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Aus neutraler Sicht von Albert Jörimann "Siegel und Dioxin"

[02. Kalenderwoche]
Zwei Gründe bewegten mich dazu, die erste Ausgabe des «Spiegel» im Jahr 2011 zu kaufen. Erstens hatte die «Titanic» im Januarheft volle vier Textseiten dem Spiegel-Kulturredakteur Matthias Matussek gewidmet, und zweitens hieß der Titel «Chinas Welt – Was will die neue Supermacht?», und ich hatte aus früheren Zeiten in Erinnerung, dass der «Spiegel» bei solchen Rundumschlägen auch schon die eine oder andere brauchbare Information oder sogar Analyse geliefert hatte.



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Also: Test, Test, eins–zwo–drei Test:

Durchgefallen. Nicht, dass mich das weiter überraschen würde; der Spiegel-Slang bzw. die Art des Spiegels, seine Ware aufzubereiten, ist längstens legendär; es geht darum, unsäglich magere oder einfach lapidare Informationen mit möglichst reizvoller Sprachlingerie zu verhüllen, damit im Leser und in der Leserin der Eindruck erzeugt wird, brisantes Material in allerhöchster Sprachpotenz konsumiert zu haben. In meinem Test-Artikel zu China lautet das dann so, dass den Chinesen laufend eine sinozentrische Weltsicht vorgeworfen wird; das würde man ja den Deutschen nie im Leben vorzuwerfen wagen, dass sie eine Deutschland-zentrische Weltsicht hätten, nicht wahr? Und so ist es auch, nicht wahr: Als erstes denkt ihr beim Aufwachen an Papua-Neuguinea, und während ihr in die linke Socke schlüpft, gehen Eure Gedanken hin zum stellvertretenden Aussenminister von Laos, ja? – Oder dann kommt das Magazin zur Einsicht, dass die chinesische Führung rund um den Erdball Einflusspolitik betreibe. Das ist doch unerhört. Das würde den Franzosen, US-Amerikanern, Russen, Indern, Saudiarabiern, Iranern, Pakistani, den Brasilianern und den Schweizern, den Schweden und den Schwaben usw. usf. aber nie im Leben einfallen, oder? «China wäre nicht China, wenn das Land nicht stets auch konkrete Gegengeschäfte im Sinn hätte», heisst es auf Seite 75. Eine halluzinogene Nachricht. Und dann haben sie auch noch Afrika im Visier. «56.5 Mia. Dollar haben chinesische Firmen 2009 in Afrika investiert», geht es auf Seite 76 weiter. Und zwar erst noch auf schweinische Art und Weise: «In Niger haben chinesische Unternehmer die Kumpel ohne Schutzkleidung Uran abbauen lassen. In Sambia konnten zwei chinesische Manager einem Gerichtsprozess nur durch Zahlung einer Entschädigung entgehen. Sie hatten auf demonstrierende Bergarbeiter geschossen. Gegen Umweltauflagen verstoßen die Investoren aus Fernost fast schon aus Prinzip.» – Ganz selbstverständlich im naturgegebenen Gegensatz zu schönen Systemen wie der freiheitlich-demokratischen sozialen Marktwirtschaft, welche Afrika bisher noch gar nicht auf der Landkarte eingezeichnet, dort niemals nix investiert und schon gar keine Rohstoffe bezogen und in erster Linie ihren Beschäftigten immer Schutzanzüge übergehängt hatte. Die Deutschen sind in Sachen China überhaupt arme Schweine, wie der Westen insgesamt: «Kraftwerke, Windräder, Solaranlagen – bis zu 70% der Produktionsanteile haben ausländische Hersteller in China fertigen müssen», steht auf Seite 81. Und dann dehnen diese finsteren Kommunisten auch noch den Radius ihrer Marine laufend aus. Und so weiter. Wie soll man einen solchen Journalismus denn nennen? Durchfall eben? Wenn schon, dann wäre es eine spezielle Form davon, nämlich ein Durchfall, bei dem die Ausscheidungen früherer Dünnpfiffe nochmals geschissen werden.

