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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Jahresabschluss 2020

Letzte Woche begab sich Airbnb an die Börse. Die Idee, welche diesem Unternehmen zugrunde liegt, gefällt mir eigentlich ganz gut: Wenn du auf Reisen gehst, findest du überall auf der Welt einen sauberen und sicheren Schlafplatz in Privathaushalten.

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Diese Modernisierung und Globalisierung der Gastfreundschaft leuchtet mir ein, und ich habe auch schon verschiedene gute Erfahrungen gemacht damit. Ob die Idee allerdings ausreicht für den kommerziellen Betrieb einer weltweiten Plattform, daran hege ich erhebliche Zweifel; vielmehr würde es mir logisch erscheinen, dass die Tourismus-Organisationen in den jeweiligen Gebieten selber solche Plattformen betreiben. Jedenfalls tut sich das Unternehmen schwer mit der Rentabilität; in den ersten drei Quartalen dieses Jahres, das zugegebenermaßen ein schwieriges Jahr war für die Reisebranche, hat Airbnb einen Verlust von etwa 700 Millionen Dollar erwirtschaftet. Das hat aber die Stimmung der Anlegerinnen nicht beeinträchtigt; am ersten Handelstag stieg der Marktwert von Airbnb auf gut 100 Milliarden Dollar. Kein Wunder, fühlten sich viele an die Dotcom-Blase vor zwanzig Jahren erinnert, als die Aussichten der Internet- und Kommunikationsbranche zwar grundsätzlich richtig, im Timing aber grundfalsch eingeschätzt wurden. Für einen Gigatrend gibt es eben keine Wertpapiere, sondern nur für die einzelnen Akteure daraus, und diese zu identifizieren sowie die tatsächlichen Zyklen ihres Wachstums, das ist dem durchschnittlichen Individuum in der Regel versagt. So weiß man denn im Moment logischerweise auch nicht, ob Airbnb nicht doch noch der Umsatzknaller wird; fürs erste kann man nur festhalten, dass solche Preise wie jene für Airbnb nur damit zu erklären sind, dass die Staaten, die Notenbanken und die anderen globalen Institutionen in den letzten paar Jahren Kapital ins System gepumpt haben wie blöd, angeblich, um damit Investitionen anzukurbeln und in den letzten Monaten natürlich auch den Konsum. Aber Investitionen in Maschinen und solche Dinge sind für die nächsten 100 Jahre vorfinanziert, und so fließen die ganzen Beträge halt in den Kapitalmarkt, mehren dort den Reichtum der Reichen und nützen jenen nichts, welche die Knete am dringendsten brauchen täten.

Vielleicht muss man sich doch damit zu beschäftigen beginnen, was geschieht, wenn es dieses System zusammenlegt. Die Börsenkapitalisierung und die Finanzflüsse können selbstverständlich bis ins Unendliche gesteigert werden, ohne dass es die Menschen im Alltag wirklich schmerzt; einer durchschnittlichen Beamtin im Steuerbüro kann es völlig egal sein, ob Elon Musk hundert oder tausend Milliarden Dollar Vermögen besitzt, Steuern bezahlt der sowieso keine. Stattdessen gründet er demnächst vermutlich eine Wohltätigkeitsorganisation, welche in jenen Bereichen aktiv wird, wo der US-amerikanische Staat keine Mittel mehr hat, wobei Elon Musk im Moment noch andere Hobbies pflegt, die ebenfalls finanziert sein wollen, namentlich die Raum- beziehungsweise Mars-Fahrt, wobei er sich diese dann ebenfalls wieder durch den Staat bezahlen lässt; das ist mir schon ein Teufelskreis, aus dem der arme Elon Musk fast nicht mehr herauskommt.

