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Aus neutraler Sicht von Albert Jörimann "Bruttoinlandsprodukt"

[01. Kalenderwoche]
Jene US-Medien, die noch nicht vollends übergeschnappt sind, also ein ansehnlicher Teil davon, haben zum Jahresende große Mengen an Neid und Anerkennung über die Bundesrepublik Deutschland, vor allem über ihre wirtschaftliche Verfassung ausgeschüttet.



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Das Lob kommt von einer Seite, von der man es nicht erwartet hätte. Die Wirtschafts- und Sozialmodelle, aber auch das Selbstverständnis sind in den USA und in Europa derart unterschiedlich, dass solche Elogen eigentlich gar nicht möglich sind. Wenn ich die innereuropäische Kritik und Anerkennung noch oben auf packe, dann habe ich zum einen den Vorwurf, dass Deutschland seine Produktionskosten aus politischen Gründen tief halte mit vergleichsweise niedrigen Löhnen und einem zu schwachen Inlandkonsum; zum anderen heißt es, dass Deutschland eine verkrustete Tarifstruktur habe mit einflussreichen und verknöcherten Gewerkschaften; drittens sagt man dies und viertens jenes, wobei sehr gegensätzliche Aussagen aufeinander treffen, um die man sich nicht in jedem Fall zu kümmern braucht. Fest steht jedenfalls, dass Euer schönes Land aus der Finanzkrise trotz Hypo Real Estate und anderen schönen Sachen recht solide herausgefunden hat. Da sieht man sich dann immer wieder gerne Aussagen an wie jene des damaligen Chefökonomen der Deutschen Bank, Norbert Walter, welche dieser im Dezember 2008 gegenüber der Bild-Zeitung getätigt hat: Das Bruttoinlandprodukt werde im Jahr 2009 um bis zu 4% sinken, weshalb die Bundesregierung die Mehrwertsteuer sofort für ein Jahr auf 16% senken müsse, um den Inlandkonsum zu stärken. «Sonst ist der Absturz nicht mehr zu verhindern», stellte er fest. Und siehe da: Die Bundesregierung senkte den Mehrwertsteuersatz nicht, und das Bruttoinlandprodukt sauste um 5% in die Tiefe. In den USA schrumpfte das Bruttoinlandprodukt im Vergleich nur um 2.4 Prozent, aber von einer Senkung der Mehrwertsteuer war dort auch nicht die Rede, denn eine solche gibt es in den USA gar nicht erst, mindestens nicht auf Bundesebene; bloß die Bundesstaaten und die lokalen Einheiten kassieren eine Sales Tax von zwischen 5% und 19% (Kalifornien). Chefökonom Walter hat da offenbar etwas verwechselt, nicht bei der Prognose, sondern bei den Mehrwertsteuer-Mechanismen; nämlich ist es keineswegs so, dass bei einer Senkung der Mehrwertsteuer der Konsum konstant bleibt, d.h. dass dann um 3% mehr Güter gekauft werden. Es besteht ja für den Handel keinerlei Verpflichtung, Veränderungen bei der Mehrwertsteuer sofort auf die Preise umzulegen. Der Markt macht den Preis, nicht die Mehrwertsteuer. Und bei den KonsumentInnen besteht keinerlei Verpflichtung, jederzeit eine konstante Summe in den Konsum zu pumpen. Man kann im Gegenteil davon ausgehen, dass unterdessen die meisten Mitglieder des so genannten einfachen Volkes so viel ver¬dienen, dass sie einen Teil ihrer Einkünfte zurücklegen können, egal, ob für den Urlaub oder ob für Aktien und Aktienfonds; und sollte sich der Handel tatsächlich dazu hergeben, seine Preise um 3% zu senken, dann ist eher damit zu rechnen, dass sich die Sparquote um besagte 3% erhöht, als dass der Konsum zunimmt. In der Regel kommen aber die KonsumentInnen gar nicht in den Genuss solcher Preisreduktionen, sondern das Gewerbe profitiert, wie bei den ominösen Vorzugssätzen für die Gastronomie, welchen Eure FDP nach dem Wahlsieg durchgesetzt hat. «7% für 70'000 Jobs», versprachen die Gastro-Lobbyisten seinerzeit, aber festnageln sollte man sie auf dieser Aussage nicht etwa wollen, denn wie klar ersichtlich, spielen externe Faktoren eine weit wichtigere Rolle als die Mehrwertsteuer, zum Beispiel justament die Wirtschaftsentwicklung bzw. die Konsumen¬tenstimmung, also die Bereitschaft der Käuferschaft, überhaupt in ein Lokal zu gehen.