Weiter hinten lässt Redakteur Matussek 100 Jahre Hollywood Revue passieren, aber das ist ein derartiges Allerweltsthema, dass sich daran wohl weder Sprach- noch Journalismuskritik aufhängen lässt; immerhin kommt auch die Analyse in der Titanic zum Ergebnis, dass Matussek «ein dröhnendes Nichts» sei, und das wird mit diesem 8-seitigen Film-Abriss donnernd bestätigt. Damit war meine Neugierde befriedigt und mein Wissensstand in Sachen Spiegel für das kommende Jahrzehnt wieder gedeckt, wobei ich dann immerhin noch den Artikel über René Stadtkewitz gelesen habe, den ehemaligen CDU-Abgeordneten aus Berlin und Antiislamisten vom Dienst; allerdings habe ich auch bei ihm bzw. im ganzen Artikel keinen Ansatz zu einer ausformulierten Weltanschauung gefunden. Es reicht bekanntlich durchaus nicht, einfach gegen den Islam oder gegen die Islamisten zu sein – wichtig ist dann vielmehr, welche Folgerungen für die Wirtschafts- und Sozialpolitik daraus abgeleitet werden bzw. ob solch ein notdürftig zusammen genageltes Weltbild das Zeuchs hat, ganzen Völkern den Kopf zu verdrehen. Aber danach sieht das durchaus nicht aus.

Letzthin bin ich auf den Gedanken gekommen, dass es möglicherweise heutzutage gar kein Weltbild mehr braucht oder dass ein Weltbild mindestens unmöglich ist, wenn man sich darunter nicht einfach die Summe aller Eindrücke inklusive der Provenienzangabe vorstellt, sondern eine ordentliche Ordnung der Dinge, Phänomene, Machtzirkel und Gruppenbeziehungen. Vielleicht reicht es durchaus, wenn man sich vorstellt, wie ein innerer Zirkel von, sagen wir mal rund 1000 Menschen die wirklich relevanten Entscheidungen trifft in Sachen Einflusssphären und regionaler Großwetterlage mit den dazu gehörigen Investitionsflüssen; gleichzeitig kann man sich diesen inneren Zirkel nicht anders vorstellen denn als einen Haufen, der wiederum nichts weiter ist als eine Funktion jener Dinge, welche seine Macht ausmachen. In einer zweiten Sphäre und recht eng verbunden mit diesen ferngesteuerten Puppenspielern befinden sich die Regierungen und zum Teil die Spitzen der internationalen Organisationen, und weiter unten fächert es sich dann auf in nationale und regionale Eliten, bis wir am Schluss ganz unten sind beim einfachen Volk, also bei uns selber, die wir uns zufrieden geben mit dem Schauspiel einer nationalen Politik und parlamentarischen Demokratie, welches uns täglich geboten wird und für das wir einen relativ bescheidenen Eintrittspreis zu bezahlen haben. Über diesen Eintrittspreis sollte man sich nicht lustig machen; wirklich lächerlich ist bloß der Umstand, dass sich die Völker dieser Erde nach wie vor nationalistisch oder sogar religiös erhitzen, was insbesondere für die obersten eintausend Entscheidungsträger ein wahrer Quell anhaltenden reinen Gelächters sein muss. – Aber so etwas reicht wiederum noch nicht aus für ein voll gültiges Weltbild, und zwar nicht zuletzt deswegen, weil damit die Machtfrage zwar umrissen ist, aber noch keine konkrete Gestalt hat auf jener Ebene, wo die Menschen sich damit aktiv befassen könnten; und zum zweiten ist die Machtfrage bei einem bestimmten Lebensstandard derart theoretisch, dass andere Dinge wie z.B. die persönlichen Perspektiven, die Möglichkeiten, welche die aktuelle Gesellschaft eröffnet, von viel größerer Bedeutung sind als eben die Machtfrage.

Immerhin liefern die dümmsten Schießbudenfiguren des modernen Kapitalismus zuverlässig immer wieder ein paar Müsterchen, welche die interessierten Kreise von der Schlechtigkeit des Systems oder wahlweise der Welt überzeugen. Sehr beliebt ist nicht erst seit dem aktuellen Skandal Dioxin im Tierfutter. Im Januar 2006 wurde ein Vorfall in Belgien publik, 2008 war es Mozzarella aus Neapel, ebenso wie bereits 2003, als 6 Molkereiunternehmen dort unten gesperrt wurden, weil sie Milch von Kühen verkauften und verarbeiteten, welche in der Nähe von illegalen Deponien gegrast hatten, auf denen die Industrieabfälle aus Norditalien und vermutlich aus anderen Ländern Europas gelagert werden; 2005 gabs Dioxin in deutschen Eiern, aber nicht in irgendwelchen, sondern in Freilandeiern, ein weiterer Hinweis auf die Problematik von vegetarischem Essen; im Mai 1998 wurde die Quarantäne über nordfranzösische Höfe verhängt, welche in der Nähe von Mülldeponien lagen, im Jahr 1999 gab es einen erheblichen Skandal wieder in Belgien, bei dem von Eiern über Geflügel bis zu Backwaren und Kekse vom Markt genommen werden mussten.