Immerhin werden wir in absehbarer Zeit zwei wesentliche Pains in the Brain los, neben Trump nämlich den Brexit, mit dem sich die Engländerinnen nun endlich vom Kontinent verabschiedet haben, allerdings nur unter der Bedingung, dass sie die Marktbedingungen des Kontinentes einhalten, ohne etwas dazu sagen zu dürfen, sonst wird ihnen der Zugang gesperrt. Mir soll das egal sein. Mein Referenzblatt in London, nämlich die «Sun», berichtet in höchstem Entzücken darüber, wie Ursula von der Leyen beim Brexit eingeknickt ist wegen des eisenharten Widerstandes des eisernen Kanzlers respektive Premierministers, nämlich bei der Übergangsfrist für die Fischereiquoten. Fünf Jahre, hatte Boris Eisenherz geboten. Frau von der Leyen forderte sechs. Fünf Jahre!, blieb Boris Löwenherz stur. Dann blieb die Leitung stumm. Die Briten meinten bereits, Brüssel hätte sich abgemeldet. Das wäre es dann gewesen; Ritter Boris hätte sich geweigert, den Deal zu unterzeichnen. Doch dann meldete sich Ursula von der Leyen wieder: Sagen wir fünfeinhalb Jahre? Die EU war eingeknickt angesichts der eisenharten Haltung von Ironman Boris! – Naja, selber schuld, wer liest denn schon die Boulevardpresse und zumal die englische Boulevardpresse, da kommt ja die Bild-Zeitung wie ein Wissenschaftsjournal daher. Besonders angetan hat es mir diese famose Lebenshilfe-Rubrik «Dear Deidre», in welcher sich vor ein paar Tagen ein Mann beschwerte, dass seine Frau mit der Frau seines Freundes geknutscht habe, und zwar vor seinen Augen. Deidre bringt dem Lesepublikum so die tägliche Portion Pornographie im Kleid der Lebenshilfe, was es ja bei genauerem Hinsehen auch ist. Und heißt Pornographie nicht gerade «genau hinsehen»?

Vermutlich nicht. Sprechen wir deshalb von erfreulicheren Dingen. Die Russen haben über eine Schwachstelle in einem Software-Schaltsystem mit einem Namen wie Sonnensegel oder Solar Wind Zugang erhalten zu praktisch allen sensiblen Daten der Vereinigten Staaten von Amerika und vielleicht auch von Europa, wie man vor zehn Tagen mitgeteilt erhielt. Soweit ich weiß, haben sie dies immerhin nicht dazu ausgenützt, um zum Beispiel US-amerikanische Atomwaffen ins Weiße Haus zu lenken oder solche Späße. Sie haben seltsamerweise überhaupt nichts angestellt mit diesen Daten. Man fragt sich gerade heraus, wozu die Russen denn dauernd spionieren, wenn sie mit den Ergebnissen per Saldo doch nichts anfangen. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass, im Gegensatz zu unserer täglichen Informationsbelieferung durch das Westfernsehen, die Russen nicht ganz alleine auf der Welt mit Spionieren beschäftigt sind. Gut möglich, dass man nicht überall Huawei-Software einsetzen sollte in Kommunikationssystemen, der Chineserer bemüht sich mit jeder Garantie, seine Lauscher über die ganze Welt auszufahren; gerade die Bewohnerinnen von Taiwan tun gut daran, sich bei Ericsson und Nokia zu bedienen anstelle des großen Bruders vom Festland. Aber insgesamt kann man als gegeben unterstellen, dass die US-Amerikaner und mit ihnen sicher auch unsere eigenen Bundesnachrichtendienste nicht die belämmerten Anfänger sind, als die sie sich selber darstellen, wenn sie wieder mal eine Meldung über die Raffinesse der kriminellen Russen-Hacker raushauen.

