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Aus neutraler Sicht von Albert Jörimann "Werbewahrheiten"

[13. Kalenderwoche]
Ursprünglich war die Politik die Sache der Gemeinschaft; heute geht es um Macht und um den Anteil der verschiedenen Interessengruppen an der Knete der Gemeinschaft.



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In der Auseinan¬der¬setzung ist die Zuspitzung gefragt; da hat man ein gewisses Verständnis dafür, wenn die Wahrheit hübsch eingekleidet und geschminkt wird, denn die Gesamtwahrheit ergibt sich dann aus der Summe der verschiedenen beziehungsweise gegensätzlichen Teil-Wahrheiten, und der Kuchen wird verteilt gemäß der besten Präsentation der jeweiligen Wahrheit. So halten es zum Beispiel die Strom¬konzerne und ihre Vertreterinnen in der Politik. Gegenwärtig werfen sie den Grünen vor, sie würden von der Atomkatastrophe in Fukushima profitieren, weil sie nämlich gegen die Atomenergie seien. Da kommt mir ein schrecklicher Verdacht: Die Grünen sind wahrscheinlich tatsächlich schon seit längerem gegen AKWs! Wohl schon seit den 70-ern! Vielleicht sind die Grünen überhaupt aufgrund der Ablehnung der Atomkraft entstanden! Und weiter noch: Vermutlich haben die Grünen schon klammheimlich von der AKW-Katastrophe in Tschernobyl profitiert! Diesen Verdacht kann kein einziges Mitglied der Führungsriege der grünen Partei entkräften! – Au weia. Diese Sorte von Logik müsste eigentlich eingesperrt werden in eine Anstalt einer neuen Kategorie, welche einzurichten ich mich anheischig machen täte, wenn ich von der Politik einen entsprechenden Auftrag erhielte; solange sie sich aber noch frei bewegt, muss man einfach darauf hoffen, dass das Durchschnittsindividuum nicht so blöd ist, dass es den Karsumpel auch noch glaubt. Wir sehen hier Nach- und Vorteile einer freien Gesellschaft am gleichen Phänomen: Nicht nur darf jedermann und jede Frau auch noch den größten Stumpfsinn in Umlauf bringen, vor allem, wenn es den eigenen Interessen dient bzw. das eigene Konto alimentiert, sondern auch ist das freie und demokratische Individuum absolut frei, den Brunz zu glauben oder nicht. Das halte ich für eine begriffliche Verwirrung. Wenn das demokratische Individuum nämlich tatsächlich frei ist, dann kann man ihm doch gar keinen Stuss erzählen, es müsste den Unsinn sogleich erkennen, denn sonst wäre es gar nicht frei; also dürfte der Stuss eigentlich in einer wirklichen Demokratie gar nicht existieren. Tut er aber doch, und zwar massiv, wie es die PR-Abteilungen der Atomenergie-Erzeuger und überhaupt die PR-Agenturen insgesamt immer wieder belegen. Allein die Existenz von PR-Agenturen ist der Beweis dafür, dass unsere Demokratien im Kern gar keine sind.

Einen schönen habe ich am Wochenende wieder gesehen, nämlich eine Werbung für eine weniger bedeutende Automobilmarke, die aber den Gesamttrend der Industrie aufs Schönste zusammenfasst. «Gas geben beim Umweltschutz, Ausrufezeichen!», schreibt die Firma Seat auf eine Zeitungs¬beilage von zwölf Seiten. Das ist doch einfach perfekt. Alle wissen, dass die Mobilität einen der größten Anteile am Energieverbrauch hat und im Fall des Automobils zudem noch am Verbrauch der fossilen Energie, von der es in hundert Jahren nichts mehr geben wird, wenn die Welt weiter macht wie bisher (das halte ich allerdings für praktisch ausgeschlossen, aber wie auch immer). Übrigens wird mindestens in der Schweiz nur noch für die Heizung mehr Energie aufgewendet als für die Mobilität, und damit haben wir bereits das absolute Energieverbrauchs-Traumpaar: Einfamilienhaus mal private Verkehrsmittel, möglichst ein Offroader, damit man auch über den Rasen oder mindestens über die Gehsteige zum Einfamilienhaus gelangt. Nein, wirklich, früher las man solche Dinge nur in Satiremagazinen und schüttelte den Kopf ob des relativ mäßigen Humorverbrauchs. Autofahren zwecks Umweltschutz. So wird das heute verkauft. Weitere konstruktive Vorschläge wären zum Beispiel zur Bekämpfung der Überfischung der Meere: Möglichst viel Meeresfisch essen! – Wobei diese Frage mit Fukushima einer anderen Sorte von Lösung zugeführt wird, wenn nämlich nach dem Super-GAU das Plutonium auch noch ins Meer gerät. Was die Grünen angeht, so könnten die den Vorwurf, sich politisch an einer AKW-Katastrophe zu bereichern, wohl nur entkräften, wenn sie ab sofort für den Bau neuer AKWs eintreten täten. Was für ein unfassbarer Stumpfsinn; hier sehen wir eben die Kommunikation von Silvio Berlusconi auch in unseren Gefilden, im ganz harmlosen und fast etwas schüchternen Alltag. Gas geben beim Umweltschutz! Atomkraft ist die sicherste und sauberste Energiequelle! Deutsche wählen Deutsche Volkspartei! –

