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Aus neutraler Sicht von Albert Jörimann "Atomlobby"

[11. Kalenderwoche]
Naturkatastrophen fallen grundsätzlich nicht in meinen Zuständigkeitsbereich.



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Ich kann mich auch nicht in das menschliche Leid einfühlen, das sich 15'000 Kilometer entfernt auftürmt. Schon der Tsunami im Jahr 2004 kam an mein Innenleben nur insofern heran, als ich ein dreiviertel Jahr später mit alten Bekannten darüber sprach und diese angaben, sie seien zum entsprechenden Zeitpunkt auf Sri Lanka in den Ferien gewesen und hätten die Flutwelle nur knapp überlebt – da erschrak ich auch im Nachhinein noch leicht und war froh, die Personen gesund und körperhaft vor mir zu haben. Daneben blieben und bleiben mir die Verheerungen und die Opferzahlen weitgehend fremd; ich bin bloß baff und durchaus bereit zu helfen, wenn ich es kann, aber ich gehe davon aus, dass in meinem Aktionsradius höchstens eine Geldspende einen Nutzen bringen könnte.

Anders verhält es sich mit dem menschlich-technisch-politischen Teil dabei, nämlich mit der Atomenergie. Erstens frage ich mich aus aktuellem Anlass wie alle ver¬nünf¬ti¬gen Menschen auf der ganzen Welt, wie die Japanerinnen dazu kommen, diese Höchst¬risikotechnologie ausgerechnet auf ihrem notorischen Erdbebenherd zur Leit¬tech¬nologie für die Energieerzeugung zu küren. Auch wenn die Jungs Weltmeister sind bei der baulichen Sicherheit, ist es einfach fahrlässig, AKWs im ganzen Land und in den schönsten instabilen Zonen zu betreiben. Das wäre ja so, als würde man AKWs in Kalifornien bzw. am St.-Andreas-Graben bauen. – Wie bitte? Da gibt’s welche? – Aber natürlich. Eines allerdings, Rancho Seco in der Nähe von San Francisco, wurde 1974 in Betrieb genommen, aber bereits 1989 wieder geschlossen, und zwar durch eine Volksabstimmung in Kalifornien; das Teil erbrachte während seiner Lebensdauer im Durchschnitt gerade mal 39% seiner nominellen Produktionsleistung und verzeichnete 1979 den viertschwersten Reaktorzwischenfall in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Dagegen powert Diablo Canyon munter weiter vor sich hin, die Lizenz dauert bis im Jahr 2025, und die Anlage ist für ein Erdbeben der Stärke 7.5 ausgelegt, wie das so schön heißt. Weiter unten befinden sich die zwei Reaktoren von San Onofré, welche eine Stärke von 7.0 aushalten. Sie liegen direkt am Meer und werden auch mit Meerwasser gekühlt. Also bitte. –

Davon abgesehen aber geht mir das windige Gewinsel der Strom- und AKW-Lobby auf den Keks wie sonst selten etwas. Noch wenn ich einräume, dass die angesichts des GAU in Japan ein dringendes Mitteilungsbedürfnis haben, bleibt die in Seriosität gekleidete Verteidigung der eigenen Interessen rundum widerlich. All die Sicherheitsprüfungen, die jetzt scheinheilig versprochen oder angeordnet werden, führen mit Garantie zu keinen anderen Ergebnissen als noch vor einer Woche, sie müssten mit anderen Worten gar nicht stattfinden und findens wohl letztlich auch nicht; zentral ist die Botschaft, dass so etwas bei uns doch gar nie passieren könnte, und falls es dann doch passiert oder mindestens beinahe wie beim AKW Krümmel oder im schwedischen Forsmark oder wann und wo auch immer, dann wird so was immer weggesteckt und weggeputzt, als wäre es in Tat und Wahrheit gar nicht geschehen, als handle es sich um einen Fehler im Textentwurf oder schlicht und einfach um eine Kommunikationspanne und nicht um das, was es wirklich ist: Um einen neuerlichen Nachweis dafür, dass diese Technologie nichts als einen supergefährlichen Unsinn darstellt. Einen Unsinn notabene, damit das auch wieder mal gesagt ist, mit Folgebelastungen auch ohne GAU noch auf Generationen hinaus.

Hört auf damit! – Deutschland hat sich im letzten Jahrzehnt massiv in die Förderung alternativer Energien gestürzt; das kann als das brauchbare Erbe der rot-grünen Regierung Schröder stehen bleiben. Weitermachen hier, aufhören dort, nämlich mit dem Atomstrom. Für die Lobbyisten empfehle ich folgendes Vorgehen: Die still gelegten Atommeiler werden umgebaut zu Residenzen für all die Herrschaften aus den Teppichetagen der Stromkonzerne mit Wohnsitzpflicht auf zwanzig Generationen hinaus. Schließlich kann man ja auch Kapitalbesitz vererben, also halten wirs mit diesen Verbindlichkeiten genau gleich.