Und was, geschätzte Hörerinnen und Hörer, gab es wohl aus neutraler Sicht im Oktober 2001 an dieser Stelle zu hören? «Schweinefutter, Tierfutter insgesamt ist offenbar ein ideales Medium zur Rezyklierung von was auch immer. Wir haben gehört, dass die Belgier nichts weniger als Dioxin hineinmischen in das Tierfutter. Das wird zuerst von den Masthühnern gefressen, bevor deren Innereien und Knochen wiederum dem Tierfutterkreislauf zugeführt werden. Heidewitzka, Herr Kapitän! Statt das Dioxin in den teuren Spezialöfen in Basel oder wo auch immer verbrennen zu lassen, geben wir es gegen ein bescheidenes Entgelt in die Futtermittelfabrik. Und die Schweine beziehungsweise hier zunächst einmal die Poulets fressen bzw. picken das einfach so weg. Das ist jetzt einmal eine artgerechte Entsorgung, denn was der Mensch an Schadstoffen produziert, das konsumiert er jetzt auch selber wieder.

Allerdings gibt es da unter den Menschen noch gewisse Unterschiede. Die einen produzieren irgend etwas mit dem Neben- und Abfallprodukt Dioxin; die anderen betreiben eine Abfallverwertungs¬gesellschaft und leiten das Dioxin gegen teures Geld an einen Futtermittelproduzenten; die dritten sind die Futtermittelproduzenten selber und erhalten für das verarbeitete Dioxin ein Pekulium, das sie vermutlich nicht in ihre Firma, sondern direkt in das eigene Portemonnaie leiten; und die vierten, das ist dann jene ahnungslose Schar von KonsumentInnen, welche das Dioxin im Magen-Darm-Trakt verarbeiten.

Jetzt geht das aber noch weiter. Dioxin allein reicht offenbar noch nicht. Man muss es irgendwie fertig bringen, zuerst noch Tonerde damit zu verseuchen. Aus Tonerde wird nicht nur Aluminium gewonnen, sondern Tonerde wird «als Fliess- und Pressmittel beim Tierfutter eingesetzt». Bauxit, damit es so richtig flutscht in diese Schweine- und Rinder-Intestinalien hinab? Mei Leawer.

Das habe ich vor gut einem Jahr mal gelesen. Die dioxinverseuchte Tonerde stammte in diesem Fall nicht aus Belgien, sondern aus Deutschland, aber es waren bloss 150 Tonnen, die man gefunden hat. Der Rest war damals vermutlich schon weggeflutscht. Trotzdem blieb die Frage so übermächtig, dass sie auch heute wieder hochkommt: Ja was fressen die denn, diese Tiere? Schlachtabfälle, Tonerde – und was ist denn sonst noch so drin in diesem Tierfutter? Kölnisch Wasser, damit es gut riecht? Bauschutt, um das Futter körnig zu machen? Offenbar ist die Viehzucht in Europa umfunktioniert worden in eine riesige Kehrichtverarbeitungsanlage. Ob die Schweine wohl auch Atommüll-tauglich sind, nach dem Motto: Das Schweinefett hält die radioaktive Strahlung weit besser ab als der dickste Bleischild?»

Soweit das Zitat aus dem Jahr 2001, ein Monat nach dem 11. September. Nun fände ich es allerdings überaus schön, wenn ich nicht allzu viele Sendungen aus der Vergangenheit rezyklieren müsste. Ich meine, dass der Erfindergeist auch der superdümmsten Kapitalistenklasse mindestens dazu ausreichen sollte, alle Naselang mal ein neues Umweltverbrechen auszuhecken. Oder sind jetzt die auch schon so lahm, dass es nicht mal dafür reicht?




Albert Jörimann

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Albert Jörimann
11.01.2011

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