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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Obamacare -

Irgendwann macht man schlapp im Kampf der Ideologien, vor allem dann, wenn in der Praxis doch immer das Gleiche heraus kommt, egal, welche Ausrichtung gerade am Drücker ist.


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artikel/Aus neutraler Sicht/J_KW_49_200px.pngAuch die Parolen nutzen sich ab, die Weltanschauungen verlieren ihre Bedeutung in den modernen Gesellschaften, weil sie alt sind oder einfach keine Antworten bieten in einer Zeit, die auch keine Fragen mehr stellt, mindestens nicht solche, die auf ideologischer Ebene zu beantworten wären. Gelegentlich kommt es noch zur Ausbildung von Karikaturen solcher Ideologien, zum Beispiel im nationalistischen Taumel in Ungarn, und ein anderes Beispiel sind die Teetrinker in den Vereinigten Staaten, welche die Lehre vom freien Markt unter anderem auf die Krankenkassen anwenden möchten. Das Krankenkassen-Obligatorium, das Barack Obama endlich, endlich eingeführt hat, löst bei den verstockten Landeiern ähnliche Reaktionen aus wie der Flugzeugangriff auf die New-Yorker Zwillingstürme vor zwölf Jahren. Trotzdem macht es den Anschein, als wären die wichtigsten Widerstände jetzt endlich gebrochen.

Ein paar Wochen nach der Inbetriebnahme spricht man auf der ganzen Welt von den offenkundigen Mängeln des Projekts. Irgendwie hat es die US-amerikanische Regierung nicht geschafft, rechtzeitig eine Webplattform einzurichten, welche einigermaßen verständlich ist und anderseits den absehbaren Ansturm von Anfragen auch bewältigen kann. Die Anfragen decken zweitens auch die massiven Lücken auf, welche in der Versicherungspraxis entstehen, vor allem beim Übergang von existierenden Versicherungen zu den neuen obligatorischen Formen. In gewissen Bundesstaaten haben ganze ärmere Bevölkerungsgruppen den Schutz der bisherigen staatlichen Medicare verloren und noch keinen Prämienausgleich erhalten, weil die entsprechenden Regelungen eben von den betreffenden Bundesstaaten erlassen werden müssten, und wenn da per Zufall Republikaner an der Macht sind, welche sich immer vehement gegen Obamacare gestemmt haben, dann sehen die Betroffenen jetzt alt und je nachdem auch krank aus.

Neben der erheblichen Verwunderung darüber, wie nachlässig die Regierung Obama dieses Herzstück ihrer Amtszeit angepackt hat, kann man heute von einer Krise von Obamacare sprechen, aus welcher das System überhaupt geboren wird, eine Krise, welche es erlauben sollte, die neuen Regelungen innerhalb von nützlicher Frist im ganzen Land zur Anwendung zu bringen. Ich will dabei nicht so tun, als würde ich allzu viel davon verstehen; im Kern geht es meines Wissens darum, dass alle BewohnerInnen zum Abschluss einer Krankenversicherung gezwungen werden, welche für die ärmeren Bevölkerungsschichten subventioniert wird, es gibt also nicht etwa eine staatliche Krankenkasse; umgekehrt müssen alle privaten Krankenversicherer grundsätzlich alle InteressentInnen in die Versicherung aufnehmen. Aber die Ausführungs­details und die Fristen bei der Inkraftsetzung sind ziemlich komplex und wie gesagt sehr stark abhängig davon, wie und wie schnell die einzelnen Bundesstaaten ihre eigene Gesetzgebung anpassen. Insgesamt aber hat sich dieser Zug jetzt in Bewegung gesetzt, und ich sehe keinen Anlass mehr, den noch zu stoppen oder zum Entgleisen zu bringen, und insofern spreche ich hier meine Gratulation aus.

Daneben hören offenbar auch die Bitcoins Radio F.R.E.I., denn nach meinem Beitrag letzte Woche haben sie zu einem Kurs-Höhenflug angesetzt und wurden Ende letzte Woche für 1000 US-Dollars gehandelt, nachdem sie im April mal zwischen 135 und 263 Dollars herum getorkelt waren; irgendwie ist auch das nicht so toll für eine kommende Weltwährung. Im Gegensatz zu Obamacare habe ich hier aber ernsthafte Zweifel, ob die Kursausschläge eine Anfangskrise darstellen, aus welcher sich ein stabiles und allgemein anerkanntes und verwendetes Zahlungsmittel herausbildet.