Ach nein, letzteres war eine freie Übertragung eines Schweizer Slogans in Euer Land. Bei uns werben die rechtsnationalen Vollidioten tatsächlich mit der Parole: Schweizer wählen SVP. Das weckt natürlich nicht die gleichen Assoziationen wie der deutsche Nationalismus, und zudem sind die Zeiten des Faschismus in seiner originalen Form wohl definitiv vorbei. Aber die Lizenz zum frechen Lügen, zur Hetzpropaganda, die wird eifrig genutzt, eben vor allem von den Rechts¬natio¬nalen. Ihre Interessen sind dabei ebenfalls klar: Gegenwärtig geifern sie gegen die Schweizer Nationalbank, um mit diesem Ablenkungsmanöver eine strengere Bankenregulierung indirekt zu versenken; sie gifteln gegen kriminelle Ausländer, um die Tatsache zu vernebeln, dass ihre Führungsspitze zur Finanzelite des Landes zählt und eben mit den Großbanken gemeine Sache macht. Das ist bei uns wirklich eine hübsche und bilderbuchhafte Anordnung: Der Pfarrerssohn und Milliardär Christoph Blocher führt die Schweizer Hilfsarbeiter an der Nase herum, wobei ihm zunehmend auch normale Menschen folgen, welche die Parolen ganz lustig finden; zudem spüren sie natürlich, dass hinter den Parolen noch andere Wahrheiten zu finden sind, und die scheinen für aktuell 30% der Stimmberechtigten durchaus lustig zu sein. Was aber der nationalistische Diskurs insgesamt in Zeiten der ausgebauten Globalisierung für eine Existenzberechtigung hat, das frage ich mich schon seit langer Zeit und angesichts der Konjunktur der frechen Hunde in verschiedenen Ländern Europas immer inniger.

Da der Nationalismus heute vom Prinzip her eine verlogene Sache ist, findet man auch die größten Scharlatane unter seinen Anhängern. Die Kärntner Bubenschaft um das Idol Jörg Haider ist ein leuchtendes Beispiel dafür; ich hänge den bestechlichen ÖVP-Abgeordneten Ernst Strasser hier gleich mit an, obwohl der Geld durchaus auch auf europäischer Ebene annahm. Besonders prächtig macht sich aber der Lebensgefährte von Jörgl Haider, Stefan Petzner, der zu schnell und anschließend nach einem Fahrausweisentzug nochmals bzw. immer wieder zu schnell fuhr, immerhin nicht so schnell wie sein Lebensmensch Haider, aber auch er leugnete zuerst, dann relativierte er die Vergehen, bis er sie dann einräumte, um erst recht wieder zu relativieren. Das ist die Methode, welche Berlusconi bekannt gemacht hat; diese Methode ist in weniger krasser Form aber heute gängige Praxis und nennt sich eben Public Relations. Relativieren, Gewichte anders setzen, den Kontext umstellen usw. usf. – das ist der sanfte Berlusconi, mit dem der moderne Mensch längstens seinen Frieden gemacht hat. Berlusconi stört uns eigentlich nur deshalb, weil er derart ungehobelt, unflätig, grobschlächtig auftritt und weil seine eigenen Interessen so unverschämt offen zu Tage treten in allen seinen Handlungen, dass das wirklich nur die in Italien auszuhalten scheinen.

