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Aus neutraler Sicht von Albert Jörimann "Dialektik-Irrtümer"

[12. Kalenderwoche]
Zwei Irrtümer treten oft in der Form eines dialektischen Ansatzes auf beziehungsweise unterlaufen einem gerne beim Versuch, das Verständnis der Welt dialektisch zu organisieren.



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Der erste ist ein nicht allzu schwer wiegender, dafür aber grundlegender Fehler, indem Dialektik als rhetorisches Format begriffen wird mit dem Grundmuster These – Antithese – Synthese. Die Synthese spielt dabei die Rolle des geglückten Abschlusses, der Auflösung eines Problems oder überhaupt der Überwindung eines zuvor konstituierten, eben: rhetorischen Widerspruchs. Dabei konstituiert Dialektik grundsätzlich keine Widersprüche, sondern versteht diese ihrerseits als konstituierend. In den Dingen und in ihrer Interaktion mit anderen Dingen wirken vielfach widersprüchliche Kräfte, von denen Werden und Vergehen nur alleroffensichtlichste Beispiele sind. Für eine strikte oder meinetwegen nachhaltige Philosophie wird Dialektik dort schwierig, wo sie sich anschickt, die Widersprüche in Hierarchien einzuteilen. In der Regel spricht man dabei grob von Unterschied, Gegensatz und Widerspruch in ihren verschiedenen Reifegraden. Die dialektische Mechanik kennt dabei diverse Entwicklungsstufen; in der Regel verlagern sich die Kräfteverhältnisse, die eine Seite des konstituierenden Widerspruchs wird schwächer und die andere stärker, aus welchen Gründen auch immer, exogen oder endogen; berühmt ist dagegen der Qualitätssprung, das heißt jene qualitative Veränderung, welche eintritt, wenn auf ein bestimmtes Verhältnis immer mehr Quantität angewandt wird, sodass es seine Qualität ändert. Wasser ist dafür ein klassisches Beispiel: Wenn ich mich richtig erinnere, benötigt es zum Schmelzen von Eis von null Grad in Wasser von ebenfalls null Grad ungefähr die 80-fache Energiemenge, die zur Erwärmung von Wasser um ein Grad aufgewendet werden muss. Die drei bekannten Aggregatszustände von Wasser als Eis, Wasser und Dampf sind allerdings sehr augenfällige Illustrationen für Qualitätssprünge; daneben meine ich in der Physik und namentlich in der Quantenphysik ebenfalls Verwandtschaften und somit auch so etwas wie naturwissenschaftliche Belege für die Welthaltigkeit des dialektischen Denkens zu identifizieren. Aber eben: Wenn sie verstanden wird als hierarchisches System, in welchem auf einer theoretisch unendlichen Leiter die Gegensätze immer wieder paarweise organisiert werden und Bestandteil der nächst höheren Stufe bilden, dann sind wir mitten in einem dynamischen und komplexen System wieder zurückgefallen in ein rein duales Muster. – Das bräuchte noch nicht einmal zwingend zu stören; die Digitaltechnik besteht ebenfalls aus einem binären Muster, und über deren ihre Leistungsfähigkeit brauche ich nicht einmal zu spekulieren. Aber zum Verständnis der Welt und der Prozesse halte ich es für brauchbarer, wenn man sich solcher Hierarchien nur in Ausnahmefällen bedient, das heißt in Zeiten akuter Auseinandersetzungen zwischen wichtigen oder sogar Hauptwidersprüchen, welche Form dies dann auch immer annehmen mag. Ansonsten ist es dem Verständnis von Welt zuträglicher, wenn man sich mehrere Optionen offenhält bei der Diagnose von Widersprüchen und Gegensätzen; manchmal bestimmen Paare über Jahre hinweg die Realität, die per Definition gar nicht funktionieren dürften.

