz- und Schmerzgrenze nicht nur der Europäer überschritten sein. In der Beziehung hört man zum Beispiel von den Chinesen offiziell überhaupt nichts; dabei haben sich ihre Guthaben mit dem sinkenden Dollar innerhalb von zwei Jahren schlicht halbiert. Offenbar macht das nicht allzu viel aus, solange die USA nach wie vor den wichtigsten Absatzmarkt für ihre Waren bieten, aber hier bauen sich wirtschaftstektonische Spannungen auf, die bei Gelegenheit irgendwie abgeführt werden sollten, wenn es nicht zu einer Eruption kommen soll. Und wie führt man solche Spannungen ab? – Eine Möglichkeit besteht darin, dem Handelspartner Zugang nicht zum Absatzmarkt, sondern zu Besitzrechten einzuräumen. China könnte sich zum Beispiel die US-amerikanische Automobilindustrie unter den Nagel reißen, wenn es dazu Lust verspürte, wobei ich an ihrer Stelle eher auf Informatik, Pharmazie und Biotechnologie setzen täte. Das wiederum müsste zulasten anderer Partner gehen, zum Beispiel der Araber, die sich sowieso nach wie vor nicht weiter um eine geostrategische Rolle zu bemühen scheinen, wenn man mal vom Experiment Osama bin Laden absieht. Wir werden sehen, wie das heraus kommt, und vielleicht gibt’s dabei sogar was zu lachen.

Unabhängig davon bleibt die Aufgabe bestehen, in Nordafrika so schnell wie möglich ein wirtschaftliches Potenzial bereitzustellen. Ich habe die Landwirtschaft erwähnt als erste und einfachste Möglichkeit. Tourismus ist auch nicht zu verachten, insbesondere, da die entsprechenden Infrastrukturen mindestens in der Substanz bereits bestehen. Tele- und andere Kommunikation sind weitgehend binnenwirtschaftliche Träger, hier sollten ebenso wenig Probleme bestehen. Vor ein paar Monaten habe ich mich an dieser Stelle einmal darüber mokiert, dass gewisse private Spitalgruppen die Errichtung von Luxusspitälern planen, in denen reiche EuropäerInnen gepflegt werden sollen; das müsste nicht mal so abwegig sein, wenn es gekoppelt wird mit dem Aufbau entsprechender Kapazitäten und Qualitätskriterien für die einheimische Bevölkerung. Jedenfalls würden damit moderne Einrichtungen entstehen, wo auch entsprechendes Personal ausgebildet werden kann. Daneben pflegt man halt die üblichen Verdächtigen unter den Leitindustrien, Chemie, IT, Biologie usw., was alles einen erheblichen Anstieg des Bedarfs an gebildeten Menschen mit sich bringt – also gleichzeitig rein in die Universitäten, Freunde. Und schließlich haben die Jungs in Nordafrika ein Gut im Überfluss, das in Europa an vielen Orten Mangelware ist: Sonne und damit auch Sonnenenergie. Letzte Woche habe ich mich belehren lassen, dass der Transport von elektrischem Strom auch über längere Distanzen mit geringen Verlusten vorgenommen werden kann, wenn man dazu Gleichstrom-Hochspannung verwendet anstelle von Wechselstrom. Na bitte – diese Technik ist vorhanden, es geht nur noch darum, sie einzusetzen. Also bitte – worauf wartet Ihr noch? – Aber vielleicht sind Eure Solarexperten schon längst auf Erkundungsmission in Tunesien, wer weiß.

Daneben warten wir mit Spannung darauf, welche Auswirkungen die Ausweitung des freien Personenverkehrs auf Polen und die baltischen Länder haben werden. Die meisten Prognostiker sehen dem gelassen entgegen, und auch ich erwarte keine substanziellen Veränderungen, außer dass vielleicht ein paar deutsche 1-Euro-Arbeitslose in Polen eine Beschäftigung suchen werden. Das größte Interesse besteht offenbar im Gesundheitssektor, wo polnische Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger jenes deutsche Personal ersetzen soll, das unterdessen in der Schweiz arbeitet. Davon abgesehen sind die OsteuropäerInnen eh schon da bzw. stehen die Fabriken schon länger in diesen Ländern, sodass der Abbau von Grenzschranken nur noch im Recht nachvollzieht, was mit Fakten zuvor schon geschaffen wurde. Das ist dann wieder eine positive Entwicklung.

