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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Innentemperaturen -

Der Monat November enthält nicht nur kalendarische Leckerbissen wie den 11.11., den Beginn der Fastnachtszeit, der in der zeitgenössischen Gesellschaft allerdings vorverschoben wurde auf den letzten Oktober unter der Bezeichnung Halloween im Zuge der allgemeinen Feiertagswanderung.


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artikel/Aus neutraler Sicht/J_KW_47_200px.pngBei uns ist Halloween innerhalb von sagen wir mal zehn Jahren zum zweiten Schulsylvester geworden, gemischt mit dem früheren Niklausumzug, bei welchem die Kinder in den Dorfläden kleine Gaben erhielten; heute, wo es kaum mehr Quartierläden gibt, klingeln sie an den privaten Wohnungstüren. Beim Schulsylvester dagegen haben ebendiese Kinder die Lizenz zum Streiche spielen, und dies richtet sich insonderheit gegen Briefkästen und Türschlösser, und das Haupt-Aktionsmaterial ist dabei Rasierschaum. So nun auch an Halloween. Der Martinstag, eben der 11. November dagegen war früher der Zehnten- oder Zins- oder Steuertag. Jaja, Steuern gab es auch früher, als es noch keinen Staat gab, nur dass sie damals vom Lehensherrn direkt eingetrieben wurden und dass der das Recht hatte, einem säumigen Zahler direkt den Kopf abzuschlagen. So etwas würde heute die Arbeit auf der Steuerbehörde mit Sicherheit attraktiver aussehen lassen. Wenn nicht der Steuerpflichtige selber, so wurde an diesem Tag doch immerhin jene Gans geköpft, welche besagter Steuerzahler als Steuer zu entrichten hatte. Trotzdem hat sich nicht Gänsekopf, sondern bloß Gänsekeule als Gericht erhalten. – Sodann gilt der November auch noch als das Jahres-Zeitzentrum der Depressionen oder der Melancholie: Die eben noch besungene vorübergehende Farbenfreude des Herbstes mit seinem Überfluss an Früchten und anderem Erntegut weicht der nackten Einsicht, dass das Jahr, produktionstechnisch gesprochen, schon wieder vorbei ist. Und schließlich ist da vor allem, und darauf möchte ich hier kurz eingehen, der Temperatursturz, welcher die vorangegangene Umstellung vom Sommer- aufs Winterklima abschließt. Und zwar im folgenden Zusammenhang:

Es ist bekannt, dass die objektiv messbare Temperatur von den Menschen je nachdem ganz anders empfunden wird als eben die objektiv gemessene Temperatur. So etwas kann äußere Ursachen haben, zum Beispiel einen scharfen Wind oder den Grad an Luftfeuchtigkeit, aber diese Faktoren reichen nicht aus, um den Unterschied zwischen der gemessenen Temperatur und der empfundenen Temperatur zu erklären. Nun haben sich Forscher an der Universität Toronto daran gemacht, diese Unterschiede genauer, naja: zu erforschen halt. Ihr Ziel ist es, vermittels der dabei gewonnenen Einsichten so etwas wie eine neue, zusätzliche Temperaturskala einzurichten. Als erstes wurden von drei anerkannten Umfrageinstituten fast 10'000 Menschen in ganz Kanada nach den entsprechenden Empfindungen befragt, und zwar über einen Zeitraum von 12 Monaten hinweg. Dieser Versuch wurde zwei Jahre später bei einer Kontrollpopulation von noch rund 4000 Personen wiederholt. Die entsprechenden Werte wurden anschließend in Bezug gestellt zu den äußeren Temperaturdaten und verglichen mit einer Reihe von personenbezogenen Parametern, welche von den Forschern die «inneren Werte» genannt wurden; diese wiederum wurden mit verschiedenen, in der psychologischen Praxis erhärteten Kriterien aus der Charakterbildung verglichen. Dies sollte es erlauben, die individuellen Besonderheiten in eine wissenschaftlich erfassbare Form zu bringen.