In der Politik wird das oft am Klarsten sichtbar, allerdings ist sie gleichzeitig jene Sphäre, bei der das Sichtbare kaum einmal in das Tatsächliche umschlägt; nirgendwo sind Schein und Realität derart klar voneinander abgetrennt wie hier. Sogar die PR muss sich gewaltige Portionen an Realität einverleiben, um als PR-Schein zu funktionieren, während die Politik in der Regel allein mit Deklamation betrieben wird. Aber noch innerhalb solcher Theaterveranstaltungen sehen wir Dinge, die miteinander grundsätzlich nicht zu vereinen sind. Das prominenteste Spektakel dafür bietet in Deutschland die F.D.P. Der sozialliberale Flügel und der wirtschaftsliberale Flügel haben miteinander überhaupt nichts gemein. Das sind einfach radikal unterschiedliche und sich gegenseitig ausschließende Konzeptionen von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Nur die Verpackung, das Seidenpapier des Wörtchens «liberal» hält die Dinge zusammen. Aufgrund dieser Divergenzen fallen auch die Wahlergebnisse dieses Undings derart bipolar aus, wie der Engländer sagt, also schizophren: einmal unter die 5-Prozent-Hürde, einmal über 10 Prozent, wobei für die F.D.P. die vor etwa zehn Jahren von Fallschirmspringer Möllemann eingeführte Richtzahl von 18% den absoluten Himmel darstellt, während andere und durchaus anders geartete Parteien wie z.B. die CSU in Bayern in Existenznöte gerät, wenn sie einmal unter 50% sinkt, und das zeigt dann doch auch wieder das beschränkte Potenzial von Seidenpapier.
Dagegen lappen bei der SPD und noch viel stärker bei der Linken nach wie vor die alten Vorstellungen einer bipolaren Klassenwelt aus Besitzern an Produktionsmitteln und den Betreibern derselben massiv ins politische Programm hinein, und dies reicht mir aus begrifflichen Gründen nirgends mehr hin, wie ich an dieser Stelle schon mehrfach ausgeführt habe. In einer globalisierten und voll automatisierten Gesellschaft hat sich der Hauptwiderspruch logischerweise verändert, indem das Proletatiat weitgehend von den Maschinen substituiert worden ist. Natürlich finden immer wieder gesellschaftliche Prozesse statt, die man oft mit Proletarisierung umschreibt, zum Beispiel im Gesundheitssektor mit der galoppierenden Abwertung des Ärzteberufes, aber auch bei vielen Ingenieurtätigkeiten, bei Programmierern und was der Tätigkeiten mehr sind; aber in Tat und Wahrheit handelt es sich weniger um eine Proletarisierung als vielmehr um die Umwandlung von Aktivitäten, welche zu Beginn hoch spezialisiert und dementsprechend auch sehr teuer bezahlt bzw. entlöhnt waren, in Massentätigkeiten. Gerade im Gesundheitssektor wäre es nicht besonders einfach, das Gegenstück zu solchen gut ausgebildeten Proletarierinnen zu finden, nämlich die Besitzerinnen der Produktionsmittel; hier spielt ein Geflecht aus Krankenkassen und der öffentlichen Hand, welches ich nicht für tauglich halte zur Einrichtung eines Klassenbegriffes. Die andere Implikation dagegen, dass nämlich das Proletariat direkt verbunden sei mit dem industriellen Reserveheer der Armen und Arbeitslosen, welche ihrerseits immer ärmer werden, sollten alle Parteien im eigenen Interesse so schnell wie möglich über Bord werfen. Existenzsicherung kann in der modernen Gesellschaft nicht mehr im Ernst Gegenstand eines politischen Programmes sein, auch nicht als Implikation in einem historisch übertragenen Argumentationsstrang. Den Armen und Ärmsten soll geholfen werden bzw. sie sollen zu einer eigenen Lebensführung ermächtigt werden, zum Beispiel durch die Einführung eines tauglichen Grundeinkommens, aber das hat mit Politik leider Gottes überhaupt nichts zu tun. Damit dies wieder mal gesagt ist.

