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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Schrumpfung des Automobilismus

Es gibt eine Lösung, beziehungsweise es gibt Lösungen für praktisch alle bekannten Probleme. Dass man sie nicht anwendet, hängt mit den Interessenlagen zusammen.



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> Download Zum Beispiel bedeutet die Schrumpfung der Automobilindustrie auf, sagen wir mal einen Drittel den Kollaps des Arbeitsmarktes, wenn man die Reduktion von heute auf morgen umsetzt. Gleichzeitig stehen keine Alternativen zur Verfügung, Stichwort Deutsche Bahn, Stichwort Finanzierung des öffentlichen Nahverkehrs durch die Kommunen. Das sind echte Interessenlagen, welche allerdings nicht der Lösung des Problems Automobilismus entgegenstehen, sondern sie bloß mit bestimmen müssen. Ein Problem ohne Lösung ist in diesem Zusammenhang der Verkehrsminister, aber auch wenn man den bescheuerten Andi ersetzen täte, wäre die De-Automobilisierung beziehungsweise die Mobilisierung der Gesellschaft jenseits des Verbrennungsmotors noch keinen Schritt weiter gekommen. Einmal abgesehen davon, dass man die Frage nach dem Bedarf an Mobilität durchaus noch nicht beantwortet hat. Die Arbeit kann man heutzutage zu schönen Teilen von zuhause aus erledigen, mindestens soweit man einen leistungsfähigen Internet-Anschluss hat; umgekehrt ist der Mensch ein soziales Wesen und soll nicht tagein, tagaus am Bildschirm sitzen, und er soll auch seinen Bekanntenkreis nicht so reduzieren, dass die alle zu Fuß erreichbar sind – es gibt kein Zurück zur ländlichen Dorfgemeinschaft aus dem 11. Jahrhundert im Namen der Umwelt­verträg­lichkeit, so weit kommt es nicht. Neinnein, Mobilität muss sein, persönliche und soziale, wobei ich hier noch einige Vorschläge zu machen hätte. Es geht in eine ähnliche Richtung, wie sie im Schweizer Parlament offenbar vorbereitet wird, nämlich planen die einen Gesetzesentwurf, mit dem sämtliche Schülerinnen und Schüler beziehungsweise ihre Schulklassen verpflichtet werden, mindestens einmal einen längeren Aufenthalt in einem anderssprachigen Landesteil zu absolvieren. Äußerst vernünftig!, möchte ich da ins Parlament hinein brüllen, und für Deutschland beziehungsweise die Europäische Union oder überhaupt die ganze Welt muss doch das gleiche gelten: ein halbes Jahr Austausch mit einer anderen Region, einem anderen Land, das muss doch drinliegen; schließlich kennzeichnet das ja gerade die Führungskräfte in der Wirtschaft, dass die praktisch immer längere Zeit im Ausland gearbeitet haben müssen, damit sie sich in der globalisierten Welt etwas besser zurecht finden, und da unsere Welt nun mal tatsächlich globalisiert ist, sollten wir uns daran halten. In der Schule beginnen und dann im Berufsleben oder einfach im Erwachsenenleben weiterfahren damit. Diese Sorte von Mobilität hebt sich auf jeden Fall deutlich ab vom klassischen Tourismus, indem sie die Betroffenen für eine kurze Zeit nicht einfach in Hotels im Ausland versetzt, wo im Wesentlichen der gleiche Komfort geboten wird wie zuhause, sondern in die Zielregion mehr oder weniger einpflanzt, wenn auch nur vorübergehend. Hier ist Mobilität also auszubauen, nicht abzubauen.

