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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Kalligraphie

Von unserem Schönschreib-Lehrer erinnere ich mich in erster Linie an seine Tochter, die eine ziemlich heiße Nummer war und mir zu ein paar schönen Momenten verholfen hat, an die ich mich sehr gerne erinnere, obwohl wir nie eine eingetragene oder ausgedrückte Partnerschaft eingegangen sind.



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> Download Ihr Vater, also der Schönschreib-Lehrer, trug den Spitznamen «HlbnKlbn», weil dies über die Jahre hinweg seine Paradekombination war zum Üben von runden Oberlängen in der Schreibschrift. Daneben haben seine Bemühungen kaum Früchte getragen, die Konkurrenz durch Schreib­ma­schi­nen und Computer war übermächtig, sodass niemand von uns per Saldo schön, aber alle das Schrei­ben doch immerhin noch so weit gelernt haben, dass es für ein ordentliches graphologisches Gut­achten reicht. Im Zeitalter von Tastatur und Siri wird das langsam schwierig. Eine Stimmanalyse mag zwar Hinweise geben auf die Gemütslage der Sprecherin, aber für eine richtig deftige Charak­ter­analyse, wie dies eben bei der Graphologie noch möglich war, reicht das nicht mehr aus. Und so muss, wer sich heute überhaupt noch einen Charakter leistet, zu anderen Mitteln greifen, ihn zum Ausdruck zu bringen als die Schreibschrift. Ja, es ist so weit gekommen, dass in der Schweiz irgend ein Gremium von Volkspädagogen beschlossen hat, die Schreibschrift von Grund auf zu refor­mieren und die einzelnen Buchstaben in Zukunft nicht mehr aneinander zu hängen. Die Schü­le­rin­nen und Schüler müssen also nach jedem Buchstaben absetzen und den nächsten gesondert, sozusagen punktieren. Wie so manches auf dieser Welt leuchtet auch dies mir weder heim noch ein; für mich war und ist die Schreibschrift in der Regel so etwas wie meine persönliche Stenografie, für welche mein persönlicher Fluss im Zusammenschreiben aus Zeitgründen unerlässlich ist. Tatsächlich habe ich beim Notieren immer den Eindruck, ich stünde unter Zeitdruck, keine Ahnung, weshalb. Aber es ist so, und deshalb schreibe ich in der Regel derart schnell, dass ich selber es zwei Tage später nicht mehr entziffern kann.

Ganz im Gegensatz zu einer, unterdessen vermutlich ebenfalls aussterbenden Generation von abso­luten Schönschreibern aus England. Habt ihr auch schon mal so ein Couvert erhalten, auf welchem euer Name und eure Adresse in der wunderbarsten Kalligrafie, geschrieben mit einem goldenen Füllfederhalter und mit Tinte aus gerösteten Kolibrifedern, die ganze Front ausfüllt und gerade noch Raum lässt für die Briefmarke, welche in der Regel die Komposition aufs Schönste ergänzt, in der Regel wird auch die Briefmarke nach allerhöchsten ästhetischen Ansprüchen ausgewählt, und dann am Schluss macht diese dumme Codiermaschine der Post einen roten Barcode über das Gesamt­kunst­werk, wobei man das durchaus auch so interpretieren kann, dass sie es verfremdet und inso­fern zeitgemäß veredelt. Gar nicht von einem Barcode veredelt oder verunziert ist dann das Büt­ten­papier, auf welchem die, meist ziemlich einfache Botschaft in ebenso schöner englischer Schreibschrift steht, Wie geht es euch, uns geht es gut, oder so ähnlich. Die Karte oder der Brief sind nebensächlich, aber die Ausführung und die Präsentation von einer solchen kunst­hand­werklichen Qualität, dass man sich vorkommt, als hätte man einen Orden des British Empire in der Hand. – Kennt auch ihr solche Wunder der englischen Schönschreibkunst? Unser alter HlbnKlbn hätte sich darin noch Jahre üben können, er hätte trotzdem nicht die Meisterschaft erlangt, wie sie an englischen Schulen bis in die achtziger, neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein die Regel war.