Daneben vermag ich im Moment eben keine Hauptwidersprüche auszumachen. Selbstverständlich ist die Sphäre des Finanzkapitals mit den unterträglichen behämmerten Gierlingen und ihren ebenso wenig erträglichen Ideologen ein Ort der moralischen und auch gedanklichen Finsternis, aber auch das ergibt noch nicht die Substanz für ein politisches Programm. Wenn die Frage so gestellt wird, ob es möglich sei, den geldgeilen Perversen den Gesamtzugriff auf das globale Geld- und Finanzsystem zu entziehen, dann ist mindestens die Fragestellung korrekt; aber die Wege dazu erkenne ich mindestens gegenwärtig noch nicht, da so was ohnehin eben im Rahmen internationaler Abmachungen erfolgen muss, das heißt, hier liegt eine Sphäre vor, in welcher der Populismus nichts zu suchen hat und nicht mal die direkte Demokratie, nämlich so lange nicht, als die Subjekte der direkten Demokratie nicht in der Lage sind zu verstehen, worum es geht. Und da liegt noch ein langer Weg vor uns, indem nämlich auch die Agenten der internationalen Finanzmärkte bisher noch nicht nachgewiesen haben, dass sie selber das Spiel verstehen und beherrschen, und auch die theoretische Leistung ist bisher gleich null geblieben. Dringend abraten möchte ich davor, das Finanzsystem per se kategorisch abzulehnen oder etwa der Vorstellung nachzugeben, dass ein Alternativgeld möglich wäre. Das heißt, solche Alternativgelder sind durchaus praxistauglich, soweit es sich um den reinen Warenumschlag innerhalb einer bestimmten Geldzone handelt, die aber ansonsten eben von den Regeln der besagten Geldzone dominiert wird. Dagegen bieten diese Alternativwährungen praktisch keine Möglichkeiten, Kapital anzusparen; und man kann sagen, was man will, aber Großprojekte benötigen nun mal einfach Investitionskapital, und ohne Großprojekte wird sich die Menschheit nicht auf Dauer halten können. Davon abgesehen haben sich die meisten Menschen in den entwickelten Gesellschaften daran gewöhnt, auch privat im Rahmen ihrer Möglichkeiten etwas zurückzulegen, sei es für besondere Gelegenheiten oder für das Alter oder für was auch immer; solche Anstrengungen bzw. die damit verbundenen Potenziale werden mit zinsfreien Alternativwährungen nicht wirklich gefördert. Und eben: Für den globalen Austausch kann man sie nicht gebrauchen, und dieser globale Austausch ist nun mal die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben der Völker unter der Voraussetzung eines steigenden Wohlstandes auch in der Dritten Welt. Ich habe noch kein Modell gesehen, das die internationalen Warenflüsse aufgrund eines sozusagen neutralen Geldes beschreibt.
Auf der Suche nach einem neuen Hauptwiderspruch komme ich immer wieder nur auf die allgemeine Formel, dass die Organisationsstruktur der heutigen Gesellschaften keineswegs dem Potenzial der heutigen Möglichkeiten entspricht. Befreit die Menschen und die Strukturen von den tradierten Zwängen, inklusive den Denkzwängen einer sozialdemokratischen Armutsbekämpfung. Sorgt für Perspektiven, wirtschaftlich und sozial. Dabei spielt die Bildung und die Ausbildung die zentrale Rolle. Nur die massive Anhebung der Volksbildung kann dafür sorgen, dass die Individuen wirklich zu Subjekten der Demokratie werden und die Bestimmungskraft darüber erlangen, was im Staat und auf der Welt zu gelten hat. Solange dies nicht der Fall ist, sprechen wir von Dummheit und von den Nutznießern der Dummheit, und vielleicht ist hier der konstituierende Widerspruch der aktuellen entwickelten Welt formuliert. Wenn ich das in eine medizinische Formel fassen darf: Dummheit kann Ihre Gesundheit beschädigen und in hohen Dosen sogar tödlich sein – für Sie selber, für die Umwelt und für die gesamte Menschheit.





Albert Jörimann

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Albert Jörimann
22.03.2011

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