Mit großem Entzücken haben wir auf der ganzen Welt festgestellt, dass sich die beiden großen sozialdemokratischen Blöcke in Deutschland auf einen Koalitionsvertrag geeinigt haben. Man fragt sich hier und dort, wie es mit der Finanzierung steht, wenn keine neuen Steuern erhoben werden sollen, man hat auch noch weitere Fragen, etwa wegen der Europa-Kompatibilität der Pkw-Maut für Ausländerinnen, vor allem aber wartet man gespannt auf den Ausgang der Urabstimmung unter den SPD-Mitgliedern zu diesem Koalitionsvertrag. Gleichzeitig wundert man sich über die Kritik an diesem basisdemokratischen Verfahren innerhalb der SPD, bei dem angeblich das Wahlergebnis der Bundestagswahlen letztlich von der Zustimmung von ein paar zehntausend SPD-Wählerinnen und Wählern abhänge. Aber das sind doch eher Krautrouladen; die SPD ist nun mal so in die Verhand­lungen gegangen, und die CDU/CSU wusste exakt, dass der Koalitionsvertrag dieser Prüfung unterzogen würde. Dementsprechend kam das Ergebnis auch ziemlich ehrenhaft für die SPD heraus, aber wie gesagt: Die beiden Blöcke sind im Kern sowieso sozialdemokratisch, die CDU vielleicht noch etwas stärker, weil die SPD doch nach wie vor am Erbe der liberalen Arbeitsmarkt­reformen unter Gerd Schröder zu beißen hat, ganz abgesehen davon, dass eben auch ihre Ideologie nicht mehr ganz taufrisch wirkt; da hat es die CDU besser, die eigentlich nie eine richtig knackige Weltanschauung vertreten hat.

Unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Vertragsinhalte erinnerte sich der journalistische Reflex an seine wichtigste Aufgabe, nämlich an das Stellen kritischer Fragen, und diesmal ging es nicht um eine 400-Euro-Gutschrift für Christian Wulff, sondern um die deutschen Infrastrukturen. In der Tat: Irgendwo habe ich letzthin gelesen, dass gewisse Bestandteile für Windturbinen nicht mehr über eine Brücke über den Nord-Ostsee-Kanal transportiert werden dürfen, weil die dafür zu schwach sei, und so oder ähnlich verhält es sich noch mit weiteren Infrastrukturbereichen, von den Verkehrs­verbindungen über die Kanalisation bis hin zur Versorgung mit Elektrizität, Erdgas, Wasser usw. Offenbar hat eine Regierungskommission kürzlich errechnet, dass es allein für die Modernisierung der bestehenden Infrastrukturen in den nächsten 15 Jahren rund 7 Milliarden Euro jährlich braucht. Woher diese Mittel kommen, wenn es, wie gesagt, keine Steuererhöhungen geben darf, das bleibt schleierhaft. Tröstlich ist immerhin, dass Deutschland mit diesem Problem nicht allein ist, und zwar sowohl bezüglich des Erneuerungsbedarfs als auch bezüglich der Finanzierung. Letztere sollte eigentlich kein allzu großes Problem sein in einem reichen Land; aber da es sich um Mittel handelt, welche man von der Bevölkerung verlangt, hängen damit sehr viele verkorkste Argumentations­stränge zusammen. Die bestehenden Einnahmen sind logischerweise weitgehend aufgeteilt, und niemand will davon etwas abgeben, während Steuererhöhungen zum großen Feindbild geworden sind, dessen sich sämtliche Parteien bedienen, auch jene, welche dringend auf Staatsgelder angewiesen sind, und das sind so ziemlich alle. Das ergibt eine besonders unüberschaubare Schichtung aus populistischem Gebrüll einerseits, Interessensklungelei hinter den Kulissen anderseits und drittens eben einer vermeintlich ideologisch-weltanschaulichen Soße, welche darüber gegossen wird, sodass man entweder die Lust an der Politik oder aber an der Sprache verliert.