Was aber völlig über die Klinge gesprungen ist, das sind die Wahrheit und die Vermutung, dass es so etwas wie Wahrheit überhaupt gebe. Diese Vermutung gilt unter den PR-Fritzen vermutlich schon seit langer Zeit als hoffnungslos romantisch. Und das finde ich kulturge¬schichtlich bemerkenswert: Dass heute ausgerechnet die Wahrheitsvermutung als romantisch gilt, nachdem doch die historische Romantik immer eine Welt hinter der vermeintlich realen oder eben wahren stipulierte. So dreht sich die Karussellspirale des menschlichen Bewusstseins.

Man sollte sich davon aber nicht davon abhalten lassen, Gutes zu tun, und manchmal hat man dabei auch Aussicht auf Erfolg. Einen solchen haben wir am letzten Wochenende bei den Wahlen in Baden-Württemberg beobachtet. Zwar ist der gute alte badische Grünen-Chef Kretschmann trotz seiner Kommunisten-Vergangenheit heute mit Sicherheit ein Konservativer, der eher für eine CDU ohne Atomkraftwerke steht als für gesellschaftlichen Fortschritt; aber wir wollen uns mindestens in diesen Tagen nicht in die eigene Suppe spucken und uns freuen, dass ausgerechnet in jener Zone, die einen eigentlichen Puffer zwischen der Schweiz und Deutschland darstellt, jetzt eine rot-grüne Landesregierung in Aussicht steht. Vielleicht profitieren wir auch südlich des Rheins etwas davon. Und Ihr in Thüringen seid mit Euren vielfältigen Solar-Initiativen sowieso schon gut im Rennen in der Energiefrage.

Daneben bin ich nach wie vor verblüfft von den Ereignissen in Nordafrika und im Nahen Osten. Dass die Europäer jetzt dem Gaddhaffi heimzahlen, was sie ihm schon längstens heimzahlen wollten, versteht sich von selber; die Gräuelmärchen über Massaker an Zivilisten gehören zum PR-Werkzeug beider Seiten, das muss man nicht übertrieben Ernst nehmen, aber zu meinem Erstaunen setzt sich die libysche Armee in den Bodenkämpfen nicht durch, mindestens nicht vollständig und nicht im Moment; militärtechnisch bin ich überfragt, aber wenn sich Libyen bei Gelegenheit der Demokratiebewegung in den umliegenden Staaten anschließt, soll mir das Recht sein. Ein besonderes Gaudium stellt die Entwicklung in Syrien dar bzw. vielmehr die Rolle des Nachbars Türkei: Regierungschef Erdogan fordert von Baschir Assad eben justament mehr Demokratie... Ich hatte Erdogan und seine AKP schon lange im Verdacht, die einzige schlagkräftige Organisation für den Kampf gegen die Verstrickung von mafiöser Elite und Armee in der Türkei zu sein und nicht jener Islamist, als der er lange Zeit gehandelt wurde, und dieser Verdacht bestätigt sich praktisch von Tag zu Tag aufs Neue. Der Fortschritt kann also durchaus auch in der Gestalt einer islamischen Partei Einzug halten. Das sage ich hier schon lange: Der Kapitalismus auf der Basis der internationalen Arbeitsteilung und der Massenproduktion verlangt immer drängender nach kaufkräftigen Konsumenten, und solche kann es nur in relativ freien, das heißt einigermaßen demokratischen Gesellschaften geben; und eine solche demokratische Freiheit kann nun mal wirklich unter dem Banner sämtlicher Religionen eingerichtet werden, vom Hinduismus über den Buddhismus und die drei großen monotheistischen Religionen bis hin zum Berlusconianismus, wobei der Berlusconianismus dann letztlich doch eher einen Schabernack darstellt bzw. eine Persiflage der demokratischen Staatsform, welche sich alle Leute zu Herzen nehmen sollten, die nach wie vor an echte Demokratie glauben.






Albert Jörimann

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Albert Jörimann
29.03.2011

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