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Aus neutraler Sicht von Albert Jörimann "Bamboozle"

[08. Kalenderwoche]
Der «Stern» ist bekannt für leicht geschürzte Titelblätter, und dementsprechend wäre es nicht der Erwähnung wert, dass letzte Woche die Titelstory «Hat der Mensch wirklich eine Seele?» von einer lasziven, knapp der Minderjährigkeit entronnenen Frauengestalt illustriert wurde.



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Notabene nur ihre Büste, und überhaupt trug sie eine hautfarbene Tunika, man sah also von dieser Büste noch nicht mal richtig die Brüste, eigentlich war es gar kein richtiges Nacktfoto, aber so ein Mann wie ich denkt eh immer nur an das eine, vor allem, wenn von der Seele die Rede ist und wenn man ihm bloß die richtigen Zutaten serviert; hier war es wohl vor allem der nackige Hals, den das Model der Kamera und dem Betrachter anbot mit einem schönen Muttermal als Zielpunkt, wo unsereiner hinein beißen soll, und ich hoffe, die Frau hat das Mal entweder nur aufgeklebt oder aber vom Hautarzt untersuchen lassen, denn mit Haus-, Haupt- und Hautkrebs ist nicht zu spaßen. Aber das hätte mich weiter nicht beschäftigt, wenn nicht einen Tag später im Magazin der Sudentendeutschen, nö: Süddeutschen Zeitung eine Fotostrecke wie folgt angekündigt worden wäre: «Noch ist Februar, noch ist es kalt. Aber wer ganz genau hinsieht, kann sie jetzt schon entdecken: die ersten satten Farben des Frühlings.», und diese Fotostrecke zeigte tatsächlich ein paar Farbkleckse, nämlich an Frauen. Farbkleckse an Frauen werden oft «Kleider» genannt, wobei der Text zur letzten Ablichtung besonders eindrücklich ausfiel: «Mag der Boden noch gefroren sein, so steigt die Wärme doch nach oben. Lederkorsage von Hermès, darüber ein T-Shirt-Kleid von Chanel; gelbes Schlauchkleid von Wolford.» Ein sehr schöner Test mit eingebauter, echter Fallhöhe: Mag der Boden noch gefroren sein, so steigt die Wärme doch nach oben. Die Fallhöhe steht in einem sehr dynamisch-dialektischen Verhältnis zum Bild, denn auf diesem wuchs aus dem gelben Schlauchkleid nix weiter als ein nackiger Frauen-Oberkörper, aber ein Mutter- oder Vatermal habe ich nicht entdeckt, weder am Hals noch sonst wo, vielleicht wurde deren Funktion durch die zwei Brustwarzen ausgeübt, oder vielleicht exprimiert umgekehrt ein Muttermal eine oder sowieso alle weiblichen Brustwarzen – vielleicht sind wir so, wir Männer. Vielleicht sind aber auch nur die Frauen so, und als dritte Option ist es möglicherweise alles ganz anders.