Jetzt kann man sagen, dass man eigentlich einfach die Diskussion darüber führen müsste, was das Land wirklich will, ob eine Rentenreform, Betreuungsgeld, den Ausbau des Bildungssektors, wobei gerade der Bildungssektor das Paradebeispiel dafür ist, dass man nicht einfach in Geld messen kann oder sollte. Ich stelle vorsichtshalber mal die Arbeitshypothese auf, dass man in sämtlichen Ländern der EU und auch in der Schweiz die Bildungsausgaben halbieren könnte, ohne dass sich die Qualität der Bildung verschlechtern müsste, unter der Voraussetzung, dass wirklich alle Beteiligten ihrem Bildungsauftrag auch nachkommen, und zwar innerhalb von klaren und einfachen Strukturen. Die Renten- oder insgesamt die Transferleistungen gehörten auf eine neue Grundlage gestellt, Ihr wisst schon, auf der Grundlage eines Grundeinkommens; ein ebenfalls überall bestehendes Phänomen ist die Alterung der Bevölkerung, verbunden mit den Fortschritten in der Medizin, welche unbedingt sämtlichen Bevölkerungsteilen zukommen müssen, was Auswirkungen hat auf die gesamte Geometrie der Einkommensverteilung und -verschiebung. Genau zu dieser Geometrie fehlen mir aktuelle Angaben, sowohl für Deutschland als auch für die übrigen Länder. Denn vernünftige Aussagen zu einem Verteilungsziel innerhalb dieser Geometrie wären die Voraussetzung für die entsprechende politische Ausrichtung, aber davon will wiederum niemand etwas wissen, weil auch hier alle Parteien und Interessenvertretungen befürchten müssten, dass sie Ansprüche verlieren könnten, welche sie in der Vergangenheit mal erworben haben und aus irgend­welchen Gründen bis heute verteidigen können. Also liegt diese Unklarheit in der Logik des politischen Konsens, sie liegt im allerobersten Interesse sämtlicher Formen irgend einer Koalition, egal, ob rot-schwarz, grün-schwarz, gelb-schwarz, rot-grün oder sogar rot-rot-grün. Das ist einerseits schade und anderseits der prominenteste Beleg dafür, dass man die Bildungsausgaben halbieren könnte, weil nämlich andernfalls die entsprechenden Untersuchungen längstens getätigt worden wären und als Grundlage dienen würden für eine politische Bewegung, welche sich voll und ganz einem mittelfristigen Pragmatismus verschreibt.

Wer dagegen die Revolution zum Ziel hat, der hat es vergleichsweise einfach, denn er kann sich einfach gegen alles stellen. Aber das ist wohl in sozialdemokratischen Ländern schlicht und einfach nicht aktuell.

Was die Infrastrukturen angeht, so habe ich noch zu vermelden, dass die Transrapid-Idee, also die Magnet-Schwebebahn-Technik, zwar in München gescheitert ist, gegenwärtig aber in Japan in einer Blüte steht, die allerdings ebenso subventioniert ist wie vor zehn Jahren der Transrapid. Geplant ist eine Verbindung zwischen Tokio und Osaka, die im Jahr 2045 fertig gestellt sein soll; gegenwärtig verkehren offenbar bereits einige Züge auf einer Teststrecke im Landesinnern. Die Aufwände sind allerdings nicht gesunken; die Strecke Tokio-Osaka soll insgesamt rund 100 Milliarden Dollar kosten. Damit wenigstens ein Teil des Entwicklungsaufwands durch den Export des Systems gedeckt wird, versuchen die Japaner gegenwärtig, die USA davon zu überzeugen, ihrerseits eine erste Linie zwischen New York und Washington zu bauen, und sie würden gewisse Teile dafür sogar kostenlos liefern. Deutschland hat auch diesbezüglich seine Erfahrungen gemacht, damals mit China. Es wurde damals nichts damit; die Tatsache, dass man nicht nur sehr kleine Mengen an Zügen bauen kann, sondern auch alle Trassen völlig neu erstellen muss, dass es also keinerlei Kompatibilität zum übrigen Schienennetz gibt, versetzt diese Technik in Zeiten leerer Kassen noch auf absehbare Zeit hinaus ins Hintertreffen.



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Albert Jörimann
03.12.2013

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