Die Ergebnisse wurden nun im New England Journal of Modern Meteorology zum ersten Mal veröffentlicht, und sie zeigen ein verblüffendes Bild. So beträgt die Abweichung der gefühlten Temperatur von der Außentemperatur im November volle 6.6 Grad, und zwar nach unten, während die Abweichung im Dezember auf 1.5 Grad sinkt, immer noch nach unten; im Januar beträgt die Abweichung volle 7 Grad, aber diesmal nach oben, sinkt dann aber im Februar auf knapp 1 Grad Celsius, diesmal wieder nach unten. Im März gibt es einen optimistischen Ausschlag nach oben um wiederum 7 Grad, wobei sich beim März die erste und die zweite Monatshälfte deutlich unterscheiden; in der ersten Monatshälfte liegt die gefühlte Temperatur um fast 10 Grad über der Außentemperatur und passt sich dann in der zweiten Monatshälfte bis auf 4 Grad an die Wettertemperatur an. All diese Werte sind statistisch erhärtet und untermauert und somit wissen­schaft­lich armiert, das heißt, sie gelten auch unabhängig von den persönlichen Charakter­eigen­schaften und Stimmungsschwankungen.

Angesichts dieser Ergebnisse sind sich die Forscher in Toronto uneins, wie nicht nur die Inter­pre­tation, sondern auch die Fortführung der Arbeiten auszusehen hat. Es steht fest, dass aufgrund der vorliegenden Daten keine Rückschlüsse auf die Charakterbildung zulässig sind; dabei war ursprünglich genau dies eines der wichtigen Forschungsziele gewesen. Laut Professor Laurids Malte Stigmarsson, der den Bericht im New England Journal of Modern Meteorology verantwortlich unterzeichnet, hätte eine jahreszeit-unabhängige Skala der inneren Temperaturschwankungen als wichtiges Indiz für einen zu erstellenden Psychobarometer dienen können, welcher als Ergänzung zu den aktuellen neurologischen Forschungen anderer medizinischer Abteilungen zu einem tragenden Element eines umfassenden Bewertungssystems für den psychoemotionalen Komplex hätte werden können, den man früher mit dem außerordentlich unpräzisen Begriff «Seele» bezeichnet hat und der in der neueren Literatur bereits deutlich genauer in der Terminologie der psychologischen Wissenschaften abgehandelt wird, ganz abgesehen von den soeben erwähnten neurologisch-neurobiologischen Forschungsaktivitäten. Tatsächlich wäre es sehr spannend gewesen, wenn gerade die neuesten Publikationen im Bereich der Farbwahrnehmung und Empfindung hätten mit einer Messskala der inneren Temperaturschwankungen gekoppelt werden können. Dieser Ansatz hat nun einen empfindlichen, wenn nicht sogar einen definitiven Rückschlag erlitten.

Aber sprechen wir von etwas anderem, zum Beispiel von zwei sensationellen Medienschlagzeilen der vergangenen Woche. Auf dem ersten deutschen Staatsfernsehkanal ARD sah ich die Ankündigung für eine mit Gewissheit extrem, wo nicht extremst kritische und feinjournalistische Reportage zu den Schäden des Taifuns auf den Philippinen. Die Schlagzeile hieß: «Wo bleibt die Hilfe»? – Das nenne ich mal wirklich investigativen Journalismus. Der Taifun richtet in einem Land, das nicht eben als am weitesten entwickelt auf der ewigen Weltrangliste platziert ist, einen immensen Schaden an, und der kritische Journalist kann mehr oder weniger schon bevor der Taifun überhaupt abgezogen ist schon beginnen, an der fehlenden, mangelnden oder uneffizienten Organisation der Hilfeleistungen in diesem Staat herumzunörgeln. Diese Schreibtischleistung fernab jeglicher halbwegs direkten Betroffenheit mit dieser Gegend, die ja bekanntlich auch auf der anderen Seite des Erdballs liegt, kann ich nur als schäbig bezeichnen. Aus neutraler Sicht wäre dem Staatssender zu empfehlen, den verantwortlichen Journalisten zusammen mit der verantwortlichen Redakteurin auf der Stelle zu entlassen und, na ja, ihr wisst schon, für 6 Monate in die Heiztechnik auf irgendeinem Supertanker auf den Weltmeeren zu schicken.

