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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Beresina

Es ist möglich, dass das Bild von Afrika als rückständigem Kontinent mit Bevölkerungen, die zum Teil noch in steinzeitlichen Gesellschaften verwurzelt sind, die aber auf jeden Fall bisher noch keine modernen Institutionen hervorgebracht haben, noch schlimmere Auswirkungen hat als die Missstände selber.



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> Download Wer ein solches Bild mit sich herum trägt, wird kaum an die Möglichkeit echten Fortschrittes denken. Auch ich bediene mich dieses Bildes regelmäßig, vor allem dann, wenn ich wieder eine Attacke von Ärger über die Profiteure habe, die in der Regel in den entwickelten Ländern wohnen und in der Schweiz ihre Bankkonten besitzen. In Afrika selber verändert man die dem Bild zugrunde liegenden Realitäten aber auf verschiedenen Ebenen. Da sind die Chinesen, welche ganz pragmatisch die wirtschaftlichen und nebenbei auch politischen Chancen sehen und nutzen. In verschiedenen Ländern Afrikas selber hat sich eine Klasse von Unternehmerinnen und Unternehmern ausgebildet, die durchaus nicht nur danach trachtet, möglichst dicke Kassen in Genf zu führen, sondern die kapiert hat, dass die Profitraten zuhause viel höher sein können, wenn man es nur richtig anstellt; dazu braucht es die Kapitalisten aus den ehemaligen Kolonialländern überhaupt nicht. Und dann gibt es jene Menschen, welche sich auf kultureller Ebene mit dieser Frage, also mit dem Afrika-Bild, beschäftigen. Der Afrofuturismus ist so etwas. Es handelt sich gemäß einem Artikel, den ich soeben im Zürcher Tages-Anzeiger gelesen habe, um schwarze Science Fiction in Popmusik, Film und Kunst, welche mythische und magische Traditionen mit futuristischer Technologie verbindet. Der letzte Heuler ist laut diesem Artikel aber der Afro-Bubblegum, also der Afro-Kaugummi beziehungsweise vermutlich die Blasen, die man daraus herstellen kann, und der Trick hierbei ist der, dass eine alte Komponente des Afrika-Bildes, nämlich jene von den fröhlichen Menschen, die sich des Lebens erfreuen, aufgegriffen und in die Gegenwart transportiert beziehungsweise als Leitbild für die Zukunft etabliert wird: Vorstellungen von Freude und Gelächter. Spassig und albern soll es sein, das Genre, aber dabei eben nicht die naive Lebenslust transportieren, sondern den Alltag aufgreifen. Es soll lustig sein im modernen Alltag, der doch letztlich allen Menschen genau diese Lebensfreude verspricht mit seinen kulturellen und technologischen Freiheiten.

Das leuchtet mir ein, mehr noch: Es leuchtet mir sogar für uns selber ein. Wir beobachten gegen­wärtig mit Beklemmung die Verbreitung von Nationalismus, Falschinformationen und Hass in unseren Gesellschaften, mindestens aber in den sozialen Medien; wir beschweren uns über das Aufkommen von Populisten; ich sehe hier einen direkten Zusammenhang damit, dass es seit langer Zeit keine ernst zu nehmende Strömung an Lebensfreude und Albernheit bei uns gibt. Die For­de­rung nach Nutzung des kreativen Potenzials und nach Ausleben der Freiheit muss man eben konkret stellen und sie nicht dauernd mit der Verbissenheit einer alten Bulldogge herum kläffen. Die Kenianerin Wanuri Kahiu schlägt einen Bechdel-Test vor, um Stereotype in kulturellen Dar­stel­lungen des afrikanischen Alltags zu entdecken: Gibt es in dem Werk mindestens zwei gesunde Afrikaner? Haben sie ein regelmäßiges Einkommen, brauchen also nicht gerettet zu werden? Und: Genießen sie das Leben? – So etwas müsste man auch für unsere Gesellschaften etablieren oder ganz einfach insgesamt eine Kultur, welche eine offene Zukunft unter Ausschöpfung aller Freiheitspotenziale, die sie enthält, für möglich hält und diese zelebriert.

