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Was will uns der Neandertaler?

Nachdem nun bei Ausgrabungen in Europa und dem Nahen Osten immer mehr Hinweise darauf ans Tageslicht gelangen, dass der Neandertaler wahrscheinlich viel kulturvoller war als bisher angenommen, hat sich Hagen Kleemann diese Frage gestellt.


Kommentar Was will uns der Neandertaler


Jetzt hat sich der Neandertaler auch noch geschminkt. Ja, tatsächlich. Bei Ausgrabungen im Südosten Spaniens haben Forscher kleine Gefäße mit Resten von künstlich hergestellten Pigmenten entdeckt und zudem noch durchbohrte Muscheln, die vermutlich als Halskette getragen wurden. 'Naja, hat er sich abgeguckt, der Neandertaler.', dachte ich zuerst. Schließlich haben Neandertaler und Homo sapiens, also wir jetzt, doch mehrere Tausend Jahre in Europäischer Gemeinschaft verbracht. Aber diese offensichtlich misanthropen Ausgräber behaupten nun, daß die ans Licht gehobenen Schmuckstücke mindestens 50.000 Jahre alt sind, also aus einer Zeit stammen, in der in Afrika noch genug Sonne für alle von uns weisen Menschen da war und der Neandertaler in Europa sich noch unbehelligt gegen die Brust trommeln konnte, im dumpfen Gefühl seiner Einzigartigkeit.
Wissen diese Forscher denn überhaupt, was sie da tun? Offenbar von blinder Selbstsucht getrieben offerieren sie uns die Möglichkeit von hochbegabten Wesen, die nicht wir sind, sondern die anderen. Sie zeigen uns Werkzeuge, Reste von Bestattungsritualen, obendrein jetzt auch noch steinzeitliche Schminketuis und als ob das noch nicht genug wäre, sind im Nahen Osten gerade derart komplette Neandertalerknochen aufgetaucht, daß man daran das Zungenbein ausmachen konnte. Das hatten bisher nur wir, ganz allein auf Gottes Erde. 'Na klar', dachte ich: 'jetzt haben die Halbaffen auch noch gesprochen. Prima!'
Was soll das, bitteschön? Wo ist er hin der aufklärerische Ethos der Wissenschaft: Erkenntnis, die nie sich selbst zum Zweck hat, Objektivität, die keiner Ideologie sich anbiedert und vorallem Forschung, die allein dem Wohle der Menschheit dient. Gerade davon kann angesichts dieser akademischen Spatenfanatiker überhaupt nicht die Rede sein. Zu unserem Wohl gehört doch vor allem anderen, daß wir wissen wer wir sind. Und dazu braucht es Grenzen. Wir müssen wissen wo wir anfangen und wo wir aufhören: Ich bin ich, weil ich nicht Mutti bin, das haben wir alle erlebt und die Psychoanalyse hat es dann auch nochmal griffig formuliert, zum Nachschlagen, falls bei dem einen oder anderen von uns da mal was verwischt. Oder, ich bin Rot-Weiss-Erfurt-Fan, weil ich nicht Carl-Zeiss-Jena-Fan bin. Ich erkenne mich selbst erst im Spiegel der ganz, ganz anderen. Hätte ich diese Grenze nicht, dann würde ich doch Fan von allen sein und müßte auch nicht mehr zum Fußball gehen, wenn mir sowieso egal ist, wer gewinnt. Und was für mich gilt, als einzelnen, das gilt natürlich auch für die gesamte Menschheit. Um uns zu behaupten, brauchen wir klare Abgrenzungen zu allem was jetzt noch kreucht oder jemals fleuchte, draußen in der Natur, außerhalb von uns. Jahrtausende der Religion haben uns zu Halbgöttern gemacht, die aufgrund einer Art Bewährungsstrafe mit Bannmeile zwar gerade nicht im Paradies sein dürfen, aber immerhin doch in einem großzügigen und recht abwechslungsreichen Zoo als Direktoren. Für die, die mit Religion nichts zu tun haben wollten, also weder Lust auf Schuld noch auf harte Arbeit hatten, gab's die Philosophie, die Mutter aller Wissenschaften. Die Philosophie hat uns bis zuletzt versichert, daß es mindestens zwei Dinge gibt, die uns zum unvergleichlichen Superlativ der Schöpfung machen: Sprache und Kultur. So, und jetzt kommen die verzogenen Gören der Philosophie, nämlich die Paläontologie und die Archäologie daher und erzählen uns, daß der Neandertaler das auch hatte: Sprache und Kultur. Einfach so. Als ginge es darum möglichst viel über diese Höhlenmenschen zu wissen. „Wo warst du, Rabenmutter...“, möchte ich die Philosophie anklagen: „...als deine Bälger diesen Mist verbrochen haben? Saufen? Rummachen? Ach, wahrscheinlich hast Du dich nur selbst befriedigt.“
Dabei hatten wir doch schon eine vollständige Geschichte vom Neandertaler. Wir hatten wenige Knochen, dafür aber ein umso vollständigeres Bild: ein dumpfes, träges, recht körperbetontes Wesen, das höchstens grunzt, wenn man ihm einen Stein an den Kopf wirft. Der Neandertaler als Neger der Steinzeit.
Ja klar, mit dem Neger, das ist so eine Sache. Da gibt es diese „Out-of-Africa-Theorie“, die besagt, daß wir Homo sapiens vor gut 40.000 Jahren allein von Afrika aus in die übrigen Teile der Welt gezogen sind und zudem alle dunkelhäutig waren. Gut, geschenkt. Schließlich haben zumindest wir hier in Europa ja dann auch die vornehme Kurve gekriegt, sind wahrscheinlich durch eine hilfreiche Mutation recht schnell blass geworden und haben ganz nebenbei den Neandertaler für immer verdrängt.
Aber jetzt kommt's! Genforscher haben beim Neandertaler das Gen „mc1r“ entdeckt und analysiert. Dieses Gen kommt auch bei vielen Menschen vor und soll in Zusammenhang mit rötlichen Haaren und sehr heller Haut stehen. Na, spüren Sie den eiskalten Tropfen Verdacht, der Ihnen gerade den Rücken herunterläuft? Verstehen Sie, was das heißt? Das heißt, wir haben gefickt. Und zwar alle. Wir und die Neandertaler. Miteinander. Der Neger der Steinzeit hat uns weiß gemacht.
Seit ich das begriffen habe, kann ich kaum noch einen klaren Gedanken fassen, die Welt verwischt, alles zerfließt ineinander und beginnt sich aufzulösen. Gestern am Flughafen bat mich der Polizist an der Paßkontrolle trocken: „Identifizieren Sie sich!“, und ich begann bitterlich zu weinen.




Hagen
21.01.2010

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