Das Internet-Portal Euractiv macht zum wiederholten Male darauf aufmerksam, dass unser aller Lieblings-Erdogan bei allen Wirtschafts- und Währungsproblemen im Inland seit bald zwanzig Jahren voll auf Expansionskurs fährt im Maghreb. Die militärische Intervention in Libyen stellt eigentlich nur noch das Sahnehäubchen auf diesem Geschäftsvorgang dar. Da kommt mir mein altes Desidarat an die Europäische Union wieder hoch, dass man mit Marokko, Algerien und Tunesien endlich mal ein echtes Assoziationsabkommen abschließen sollte. Der Erdopimpel folgt natürlich den historischen Wegen der osmanischen Vorfahren, und wenn man so will, hat er unterdessen ja auch schon England im Sack mit dem Enkel des ehemaligen türkischen Außenministers; allerdings ist die Absicht, ein Neo-Sultanat aufzubauen, noch nicht gleichzustellen mit ihrer Realisierung. Trotzdem finde ich die türkische Handelsoffensive in dem, was ich gerne als europäische Gewässer bezeichnen möchte, für bemerkenswert; sie erklärt mindestens zum Teil die Machtphantasien, die sich am schönsten im 1000-Zimmer-Palast und am zweitschönsten in der vollumfänglichen Unterjochung von Justiz, Parlament und Presse manifestieren. Insofern bin ich geneigt, meine bisherige Bezeichnung Erdopimpel aufzuwerten und ihn fürderhin Erdopampel zu nennen, wenn ich es nicht wieder vergesse.
Dies ist meine letzte Wortmeldung im Jahr 2020. Ich bin zwar nicht dazu verpflichtet, einen Rückblick von mir zu geben, wie dies zum Jahreswechsel häufig getan wird. Einen Aspekt möchte ich trotzdem hervorheben, ganz selbstverständlich im Zusammenhang mit dem Versuch, das Coronavirus in Grenzen zu halten, unter anderem durch mehr oder weniger strenge Ein¬schrän¬kungen des öffentlichen Lebens. Nämlich offenbart sich bei all diesen staatlichen Maßnahmen ein Grad an Stabilität und an selbstverständlichem Funktionieren unserer Staaten, der mich schlichtweg verblüfft. Zum ersten Mal in der jüngeren Vergangenheit sind die übelsten Verstöße gegen alle klassischen Wirtschafts- und Haushaltstheorien nicht nur möglich, sondern überstürzen sich geradezu, aus dem einfachen Grund, weil man will und kann. Das finde ich außerordentlich bemerkenswert. Hinter dem populistischen Gerangel um Einflusssphären innerhalb des Landes und innerhalb der Europäischen Union taucht plötzlich eine Rationalität auf, eine Vernunft, von der man sich langsam zu verabschieden glaubte. Das finde ich unbedingt erfreulich. Es sieht so aus, als ob damit auch Anstrengungen zur Reduktion der Umweltbeschädigung ein größeres, ja sogar ein kritisches Gewicht erhielten. Das sehe ich nicht nur den Neujahrsanzeigen der deutschen Automobilindustrie an, welche sich in Elektromobilität überschlägt, auch wenn es sich nur um Hybridfahrzeuge handelt, die per Saldo vermutlich noch mehr CO2 und weitere Schadstoffe ausstoßen als die klassisch optimierten Verbrennungsmotoren. Man sollte die Herrschaften in den Führungsspitzen zwar mit mehrjährigen Maulschellenstrafen belegen für ihre jahrelange Ignoranz, ihr Nichtstun, ja, ihre bewusste Sabotage der Umweltvorgaben auf allen Ebenen; die Elektro-Jubelinserate liest man aus diesem Grund nach wie vor mit der allergrößten Skepsis. Und trotzdem: Man hat tatsächlich den Eindruck, als wäre mit dem Glauben in den Staat auch der Glaube in die Machbarkeit vernünftiger Politik zurückgekehrt. Nicht etwa revolutionärer Politik, damit wir uns richtig verstehen, damit hat das alles gar nichts zu tun, aber doch immerhin eine Politik, welche ausnahmsweise wieder mal etwas bewirkt. Wenn dann der bescheuerte Verkehrsminister und die schöne Landwirtschaftsministerin im nächsten Jahr auch noch in der Versenkung verschwinden, dann wird sich nicht nur die Sonne am Kopf kratzen und sagen: Vielleicht hab mich mich ja doch getäuscht in der Reformierbarkeit der Welt?

Hier findest du alle Kolumnen von Albert Jörimann von 2007 bis heute.

Albert Jörimann
29.12.2020

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