Sozusagen ewigen Bestand haben daneben jene Fragen, die am 1. Mai jeweils auf Transparenten gestellt werden. Wieso sind die Superreichen so reich? – Keine Ahnung. Eine Begründung oder Rechtfertigung im Rahmen jener Argumentationsketten, die sie selber bzw. ihre Apologeten im öffentlichen Raum aufstellen, gibt es jedenfalls nicht. Insgesamt ist wohl weniger ihr Reichtum das Wunder als vielmehr die Tatsache, dass sich die Bevölkerung nicht nur in Deutschland, sondern überall auf der ganzen Welt nicht zur Wehr setzt, weniger gegen den dank dem Reichtum möglichen Luxus – Luxus um des Luxus willen ist eine völlig ephemere und erst noch letztlich saudumme Sache – als vielmehr gegen die damit verbundene Macht, gegen die Tatsache, dass eine Klasse von Besitzenden praktisch das Alleinbestimmungsrecht über die Zukunft der Kollektivitäten besitzt. Eines scheint mir dabei ziemlich klar: Die politische Linke und die Gewerkschaften schaffen mit ihren alten Slogans eine Stimmung, bei der sich zwar laut mit grölen lässt, bei der aber der Großteil der arbeitenden und relativ besitzlosen Klassen insofern nicht abgeholt werden, als sie selber unterdessen auch einen bescheidenen Reichtum angespart haben. Hier müssten mal ein Parolendesigner oder eine Designerin über die Bücher gehen und ein paar Aktualisierungen vornehmen. Vielleicht kommt man weiter, wenn man die Kollektivierung von Vermögen über 100 Mio. Euro fordert. Selbstverständlich werden dann die Betroffenen damit drohen, sofort auszuwandern, und da die Vermögen bzw. da das Kapital seit eh und je vaterlandslose Gesellen waren, handelt es sich hier um eine recht handfeste Drohung, mit der tatsächlich Ernst gemacht werden kann. Umso wichtiger ist es, solche Ansätze länderübergreifend zu entwickeln, und Ihr habt ja das schöne Beispiel der Europäischen Union unmittelbar vor Eurer Haustüre. Versuchts doch mal auf dieser Ebene. Abgesehen von allem anderen: Reichtum entsteht ja in der Regel nicht einfach so, sondern nach wie vor entweder aus Handelsgewinnen oder aber aus der Ausbeutung im industriellen Prozess. An der Quelle bestehen somit immer noch Möglichkeiten, an denen man den Hebel ansetzen kann. Wenn man bloß will.

Jahaa, wenn man wollte! Wenn man wollte, würde sich in unseren Ländern bei Gelegenheit eine Schicht materialisieren, die sich dem einzigen Gut verschreiben täte, welches uns dauerhaft eine Zukunft sichern kann, nämlich dem Intellekt oder dem menschlichen Geist in seinen verschiedenen Spielarten. Unglücklicherweise haben sich die Massenmedien mehr oder weniger von Anfang an nicht als reine Transportmittel dieses Geistes herausgestellt, sondern sie dienen aufgrund von Gesetzmäßigkeiten, zu denen ich mich hier nicht äußern muss, viel eher der Verbreitung des Anti-Intellekts, von der klaren und geschliffenen Lüge bis hin zur platten Dummheit. Unglücklicher¬weise sind die Trennlinien zwischen Geist und Ungeist nicht immer klar und sofort erkennbar, aber mit etwas Denkenergie lassen sich die groben Unterschiede doch recht schnell ausmachen. Unglücklicherweise ist es aber zudem so, dass Geld, Macht und Kapital justament zum Zwecke der Selbsterhaltung kaum einmal ein Interesse daran haben, dass sich der allgemeine Erkenntnisstand in der Bevölkerung verbessert. Einige tapfere Ausnahmen in der kleinen Menge der Besitzenden machen hier keinen entscheidenden Unterschied. Trotzdem ist dies eine Schicht, auf die ich praktisch alle meine Hoffnungen setzen. Schwierig ist dabei, dass es diese Schicht noch gar nicht gibt, denn zu ihrer Existenz muss sie zuerst so etwas wie ein großes Buch schreiben. Dabei könnte man diesem Buch nicht mal einen Titel wie die geistige Erneuerung geben – diese Parole besetzen bereits Heerscharen von Betrügern, welche den objektiven Mangel an Vernunft ohne jedes Zögern in Kleingeld umsetzen. Nein – da muss wieder so etwas her wie eine Denkschule bzw. eine Bewegung unabhängiger Köpfe, die von den Universitäten her kommen muss, von universitären Abteilungen, welche nicht Fachidioten ausbilden, sondern Menschen mit einem breiten Verständnis dessen, was kreucht und fleucht und vor allem dessen, was möglich und nötig wäre. Diesen Wunsch hätte ich, bitteschön noch für Weihnachten dieses Jahres.









Albert Jörimann

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Albert Jörimann
03.05.2011

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