Das ist das wichtigste Mittel gegen Populismus und Nationalismus. Wir haben es vor lauter Kritik und Analyse komplett vernachlässigt, um nicht zu sagen komplett vergessen. Wir vermögen das kapitalistische System begrifflich zu zerlegen wie einen Automotor, aber so richtige Freude und richtiger Tatendrang entsteht daraus längst nicht mehr. Das sollten wir ändern, und wenn uns dies gelingt, dann haben wir auch eine populistische Alternative zu den Idioten im Osten und im Süden.

Gestattet mir eine kleine Abschweifung. Am 26. Mai wurde das Endspiel der diesjährigen Cham­pions League gespielt, normalerweise ein Muss für alle, die sich für Fußball interessieren, also auch für mich, aber in diesem Jahr erteilte ich mir Dispens, obwohl mich Liverpool eigentlich begeistert hatte und insonderheit der kleine Ägypter Mo Salah, den ich sofort zum legitimen Nachfolger des borniert und langweilig gewordenen Lionel Messi krönte. Hätte ich also die Partie anschauen kön­nen, aber ich wusste zum vornherein: Wenn eine Mannschaft so stark von einer einzelnen Figur abhängt, dann ist es für den Gegner relativ leicht, diesen auszuschalten, entweder durch eine kon­se­quente Doppel- und Dreifachdeckung oder ganz einfach, indem man ihn niedermacht. Real Madrid verfügt in seinen Reihen über genügend qualifiziertes Personal, das solche Aufgaben sauber aus­zu­führen in der Lage ist, allen voran Sergio Ramos, ein sogenannt harter Verteidiger, der seine Rück­sichts­losig­keit mit ein paar Kursen in asiatischer Kampfsportkunst aufgepeppt hat, sodass man seine Fouls manchmal gar nicht als solche wahrnimmt. Trotzdem hat er sich einen derart schlechten Ruf, dass ich davon ausgehen musste, dass Zinedine Zidane die Aufgabe, Mo Salah möglichst rasch und unauffällig mit einem Foul ins Spital zu befördern, einem anderen Spieler übertragen würde, da die entsprechende Intervention von Seiten von Sergio Ramos sofort mit der roten Karte geahndet würde. Ihr könnt euch vorstellen, wie groß mein Erstaunen war, als ich am nächsten Tag las, dass Mo Salah wie erwartet in der 30. Minute der ersten Halbzeit ins Spital gebracht werden musste, dass aber der Verantwortliche für das Foul tatsächlich Sergio Ramos gewesen war und noch mehr: dass der Schiedsrichter unmittelbar daneben gestanden hatte und nicht mal ein Foul pfiff. Das, geschätzte Kolleginnen und Kollegen, das überstieg mein Fassungsvermögen. Ich gehe davon aus, dass der investigative Journalismus die Bankkonten des Schiedsrichters und seiner Entourage in den nächsten Monaten genau überwachen wird, wobei ich ebenfalls davon ausgehe, dass es sich nicht um spanische Journalisten handeln wird, und ob die britischen Journalisten, welche den Namen Journalist überhaupt noch verdienen, sich für solche Kinkerlitzchen überhaupt interessieren, weiß ich nicht mal. Ebensowenig weiß ich, ob es überhaupt Bestechung braucht bei diesen Schieds­rich­ter-Amateuren, deren Unterbewusstsein schon vor der Partie formatiert ist durch das Wissen, dass Real Madrid einen Jahresumsatz von 700 Millionen Euro ausweist bei einer Bilanzsumme von 2 Mil­liarden Euro, im Gegensatz zu Liverpool mit einem Umsatz von 200 Millionen und einer Bilanz­summe von 500 Millionen. Vielleicht denkt so ein Schiedsrichter, dass er eben gerade Zivilcourage beweise, indem er Sergio Ramos nicht vom Platz stellt. Wer weiß das. Was ich aber weiß, ist, dass ich diesem Ramos-Vollpfosten alle Krankheiten der Welt an den Hals wünsche, seit ich seinen Tweet an sein Opfer gelesen habe: Fußball kann hart sein, aber wir sind doch vor allem Berufs­kollegen. Gute Besserung. Diese veröffentlichte Scheinheiligkeit nach der lange zuvor abgemachten Körperverletzung stellt eine Verletzung der öffentlichen Moral dar, wie man sie eben auch strafrechtlich sanktionieren müsste.