Schöne Sachen waren das, und schön sind sie noch heute, bloß eines habe ich unterdessen gelernt: Wir nennen das zwar häufig Kalligraphie, aber es gibt noch eine Kalligraphie jenseits des Schönschreibens, nämlich in Asien, und die hat mit Schönschreiben eigentlich gar nichts zu tun. Vielmehr geht es hier darum, einen Begriff oder einen Spruch, ein Zeichen oder mehrere Zeichen in einem geplanten, aber letztlich doch spontanen Akt auf das Papier zu tuschen und dabei eine bestimmte Spannung in der Darstellung sowie die angemessene Dynamik in Strichstärke und Tintengebung zu realisieren. Hinter die Geheimnisse dieser Kunst bin ich selbstverständlich nicht gekommen, ich habe bloß gelernt, dass es auch hier wie im Judo unterschiedliche Stärkeklassen gibt, einen Weg zur Meisterschaft, der offenbar die Fähigkeit umfasst, den richtigen Begriff oder Sinnspruch oder das richtige Gedicht auszuwählen und diese dann im Kalligrafieprozess in die erforderliche Darstellung zu bringen. Mit anderen Worten: Nichts von HlbnKlbn, aber sehr viel von Konzentration, Kraft und formalem Wissen und Empfinden. Dass das Spektrum der Sinnsprüche dabei sogar Gedichte von Joseph von Eichendorff oder Ernst Jandl umfassen kann, habe ich eher als Scherz empfunden; dagegen blieb ich innerlich einen Moment lang mit offenem Mund stehen, als ich die Übersetzung des einen Zeichens hörte, das da lautet: Staub vor dem Sturm. Sogleich bildete sich in mir eine Vorstellung einer verlassenen Straße, auf welcher der Staub vollkommen unbewegt in der Mittagshitze liegt, und den Sturm kann ich mir in jedem beliebigen Moment dazu denken, wie er hereinfährt und den Staub aufwirbelt und in die Höhe jagt, vielleicht in der nächsten Sekunde, vielleicht aber auch erst in einer Viertelstunde und insofern praktisch nie; das Flimmern und Flirren, welches dieses «vor dem Sturm» über dem Staub erzeugt, brachte mich durchaus nicht um den Verstand, aber ich fand das eine enorm anregende Vorstellung. Der ordinäre, belanglose, langweilige Straßenstaub gewinne durch die Vorstellung, dass da ein Sturm hinein fahren könnte, eine vollständig andere Qualität. Und das ist vielleicht die wichtigste Qualität am Kalligraphieren, mindestens für mich und nach dieser knappen Einführung: dass man mit den Begriffen ja nicht einfach Reklame macht für Maggi-Würze oder Public Relations für den Toyota Prius, sondern dass man auf der begrifflichen Ebene die Welt, mindestens die Welt der Vorstellung, was ja für den Menschen die einzige existierende Welt ist, etwas ins Wanken bringt, in ein leichtes Taumeln, in ein Flirren und Zittern eben; das hat mir ausgezeichnet gefallen.

Weniger gefallen hat mir, dass andere Menschen das offenbar viel prosaischer sehen. Für sie war der Staub vor dem Sturm bereits in der Luft, der Sturm stand sozusagen vor der Tür und hatte seine ersten Bläser schon vorausgesandt. Das habe ich wiederum nicht begriffen. Der Staub vor dem Sturm kann doch nicht schon herum wirbeln, der muss doch unbewegt am Boden liegen, wie er sich dort angesammelt hat! – Und da gehen sie schon los, die Debatten über Zen und Buddhismus. Das ist allerdings nichts für mich; mir reicht das erwähnte leichte Flimmern der Begriffe und der ganzen Begrifflichkeit.