An und für sich ist aber gegenwärtig auch die Position der Atomkraftgegner schwierig. In dem Moment, wo sich der größte anzunehmende Unfall ereignet, kann man schwerlich darauf pochen, es schon immer gewusst zu haben. Wer dies tut, ist seinerseits ein Idiot. Das einzige, was einem bleibt, ist die Beförderung eines möglichst raschen Ausstiegs aus dieser Technologie, die einem so etwas wie einen Zerrspiegel bzw. die Karikatur einer kapitalistischen Gesellschaft vorhält: Wir nehmen alle Risiken billigend in Kauf, wenn wir bloß keinen Verzicht üben müssen von Dingen, die wir hinten und vorne nicht benötigen. Der enge Zusammenhang zwischen Atomkraftwerken und elektrischen Spaghettiwicklern ist schon längere Zeit erstellt. Dabei hat dieses System doch längstens nachgewiesen, dass es auch ohne Gift funktionieren kann; sogar die Zigarettenindustrie hat vor zehn Jahren ihre Einflusspositionen in Staat und Wirtschaft praktisch vollständig räumen müssen, auch wenn von den 200 Milliarden Bußgeldern, die Ende der 1990-er Jahre verhängt wurden, während der Regierungszeit von Wilhelm Buschjockel dann nur noch etwa 200 Millionen fällig wurden. Aber möglich ist es doch. Der Kapitalismus funktioniert ganz gut ohne Marlboro, und er funktioniert auch ohne Atomstrom; mit einer gesunden Umwelt lassen sich ganz gute Gewinne machen. Das ist die Einsicht, welche uns die Hälfte der Grünen in Deutschland seit Langem vorleben, und eben: Die Wirtschaft ist durchaus nicht abgeneigt, ihnen zu folgen. Also unterstützt halt die Wirtschaft für einmal und mindestens in dieser Angelegenheit – keine AKW, keine radioaktiven Abfälle, keine Unfälle, weder in Japan noch in der Ukraine noch in Deutschland noch in Frankreich. Wobei Frankreich diesbezüglich einen Sonderfall darstellt; die haben wohl die höchste AKW-Dichte auf der gesamten Welt, und auch die Liste mit AKW-Störfällen wird von Ereignissen in Frankreich dicht besiedelt. Bis hier einmal die Erkenntnisschmelze einsetzt, wird es noch eine Zeit dauern, und wie sich das Land aus dem Atomsumpf ziehen will, das müssen die Jungs und Mädel erst noch herausfinden. – Aber irgendwie wird es gehen, und wenn es ohne GAU geht, umso besser.

Im April sind es 25 Jahre her, dass Tschernobyl in die Luft geflogen ist. Der Schock fraß sich tief ins kollektive Bewusstsein. Dann verwehten die lauen Lüfte nicht nur die Radioaktivität, sondern auch die Erinnerung, und seit einiger Zeit macht sich die Atomindustrie wieder bemerkbar. Jetzt wird sie ihre Hoffnungen trotz der neuesten Kommunika¬tionserkenntnisse wieder einsargen müssen – bis in zwanzig Jahren auch über die Kernschmelze in Japan wieder Gras gewachsen ist. Es wird dann bis zum nächsten GAU dauern, bis sich die Öffentlichkeit wieder der Gefahren des spaltbaren Materials bewusst wird. Das ist ziemlich frustrierend; nur schon die Tatsache, zwanzig oder dreißig Jahre alte Argumente praktisch unverändert wieder auf den Tisch legen zu können, ohne dass sie auch nur ein Deut ihrer Strahlkraft verloren haben, muss jeden Anthropologen in existenzielle Nöte bringen. Anderseits ist der menschliche Geist nicht ohne Grund so beschaffen, dass er auch üble Erlebnisse mit der Zeit beiseite schiebt; sonst gäbe es überhaupt keinen Ausweg aus verfahrenen Situationen. Aber hier liegt der Fall derart klar, dass man nur immer wieder den Kopf schütteln muss über die Apologeten der Atomenergie. Die merken offenbar selber nicht, wovon sie in Wirklichkeit sprechen, wenn sie mit allen Mitteln der Propaganda¬kunst für die möglichst hohe Rentabilität ihrer Investitionen weibeln. Irgendeiner hat vor ein paar Tagen mal gesagt: Wenn ich ein Sicherheitsproblem sähe, dann würde ich die Anlage sofort abschalten. Und genau da liegt die Socke im Tumbler: Die wirklichen Sicherheitsprobleme sieht man erst im Nachhinein. Hätten die Japaner um die Abläufe in Fukushima gewusst, dann hätten sie den Reaktor anders oder vielmehr gar nicht gebaut. Aber sie wussten davon nichts.

Der Haken bei dieser Betrachtungsweise liegt darin, dass man in Versuchung gerät, sie zu verallgemeinern. Das ist auch wieder nicht empfehlenswert. Niemand soll sich davon abhalten lassen, irgendetwas Vernünftiges zu unternehmen, weil es mit Risiken verbunden sein könnte. Aber im Fall der Atomenergie liegen die Sachen anders. Schluss damit, und wenn es geht, steckt die Vorstände und die Lobbyisten der Atom- und Elektrizitätsunternehmen geradewegs in den Knast. Mit ihrer Maske der besorgten Unschuld stellen sie nicht nur eine Gefahr für die Umwelt, sondern eine Beleidigung für jegliche Vermutung einer vernünftigen Kommunikation dar.









Albert Jörimann

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Albert Jörimann
15.03.2011

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