Aber zurück zur De-Automobilisierung. Der Grundsatz lautet einfach, dass kollektive Bedürfnisse auch kollektiv zu befriedigen sind. Wenn morgens um sieben Uhr zehntausend Menschen von A nach B zu verpflanzen sind, dann muss man dafür öffentliche Verkehrsmittel zur Verfügung stellen und nicht zehntausend Automobile, weil das nämlich eine Verschleuderung von Ressourcen sondergleichen darstellt, vom Umwelteffekt ganz zu schweigen. Der Einsatz von Automobilen muss auf das strikte Minimum zurückgefahren werden, das übrigens meinetwegen mit schönen Oldtimern erledigt werden kann, die allerdings mit den allerneuesten Motoren ausgestattet werden. Daneben benötigen selbstverständlich Handwerkerinnen ihre Automobile, der Transport, und auch die Menschen mit einer Behinderung sind angewiesen auf Automobile – aber weshalb gesunde Menschen ein Automobil fahren, und zudem erst noch ein zunehmend großes mit einer lichten Höhe von bald zwei Metern, das ist nur tiefenpsychologisch zu erklären, allerdings vermutlich an einer ziemlich seichten Stelle der Psyche. Aus arbeitsmarkttechnischer Sicht führt der Weg in die Ent-Automobilisierung somit über die Reduktion des Wirtschaftszweiges Automobil einerseits, den Aufbau des Wirtschaftszweiges öffentlicher Verkehr, insbesondere auf der Schiene, anderseits, und da es nach den konsequenten Abbrucharbeiten in diesem Sektor sehr viel zu tun gibt, dürfte dies in einer ersten Phase durchaus arbeitsplatzneutral ausfallen. Was im Automobilsektor verschwindet, wird im Waggons- und Geleisebau neu aufgebaut. Selbstverständlich handelt es sich hier um eine Übergangslösung, denn, wie man weiß, die Eisenbahn ist um Potenzen langlebiger als das Automobil, du kannst heute noch eine Lokomotive aus dem Jahr 1930 laufen lassen, die ihren Dienst tut wie neu, was man nicht mal von den Oldtimern mit Sicherheit sagen kann. Da fallen also im Lauf der Zeit deutlich weniger Arbeitsplätze an, aber damit muss man bekanntlich ohnehin rechnen: Die Bewegungen in der Automobilindustrie sind tektonischer Natur und künden so oder so schon jetzt von der erwähnten Schrumpfung, die man nur noch dadurch stoppen könnte, dass jeder Haushalt alle sechs Monate ein neues Vehikel beschafft, und so geht's nun mal einfach nicht. Respektive: Doch, es geht natürlich, auch Verschleißwirtschaft kann eine Zeitlang funktionieren. Aber es wäre doch um Einiges klüger, mal einzusehen, dass wir nun mal genug haben, und dann auch unsere Wirtschaftstätigkeit auf dieser Grundlage einzurichten. Die gute oder je nachdem schlechte Nachricht dabei ist: Auch eine Nicht-Verschleiß-Wirtschaft kann man auf kapitalistische Art und Weise aufbauen, wenn nämlich die Wertschöpfung wieder auf ihre Ursprünge zurückgeführt wird, nämlich auf die Exploitation der werktätigen Menschen; Voraussetzung ist bloß, dass diese Werktätigkeit nicht mehr in Verschleiß-Sektoren stattfindet, sondern in regenerierbaren Sektoren wie zum Beispiel im Gesundheitswesen. Man kann sich auch vorstellen, dass Menschen, deren intimste Bedürfnisse nicht mehr von ihrem Automobil befriedigt werden, andere intimste Bedürfnisse entwickeln. – Da kommt mir übrigens gerade in den Sinn, dass der intimste Innenraum der menschlichen Schöpfung, nämlich eben der automobile Innenraum aller SUV und Konsorten, seit zirka fünf Jahren von den Automobilherstellern vollumfänglich digital überwacht wird, vom Fahrtenschreiber über den Fernmeldeverkehr bis zum Atemlufttest und auch bis zu all dem, was im Fahrzeug-Innenraum gesprochen und auch gefurzt wird; all dies wird gespeichert in den Konzernzentralen der jeweiligen Automarke, ihr lieben Automobilistinnen werdet also an keinem Ort auf der Welt derart radikal überwacht und ausspioniert wie ausgerechnet in eurer intimsten Intimsphäre. Auf solch einen Witz würde mit einiger Sicherheit nicht mal ein kölnischer Karnevalsprinz kommen.