Wie auch immer: Die Komplimente aus den USA an die Adresse der Bundesrepublik kamen für mich überraschend. Es ist nämlich nicht die Gepflogenheit der Weltsupermacht, die direkten Konkurrenten als Vorbild darzustellen, schon gar nicht, wenn sie einen ausgebauten Sozialstaat und eben insgesamt eine vollkommene sozialdemokratische Staatsform ausweisen, wie dies übrigens in Europa unterdessen fast überall der Fall ist mit Ausnahme einiger Exoten am Ostrand, der ungarischen Nationalistenbrut und der italienischen Clownfisch-Republik. Und natürlich Griechenland. Aber vielleicht hat das damit zu tun, dass auch auf diesem Gebiet der Konflikt zwischen den ultrareaktionären Kräften und den halbwegs moderaten, wo nicht teilweise sogar modernen Bewegungen in den USA seinen Ausdruck findet. Euch kann das egal sein; für euch geht es, wie für alle vernünftigen Menschen, darum, das neue Jahr so zu gestalten wie das alte, nämlich möglichst interessant und lustvoll, und daran soll auch das Chef-Orakel der Deutschen Bank nichts ändern. Dieses heißt übrigens seit einem Jahr nicht mehr Norbert Walter, sondern Thomas Mayer, aber er kommt aus der gleichen Papageienschule wie Norbert Walter und plädiert für eine große Steuerreform in Deutschland, und ihr könnt sicher sein, dass diese nicht zugunsten der Kleinsparer angelegt würde; die Bundesregierung soll Ausgaben streichen, was ebenfalls ein großer Renner ist unter den wohlfeilen Parolen der Staatsallergiker, denn mit solchen Gemeinplätzen bin sogar ich einverstanden, bis dann der Punkt kommt, an dem man sich darauf einigen sollte, was denn wegzufallen habe. Aber das ist geschenkt; solche Chefökonomen haben immer auch eine Rolle für das große Publikum, sie müssen auf der Bühne des politisch-sozialen Theaters eine wohl temperierte Mischung aus Kassandrarufen und Heilsversprechen abgeben, ich würde mich freuen, wenn sie dies in Zukunft auch noch in Blankversen oder Hexametern vornehmen täten.