Ich bin nicht der einzige, der das so sieht, und ich lese, dass der arme Kerl Sergio Ramos sogar dazu gezwungen war, hört aber auch und Gipfel allen Unrechtes, seine Telefonnummer zu ändern! – Aber es ändert nichts daran: Er war und ist ein Schwein, wofür er vielleicht gar nicht so viel kann, aber man sollte ihn dann einfach als Schiedsrichter gleich nach dem Anpfiff vom Platz stellen. Dass man es nicht tut und dass es der Schiedsrichter nicht mal bei der Beseitigung von Mo Salah tat, ist der Skandal. Nochmals: Pfui Teufel. Und noch hintendrein: Bisher war ich durchaus ein Bewun­derer von Zinedine Zidane, vielleicht gerade wegen seines Kopfstoßes im WM-Final 2006 bezie­hungsweise wegen des Affentheaters, welches der Italiener Matarazzi damals aufführte, den hätte man wegen Unsportlichkeit gleich mit vom Feld stellen müssen. Aber immerhin hätte Zidane es damals ein paar Minuten zuvor in der Hand beziehungsweise auf dem Kopf gehabt, den Final mit einem Kopfstoß gegen den Ball statt gegen den Mann zu entscheiden, und so kam es halt, wie es kam, und dass er dann bei Real spielte und später Trainer wurde, kann man so durchgehen lassen, aber diese Verletzung von Mo Salah ist nicht einfach Sergio Ramos' Werk, sie ist ein direkter Auftrag von Zinedine Zidane, auch wenn er ihn vielleicht nicht mal direkt formulieren musste, vielleicht reichte es, wenn er sagte: Passt mir mal bloß auf den kleinen Stinke-Ägypter auf!

Abermals Pfui Teufel, diesmal aber für Zidane. Gestrichen von der Liste der anständigen Fußballer. Und dass er jetzt den Hut genommen hat bei Real, entlässt keinen anständigen Fußball-Fan aus der Pflicht, dieses Foul an Mo Salah für immer an Zidanes Revers kleben zu sehen, im übertragenen Sinne mit Blut. Ein Schwein auch er.

Und dann noch zum Blut selber: Als ich letzte Woche von diesem emigrierten russischen Journalisten hörte, welchen die Russen sogar im Ausland, nämlich in der Ukraine umgebracht hatten, Babtschenko mit Namen, da formulierte sich mein Kommentar in meinem Kopf ganz von alleine: Während seine Vorgänger wie Breschnew sich bei den 1.-Mai-Paraden jeweils mit ganzen Tapeten von Orden an ihrer uniformierten Brust zeigten, sollte Wladimir Putin für jeden ermordeten Journalisten und jede ermordete Journalistin einen Totenkopf tragen, ich wäre sogar bereit, dies zu zeichnen, damit der Gerechtigkeit Genüge getan wird. Früher: Breschnew, heute: Putin mit den Journi-Totenköpfen. Und dann steht uns der zwei Tage später vor die Fernsehkameras und erklärt nicht nur, er sei lebendig, und er entschuldige sich bei seiner Frau für den Schmerz, den er ihr verursacht habe mit dieser Scharade, sondern er lügt dabei gleich nochmals, indem seine Frau von Anfang an in das Spiel eingeweiht war. Was soll das? Welch ein billiges Spiel treiben diese Vögel mit meinen Betroffenheits-Kommentaren?

Genau betrachtet handelt es sich aber um einen Klassiker ukrainischer Kultur und Politik. Da ist alles nicht nur radikal korrupt, sondern auch verlogen in einem Ausmaß, dass man nicht mal mehr eine Lüge als solche bezeichnen kann. Von diesem Land, geschätzte Bewohnerinnen und Bewohner der Europäischen Union, lasst mal hübsch eure kurzen Finger, zieht euch weiträumig zurück über die Beresina, auch wenn die in Weißrussland liegt, kommt ja nicht drauf an.



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Albert Jörimann
05.06.2018

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