Abgesehen von allem: Über die Verdienste des Automobils und über seine Rolle bei der Entwicklung von Technik und Wirtschaft und der ganzen Gesellschaft brauchen wir nicht zu streiten. Das Automobil ist nicht nur für Wirrköpfe ein Symbol von persönlicher Freiheit, es hat tatsächlich die Freiheit der Individuen in einem unerhörten Ausmaß gesteigert, und dass das Automobil auch das Leitprodukt war beim Aufbau internationaler Lieferketten und bei der Automation, scheint mir völlig unbestritten. Ebenso unbestritten scheint mir aber, dass seine Zeit jetzt abgelaufen ist. Ich meine, wie will man sich in einem Automobil frei fühlen, das im Rahmen eines Fahrleitsystems von einer Mischung aus Konzernzentrale und der Straßenaufsicht ferngesteuert wird und sogar das Einparken von alleine besorgt? Das ist sowieso absurd. Die reine Fortbewegung beziehungsweise das Mobilitätsbedürfnis als solches kann man auch anderswie befriedigen, eben mit den Öffentlichen. Und für ganz besonders Süchtige richtet man Kliniken ein, rund um den Nürnburgring zum Beispiel. Und sowieso bleibt ja noch ein Grundbestand an Personenkraftwagen im Verkehr, für all jene Fälle, in welchen das Sinn macht. Die Frage der ProduzentInnen ist dann allerdings zweitrangig, wenn Deutschland also Exportweltmeister bleiben will, dann soll es sich irgendwelche Produkte ausdenken, aber nicht gerade Automobile. Und wenn ihr jetzt fragt, welche denn, dann kann ich euch nur zu ein paar Auslandaufenthalten raten, da merkt man vielleicht, wo die internationalen Bedürfnisse tatsächlich liegen, zu denen Befriedigung sich die deutsche Leitindustrie anschließend aufmachen kann.

Es gibt abgesehen davon auch noch andere Probleme, zum Beispiel die Erfindung einer neuen Staatsform. Ganz offensichtlich haben die Menschen in den entwickelten Ländern das Schauspiel einer Demokratie satt, jetzt wollen sie etwas anderes. Unsereins hätte gedacht, dass sie dann ganz natürlich die Demokratie selber anstreben würden anstatt das Schauspiel davon, aber offenbar existiert kein entsprechender Automatismus. Die Mehrheit kann unterdessen nicht mehr glauben, dass ein Schauspiel mit derart schlechten Akteurinnen wie Ursula von der Leyen und Frau Kramp Karrenbauer als Verteidigungsministerinnen, Andy Bescheuert und Do brinnts als Verkehrsminister oder gar Deutschlands most recent Top Model Julia Klöckner als Bundesbäuerin tatsächlich nur ein harmloses Schauspiel einer Demokratie sein soll – da muss doch mehr dahinter stecken, zum Beispiel ein einfacher Kapitalismus, wahrscheinlicher aber eine Verschwörung, ja, sogar eine Weltverschwörung, und da wir bisher noch nichts gehört haben von einer Weltverschwörung der Karnickelzüchtervereinigungen aller Länder oder der Weltgilde der Friseure, die übrigens am einfachsten an die Weltgeheimnisse herankommen täte, aber eben, davon haben wir noch nichts gehört, deshalb greifen wir einfach auf die bekannten Verschwörungstheorien zurück, es ist nicht einfach der Weltkapitalismus, sondern es ist eine Verschwörung des US-amerikanischen Geheimdienstes mit dem Weltjudentum, so einfach ist es und überhaupt auch schon seit über hundert Jahren hieb- und stichfest bewiesen, auch wenn der Hitler sicher übertrieben hat mit dem Holocaust und dem Weltkrieg, den er sowieso vor allem deswegen übertrieben hat, weil er ihn verloren hat, sonst sähe die Welt jetzt nämlich anders aus, es gäbe mit Sicherheit eine echte Demokratie, also sowas – genau auf solche kruden Gedanken kommen offenbar nach wie vor stattliche Anteile der dem Staate innewohnenden Bevölkerung. Vielleicht hängt es aber nicht nur an Julia Klöckner und Andi Bescheuert, sondern auch daran, dass die Europäische Union im Gestrick von 28 Nationalismen festgezurrt ist, dass also Fortschritte sowohl in der Erkenntnis als auch in der Praxis auf dieser Ebene im Moment nicht wirklich zu erwarten sind. Vielleicht hängt die aktuelle Ratlosigkeit tatsächlich damit zusammen, dass sich in den letzten Jahren niemand wirklich Zeit genommen hat, um endlich mal auseinanderzudividieren, welche Staatsform die Menschen in den entwickelten Gesellschaften unter den Bedingungen eines allgemein verbreiteten Wohlstandes denn am besten einrichten würden.

Wäre das nicht mal ein Thema für die Linke oder überhaupt für die Linken? Aber die ziehen es offenbar auch vor, die Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten der kapitalistischen Weltordnung anzuklagen, die es selbstverständlich nach wie vor gibt, aber die halt im Moment einfach nicht die größte Herausforderung für eine politische Analyse darstellen.



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Albert Jörimann
05.11.2019

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