Jedenfalls verwendet der Stern zur Bebilderung des Themas «Seele» das Konterfei einer möglicher¬weise gar unberührten jungen Frau. Man kann sich die Redaktionssitzung wahrheitsnah vorstellen: Hat jemand eine Idee zu dieser Story?, fragt der Schriftleiter, und der notorische Querulant, den es in jedem Gremium gibt, brüllt sofort: In der Titanic gabs mal eine Reihe mit Abbildern der Seele, bevor die Wirklichkeit, mit Fleisch nachgestellt, sowie Basteln mit Bier nachrückten; da sonst keine Reaktionen zu verzeichnen sind, sagt der Schriftleiter: Na, dann halt das Übliche, und der Fall ist geklärt. Und tatsächlich: Die Seele ist weiblich, sogar auf Französisch, wobei übrigens der Franzose beim Gegenstück zur Seele, nämlich bei der Welt oder vielmehr bei der Erde, korrekterweise männ¬lich bleibt mit Le Monde, und unlängst hat ein französischer Kabarettist, dessen Namen mir ent¬fallen ist, völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass den Deutschen bei der Übersetzung ein schwer wiegender Fehler unterlaufen ist: Le Monde – Der Mond. Das kann dann die nächste Bundes¬regie¬rung unter Guildo Scheitelwelle mit Notrecht endlich korrigieren. Die Erde wird umgetauft in der Mond, und der Mond heißt in Zukunft la Lune, die Laune.– Trotzdem: Wäre es nicht möglich, sich die Seele vorzustellen als verhutzeltes und weltenaltes Männlein, das in den ersten Wochen und Monaten der Existenz im Zeitraffer sämtliche Phasen der Menschheit durcheilt, bis es sich etwas verlangsamt, zu Beginn der Schulzeit in die Antike einmündet und dann mit der Pubertät die letzten Kurven zur Moderne nimmt? – Meinetwegen kann dieses Manneken dabei die Züge von Sean Connery tragen oder von Til Schweiger oder von Franka Potente; aber wenn uns die Magazine mit ihren MagaziniererInnen jedenfalls verschonen möchten mit den ewigen Models zur Bebilderung einfacher Themen, dann wäre etwas gewonnen. Unter anderem würde sich auch die Frage nicht aufdrängen, ob wir in Sachen Emanzipation der Frau nicht auf halbem Weg links abgebogen sind. Diese Frage ist allerdings insofern nicht ganz korrekt, als wir ganz generell vom Emanzipations-Pfad in alle möglichen Richtungen abgekommen sind. Letzthin zappte ich in eine dieser Casting-Sendungen mit diesem Dieter Bohlen, als der gerade zu einem halb nackigen Talent sagte: «Du dumme Gans!», und dann fuhr er leiser fort: «Warum nicht gleich so?» – Befreundete Mitmenschen sagten anschließend in meine Konsternation hinein, dass dies noch ein vergleichsweise zivilisierter Ausdruck gewesen sei. Offenbar ist das deutsche Privatfernsehen im Begriff, den primitivsten Fäkal-Umgangston im öffentlichen Raum zu etablieren. Da möchte ich dann doch noch zu Protokoll geben, dass ich unter solchen Bedingungen Einwände anmelde gegenüber der Demokratie insgesamt. Ein gewisser Respekt, der nicht im selbst deklarierten Respect von Gangstan und Mösern besteht, sondern ganz simpel in Tisch¬sitten, welche auch die gepflegte Kritik und das gemeine Lachen durchaus zulassen, scheint mir für eine demokratische Gesellschaftsordnung absolut unerlässlich zu sein, und wenn das Bohlen-Arsch Quote macht mit seinem Unrat, dann ist besagte Quote nix anderes als der Gradmesser der demokratischen Unfähigkeit des TV-Volkes. Emanzipation – davon müssen aufgeklärte Geister im Jahr 2011 vorerst mal weiter träumen. Möglicherweise ist die Zeit reif, da man dem Volk nicht mehr aufs Maul schauen, sondern eher aufs Maul hauen muss. Das dünkt mich zwar auch wieder sonderbar, aber streng logisch ist kein anderer Schluss möglich.

Die Geschichte bewegt sich mit zum Teil erheblichen Ausschlägen vorwärts. Am Wochenende machte Hamburg Geschichte, als die SPD einen Wählerstimmenanteil holte, um den sie die bayerische CSU gegenwärtig beneiden würde, und das will etwas heißen. Es besteht aber kein Grund, sich klammheimlich auf eine Renaissance emanzipatorischer Ideen zu freuen; Olaf Scholz gilt als Vertreter des rechten SPD-Flügels, sodass man sich ernsthaft fragen muss, was die Wiederbelebung des Schröder-Kurses für einen Sinn haben soll. Müssen wir das als Zeichen verstehen? Steuerbefreiung für sämtliche Hamburger Unternehmen und für alle Einwohner, die mehr als 100'000 Euro im Monat verdienen? – Man wird ja sehen, wie sich die das Hamburger Experiment anlässt, vor allem vor dem Hintergrund der CDU/FDP-Regierung in Berlin unter der sozialdemokratischen Frau Dr. Merkel. Irgendwo habe ich aufgeschnappt, dass sich die CDU in Hamburg in der Koalition mit den Grünen derart verbiegen hätte müssen, dass sie schlicht nicht mehr wählbar gewesen sei; das wäre dann wieder kein gutes Omen, sondern eher der Beginn eines Amens für die Grünen. Aber was an dieser Geschichte dran ist, kann ich nicht beurteilen, nicht zuletzt deswegen, weil Hamburg ja schon fast zu Dänemark zählt. Jedenfalls hat der Auftakt zu Eurem Super-Wahljahr durchaus für etwas Spannung gesorgt, wobei ich mich am meisten auf das Ergebnis in Baden-Württemberg freue; hier wiederum sieht es für die Grünen durchaus rosig aus, mit eben der einen Einschränkung: Wenn an der Geschichte mit der Hamburger Koalition etwas dran ist, dann fallen die Grünen als Regierungspartner für die CDU ganz und gar außer Betracht, und man wird sich mit einer großen Koalition einrichten, was mindestens bezüglich des Stuttgarter Hauptbahnhofs auch der Sachlage entspricht.