Die Ökonomie, meine Damen und Herren, ist das eine, die ÖkonomInnen das andere, und diese ÖkonomInnen haben in den letzten fünf Jahren derart jämmerlich versagt, dass es uns wundert, weshalb der Staat nicht an den wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten spart, und zwar radikal, nicht zuletzt deshalb, weil an diesen Fakultäten ein bestimmter Typus Mensch herangezüchtet oder fortgepflanzt wird, der als das absolute Gegenteil einer zivilisierten Existenz gelten muss. Darf ich euch ein Beispiel erzählen? Es ist wieder mal eine meiner Speisewagen-Geschichten, das heißt, sie ist wahr. Vor etwas mehr als einem Monat reiste ich nach Genf, und da es Mittag war und ich Hunger hatte, setzte ich mich eben in den Speisewagen, das heißt, ich nahm an einem Vierertisch Platz und merkte bald, dass es sich bei den anderen drei Herren um so etwas wie Junior Managers in irgend einer zufällig ausgewählten Industrie handelte, welche mir einerseits das Essen verdarben mit dem Gelaber über Kollegen und Vorgesetzte sowie mit Beschwerden über unfähige und unmotivierte MitarbeiterInnen, wie ich das nun geschlagene zwanzig Jahre lang nicht mehr gehört hatte; anderseits verdarben sie mir das Essen nicht, weil ich einen Rossmagen habe. Zudem redeten sie ja auch nicht ununterbrochen, indem sie selber auch ihre Mahlzeit verspeisten. Das heißt: Zwei davon taten dies; der dritte hingegen bestellte einen doppelten Espresso, und als die Bedienung nicht hinschaute bzw. an anderen Plätzen tätig war, zückte er ein Sandwich und begann dieses zu mampfen. Nach drei Bissen holte er aus seiner Tasche noch ein Fläschchen Coca-Cola hervor und spülte das Brot damit runter. – Das müsst ihr auch mal versuchen, geschätzte Hörerinnen und Hörer: Geht doch einfach in das nächste Restaurant und zieht dort euer Picknick aus dem Rucksack – ich wette mit euch, dass eures Bleibens nicht lange sein wird. Der junge Herr hier jedoch hielt seinen Imbiss vor dem Personal verborgen, so gut es eben ging, während er über seine Unter¬ge¬be¬nen herzog, die sich im übrigen offenbar zu wehren wissen, sonst wäre das Gebrunze nicht gar so toll ausgefallen. Irgendwann vor Bern rief ihn mal jemand an, und so kam ich auch in den Genuss des Namens, der an und für sich keine weitere Bedeutung hätte, aber ich erwähne ihn hier doch, nämlich hieß und heißt der Jungspund Philipp Albers, und ich erwähne es deshalb, weil ich spontan den Verdacht schöpfte, dass dieser Möchtegern-Manager ein Spross jener Familie Albers ist, welche zum Teil industriell, vor allem aber mit Immobilien Dutzende, wo nicht hunderte von Millionen Franken gemacht hat. Und dann sitzt dieses verzogene Söhnchen in den Speisewagen und verzehrt verdeckt sein mitgebrachtes Brötchen und trinkt seine mitgebrachte Cola. Prächtig. – Laut Internet handelt es sich um Philipp Albers-Schönberg, Absolvent der Hochschule St. Gallen, die sicher noch hunderte von gleichwertigen Existenzen und Charakteren pro Semester erzeugt, und zudem noch Oberleutnant der Schweizer Armee. – Können sich diese Multimillionäre denn nicht eines Minimums an Anstand befleißigen, wenn sie Freigang haben? Könnt ihr euch vorstellen, dass sich Norbert Walter oder Thomas Meyer im Bordrestaurant eines ICE an einem selber mitgebrachten Imbiss gütlich tun? – Das Schreckliche an den Reichen ist nicht so sehr ihr Reichtum, sondern vielmehr sind es ihre Tischsitten. Und damit wiederhole ich meinen Vorschlag, die Ökonomie-Fakultäten bzw. ganze Universitäten gänzlich zu schließen, welche der Produktion von solchem Gedanken- und Menschengut dienen; denn es ist nicht einfach erlaubt, sondern absolut zwingend, die Verbindung herzustellen zwischen der besinnungslosen Gier des kleinen Philipp Albers-Schönberg, der sich die Kosten für ein Mittagessen im Speisewagen sparen will, und der besinnungslosen Gier, wie sie die Finanzmärkte vor drei Jahren fast zum kollabieren gebracht hat.

An solchen Universitäten werden ja nicht nur der Menschenschlag erzeugt, der effektiv eine erhebliche Belastung für die Zivilisation und die Zukunft der Volkswirtschaft bedeutet, sondern auch die Argumentationslinien, die der Rechtfertigung von Gier und Beschränktheit dienen. Eine davon habe ich mir jüngst im Zusammenhang mit der Finanzkrise vom internationalen Internet gezogen, nämlich hieß es dort: Verantwortlich für den Kollaps des Finanzsystems waren durchaus nicht die Koks- und Geldnasen von den Wirtschaftsfakultäten, sondern – na ja, wie sollte es anders sein: der Staat natürlich. Geht ja nicht anders; würde man auch nur ein Quäntchen eigene Schuld eingestehen, so würde das ganze Selbstverständnis und damit sehr bald auch das ganze Spekulantenbanking zusammenbrechen. Der Staat also sei Schuld gewesen, und zwar, weil er mit viel zu billigem Geld den Konsum künstlich aufgeblasen habe. Ich sage nur: Alan Greenspan! – Aber es ist wohl schon so: Wenn man mal einen Hau hat, dann wenigstens gleich richtig.

Daneben zähle ich auch zu jenen Menschen, welche insgeheim trotz allem davon überzeugt sind, dass es bessere und schlechtere soziale und ökonomische Organisationsformen gibt und dass es sich durchaus lohnt, diese zu studieren, bloß müsste man das entsprechende StudentInnen-Gut möglichst weit fern halten von den Fleischtöpfen bzw. Goldfabriken im Finanzsektor. Die Gesellschaft leidet unter diesem Gesocks nicht nur wegen sporadischer Systemabstürze, sondern vor allem wegen der Mentalität, wegen des Charakters, wegen des Bildes eines vernagelten Menschen, der von den unendlichen Weiten und Tiefen von Zeit und Raum nicht mal eine Ahnung hat, sondern nur vom eigenen Koks- und Kohle-Konto.





Albert Jörimann

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Albert Jörimann
03.01.2011

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