Ganz und gar die Spucke weggeblieben ist mir aber bei der Schlagzeile der «Bild»-Zeitung, welche sich in etwa darüber beschwert hat, dass der Wulff-Prozess um ein paar hundert Euro viel zu aufwändig sei angesichts der Deliktsumme, von der noch nicht mal feststeht, ob sie überhaupt deliktisch war, ist oder sein wird. Na prächtig, dieser O-Ton ausgerechnet vom Schmierfinkenblatt, welches genau diese Kampagne überhaupt erst losgetreten hat. Hierfür gibt es aus neutraler Sicht nur eine Strafe: Endlich einstellen, dieses Schleimgeschwür, das mit seinen Erzeugnissen die Hirne von weniger bemittelten deutschen Menschen verschmiert und daraus noch Profit zieht. Einstellen wie die News of the World von Rupert Murdoch in England, auch wenn man weiß, dass die Murdochs und Springers unbeirrt fortfahren, in ihren übrigen Publikationen braun getönten Massenschleim anzurühren.

Auf der Welt gibt es derart viele schöne und einzigartige Dinge, dass ich mir zwischendurch erlauben kann, auch auf gewisse andere Bereiche hinzuweisen. Zum Beispiel habe ich mich lange Zeit der Kritik an Israel enthalten, ohne deswegen übermäßig in das Lob des hebräischen Staates auszubrechen, ich sah dazu keinen besonderen Anlass, obwohl es immer wieder Nachrichten und zum Beispiel Kulturerzeugnisse gibt, manchmal auch nur einfache Zeitungsmeldungen, die ich als positiv empfinde. Aber jetzt habe ich mich meiner früheren Kritik wieder erinnert anlässlich eines Berichtes über die anhaltenden Siedlungsbau-Aktivitäten in jenen Gebieten, welche eigentlich bei Gelegenheit mal ein palästinensischer Staat werden sollten. Gegenwärtig laufen die Schach-Weltmeisterschaften, und somit kennt man die Kombination E1 eher als den Ausgangsstandpunkt des weißen Königs als das andere E1, was den E1-Korridor bezeichnet, nämlich wäre das die letzte Lücke im israelischen Siedlungsring rund um Ostjerusalem, also eben im Land der Palästinenser. Der Siedlungsminister Ariel will nun offenbar auch diesen E1-Korridor mit neuen Siedlungen zubauen. Aber halt: Natürlich handelt es sich hier bloß um eine Finte, eine völlig unrealistische Maximalforderung, von welcher die israelische Regierung wieder abrücken wird, bloß um sich von den US-Amerikanern und den Europäern das Stillschweigen zu erkaufen, wenn sie an anderen Orten weiter bauen. Das ist leider Gottes nach wie vor zum Kotzen, und hin und wieder muss man es einfach sagen, auch wenn man weiß, dass es einerseits Antisemiten gibt, welche die Kritik an der Siedlungspolitik und an ein paar anderen Elementen der israelischen Politik sofort in eine Kritik am Staat Israel ummünzen; viel wichtiger ist wohl, dass es auf der Gegenseite, bei den Arabern, nach wie vor kaum Hinweise auf eine so genannt vernünftige Israel-Politik gibt, welche diesem Staat verbindliche und unverbrüchliche Existenzgarantien liefern täte.

Umgekehrt scheint Israel gegenwärtig die antiisraelische Hetzpolitik des früheren iranischen Premierminister Achmadinejad richtiggehend schmerzlich zu vermissen; mindestens kommunika­tionspolitisch haben die Israeli mit Achmadinedjad einen wichtigen Verbündeten verloren, und umso verzweifelter versuchen sie gegenwärtig die Gespräche zwischen den USA und dem Iran zu verteufeln.

Ich weiß, die Situation im Nahen Osten ist verzwickt, nicht zuletzt seit dem Bürgerkrieg in Syrien, aus dem sich Israel mit den allerbesten Gründen bisher weitgehend heraus gehalten hat. Syrien beziehungsweise Baschir Al Assad ist jetzt ein Verbündeter des Irans, der wiederum der Todfeind Saudiarabiens ist, was in Syrien ein wahabitisches Regime installieren möchte; die Lage ist wirklich schwierig. Aber im Zentrum des Konflikts steht halt eindeutig nach wie vor und wie eine ewige Nagelprobe das Verhältnis zu den Palästinensern, und an dem hat sich höchstens insofern etwas geändert, als wohl noch nie so viele Siedlungsaktivitäten stattfanden wie seit der Wahl Barack Obamas zum US-amerikanischen Präsidenten.



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Albert Jörimann
19.11.2013

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