Daneben nimmt der Radau in den arabischen Staaten einfach kein Ende. Am stärksten überrascht hat mich dabei die Auseinandersetzung in Libyen; ich dachte immer, der alte Gaddhaffi hätte sein Land straff im Griff, nicht zuletzt deswegen, weil er die Erdöl-Milliarden halt eben doch im Land selber eingesetzt hat, mindestens zu ansehnlichen Teilen. Unter solchen Umständen ist die Einrichtung einer Demokratie nach europäischen Standards nicht oberste Priorität, habe ich mir gedacht. Bei den Algeriern ging ich davon aus, dass dort die blutigen Gemetzel der 1990-er Jahre immer noch derart gegenwärtig sind, dass ein militanter Einsatz wofür oder wogegen auch immer zunächst nicht auf breite Unterstützung oder sogar Begeisterung stößt. Den marokkanischen König wiederum halte ich nach wie vor für fortschrittlicher als die Mehrheit seiner Bevölkerung, sodass auch hier die Ausrichtung der Proteste nicht zum Vornherein klar ist. Und die Opposition im Iran hat mit den Entwicklungen an der Mittelmeer-Südküste ohnehin nichts zu tun.

Etwas weiter entfernt wächst Indien munter vor sich hin, wobei einige Parameter etwas schief hängen, namentlich die Landwirtschaft, in der nach wie vor die Hälfte der Bevölkerung tätig ist, die aber nur rund 15% zum Bruttoinlandprodukt beisteuert. Die Produktivität ist niedrig, was unter anderem durch Gesetze gefördert wird, welche kleinstbäuerliche Verhältnisse schützen, will sagen, ein echtes Hindernis vor einer landwirtschaftlichen Massenproduktion darstellen. In diesem Zusammenhang passen die jüngst ans Licht gekommenen Skandale rund um die Mikrokredit-Organisationen recht gut ins Bild. Wirtschaft von unten mit möglichst veralteten Techniken und ohne jegliche Skalenvorteile bildet nicht die beste Voraussetzung für dauerhafte Entwicklung, auch wenn dies über Jahre hinweg ein Kanon der Entwicklungszusammenarbeit war. In Indien werden immer mehr Grundnahrungsmittel importiert, und darunter leiden, na ja, wie immer: die Ärmsten der Armen am stärksten, wenn nämlich die Nahrungsmittelpreise zu steigen beginnen, und das tun sie gerade nach Wetterkapriolen wie der Hitze im vergangenen Jahr in Russland oder den ordentlichen Verwüstungen durch Regenfälle und Stürme in Australien zu Beginn dieses Jahres. Die Regierung reagiert darauf mit Preissubventionen, aber damit ist logischerweise keine strukturelle Lösung des Nahrungsmittelproblems zu erzielen. Der Vergleich mit dem Nachbarland China zeigt, dass dort zum Beispiel die Weizenerträge fast 2 Mal so hoch sind wie in Indien, während die beiden Länder noch vor 30 Jahren diesbezüglich gleichauf lagen. Allerdings scheint mir Indien deutlich schwieriger zu beurteilen, da hier die kulturellen und politischen Unterschiede enorm viel klarer zu Tage liegen als in China. So müsste man eigentlich die einzelnen Bundesstaaten in Indien praktisch wie eigene Länder anschauen, z.B. das kommunistische Kerala im Vergleich mit Tamil Nadu und diese wiederum mit den Staaten im Norden oder vollends mit der Riesenstadt Mumbai. Aber dies interessiert in erster Linie die Indienreisenden, soweit sie nicht einfach einen Aschram oder sonst eine Sorte der persönlichen Benebelung und Erleuchtung suchen.







Albert Jörimann

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Albert Jörimann
22.02.2011

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