Bei anderen Figuren der Zeitgeschichte flimmert gar nichts, da wird einfach wieder gefurzt und geschissen und gepöbelt wie im Spätmittelalter. Der italienische Innenminister und Möchtegern-Faschist Salvini ist ein solcher Vogel. In einem gewissen Sinne kann man ihn begreifen, denn für das, was die in Italien Politik nennen, ist Furzen, Scheißen und Pöbeln eine durchaus angemessene Reaktionsform. Als Aktionsform dagegen, namentlich als eigenständiges Mittel der Politik, erscheint sie dem Durchschnittsmenschen fragwürdig, jenem Durchschnittsmenschen, der auch Bedenken hat gegenüber weiteren Volkskriterien wie dem gesunden Menschenverstand, der öffentlichen Meinung und schweigenden Mehrheiten, welche der Durchschnittsmensch immer als brüllende und im Gleichschritt marschierende Massen begreift, ungefähr so wie der Staub vor dem Sturm, bloß nicht flimmernd. Aber das Volk reagiert mit seinen scheinbar vormodernen Ausdrucksweisen in der Politik in erster Linie auf seine komplette Entmachtung, nicht nur in der Politik, sondern in zunehmendem Maß auch durch die Informatik, in Kombination mit dem Fehlen von vernünftigen Erklärungsmodellen und lustvollen Projekten für jedermann. Hier ist die Arbeit, an welcher die Jugend zu forschen hat, nachdem die alten Kämpferinnen und Kämpfer es sich in ihren Schützengräben sehr bequem eingerichtet haben. Zeigt uns mal ein paar Wege auf, wie man Hedonismus kombiniert mit Ökologie und Solidarität, ganz ohne Schlagwörter!

Eine schwierige Aufgabe, ich weiß. Aber ich sehe keine Alternative zu einem solchen Forschungs- und Entwicklungsprogramm. Es scheint mir die einzige Methode zu sein, um sich gegen den jüngsten Trend zur Wehr zu setzen, der darin besteht, dass auf der sprachlichen Ebene die Frustrationstoleranz in sich zusammen gebrochen ist. Eine vermutlich nicht übermäßig große, aber doch hörbare Anzahl an Nutzerinnen und Nutzern sozialer Medien ersetzt Reflektieren durch Reflex und schafft damit eine eigenständige Kommunikationswolke, nennen wir sie mal Nummer sieben, in welcher sich eine Form von protofaschistischer, nämlich eben vollständig unreflektierter Vernehmlassung sammelt, deren Wahrheitsgehalt nicht auf der inhaltlichen, sondern auf gemeinschaftlicher Ebene gebildet wird. Das ist, knapp gesagt, sehr schade.
Das heißt, schade ist es eigentlich nicht, schade ist nur, dass sich diese Wolke nicht im Darknet befindet. Aller Wahrscheinlichkeit müsste sie sich irgendwann mal auflösen, wenn sich nämlich die Erkenntnis durchsetzt, dass der gegenseitige Austausch und die Befruchtung auf Wolke 7 abgesehen vom völligen Mangel an Vernunft auch noch auf objektiv falschen Meldungen beruht, was allerdings im Moment fast noch das größte Ärgernis darstellt. Ich erinnere nur an die steile Zahl von 365 reinrassigen deutschen Mordopfern von ausländischen Tätern, die ganz sicher auch heute wieder ein paar zehntausend Mal in deutschen Wolken und Netzwerken herum geboten wurde. Für ein durchschnittlich aufgebautes und ausgerüstetes Hirn ist sowas einfach nicht zu fassen.

Und dass am Rande dieser Wolke auch die offizielle deutsche Politik Politik macht in Form der Seehoferei, das macht die Sache nicht besser, auch wenn man in Rechnung stellt, dass 13 Jahre Bundeskanzlerin Angela Merkel sogar für die geduldige deutsche Bevölkerung eine immer größere Belastung zu werden beginnt, ganz wie dunnemals bei der letzten Amtszeit des unvergänglichen Kanzlers der deutschen Einheit. Bloß standen damals ein paar erfolgshungrige Sozialdemokraten bereit, um das Erbe des ersten sozialdemokratischen CDU-Bundeskanzlers anzutreten; heute weiß man zwar, dass die Erbin oder der Erbe von Angela Merkel mit Sicherheit weiterhin eine sozialdemokratische Politik betreiben wird, weil es gar nicht anders geht, aber die ideologische Begleitmusik dazu, die scheint unerwartet schrille und schepse Formen anzunehmen.

Dies wiederum bietet die besten Voraussetzungen dafür, dass aus den ideologischen Ruinen wieder mal ein neues, modernes und offenes Gesellschaftsmodell und Gedankengebäude entsteht. Daran zu arbeiten wird zu einem erstrangigen Spaßfaktor, nicht nur in Deutschland, sondern überall auf der ganzen Welt.



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Albert Jörimann
26.06.2018

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