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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Identitäten

Einer meiner Kollegen ist in St. Gallen aufgewachsen, das vor allem bekannt ist wegen seiner Wirtschaftshochschule, auf welcher angehende Topmanager die Grundregeln der Volksverachtung und der Volksverarschung lernen.



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> Download Es gibt aber in St. Gallen wie in allen anderen Städten auch vernünftige Leute, ich zähle meinen Kollegen dazu, er nennt St. Gallen übrigens «Güllen», so wie jener Ort in Dürrenmatts Theaterstück «Der Besuch der Alten Dame», und das ist in unserer Alpensprache ein Synonym für Jauche. Aber es handelt sich um eine durchaus liebevolle Nest­be­schmutzerei, wir Kuhschweizerinnen und Kuhschweizer sind uns gewohnt an das Jauche-Parfum, das die um die Städte herum sich befindlichen Dörfer und Landschaften regelmäßig überzieht und mehr oder weniger ein Begleitgeruch unserer nationalen Identität ist. Nicht ganz so aufdringlich vielleicht wie in gewissen österreichischen Skiurlaubsorten, mein letztes angewandtes oder selber erfahrenes Beispiel ist das am Reschenpass gelegene Nauders, wo der Kur- und Verkehrsverein zwischen den zweitausend Après-Ski-Hütten und Nightclubs zwei Mal täglich eine Fuhre Jauche ausbringt, die kostengünstig aus Polen importiert wurde, um jenen Stadl-Geruch zu erzeugen, in welchem sich zusammen mit den angeblich volkstümlichen Musikantenvergnügungen und ordentlich viel schlechtem Alkohol eine sehr eigene Form der Hemmungslosigkeit entwickeln lässt, welcher die ganze Riege der Volksmusikkultur jeweils Reverenz erweist. Das ist in Güllen und Umgebung anders, hier stinkt es nur, wenn die Jauche tatsächlich zwecks Düngung der Felder ausgebracht wird, und so wissen wir, dass die stinkende Bezeichnung wirklich nur ein beiläufiger Scherz, ein freundschaftlicher Tritt vors Schienbein ist.

In Güllen befindet sich im Kloster auch noch eine der ältesten Bibliotheken Westeuropas, die anno 926 laut der Sage nur deshalb nicht verbrannt ist, weil die Nonne Wiborada eine Vision der bevorstehenden Plünderung durch die Ungarn hatte, worauf man die Bibliotheksbestände auf der Reichenau in Sicherheit brachte. Aus dem sich daraus entspinnenden Disput zwischen zwei Laienhistorikern, nämlich meinem Kollegen und mir über Ungarn und die Hunnen ergab sich die Klarheit, dass die vom Namen her leicht mit den Ungarn zu verwechselnden Hunnen mit den Magyaren gar nichts am Hut hatten, dass vielmehr Attila, der Hunne, schon fünfhundert Jahre vor den Plünderungszügen der Ungarn durch die karolingischen Lande ein zeitweiliger Alliierter der Römer gewesen war, während eben die Magyaren ungefähr zur Zeit der erwähnten Plünderungen aktiv in die Geschichte Westeuropas einzugreifen begannen und auch verantwortlich waren dafür, dass die Karolinger ihre Verteidigungsdispositive in der Form zahlreicher Wehrburgen überhaupt erst aufbauten, die dann dreihundert Jahre später ihre Dienste getan hatten und zu zerfallen begannen. Weiter ergab sich im Zuge unserer Belehrung durch Wikipedia, dass das Kloster St. Gallen einen namhaften Teil nicht der Bibliotheks-, sondern der Lehensbestände von alemannischen Adligen erhalten hatte, welche im Jahr 746 beim Blutgericht von Cannstatt mit Stumpf und Stiel von den Franken ausgerottet wurden. Die Bibliothek beziehungsweise das Skriptorium wurde dann vor allem von den Franken gepflegt. Auf das Datum des Blutgerichtes mit der damit verbundenen Abschlachtung von tausend alemannischen Herzögen und so weiter wird in der Deutschschweiz, die sich als Erbe nicht nur der keltischen Helvetier, sondern auch der gemanischen Alemannen betrachtet, sehr gründlich verzichtet – hier liegt eben nicht ein freundschaftlicher Scherz vor wie bei der Umwandlung von St. Gallen in Güllen, hier sind Kernbereiche der Schweizer Identität betroffen, die es auch um den hohen Preis der historischen Wahrheit zu schützen gilt.

Die Schweizer Identität ist übrigens in aller Regel eine Sieger-Identität, nämlich eben die Identität der Deutschschweiz, welche die welschen Gebiete in der Romandie und im Tessin als Untertanen­ländereien ausbeutete nach den damals gültigen Regeln der Kunst.

Nun erzähle ich euch all dies weniger, um euch die Schweizer Geschichte näher zu bringen, sondern als Beitrag zur Identitätsdiskussion. Seit einiger Zeit beklagen sich die Anhänger einer deutschen, französischen oder gar europäischen Identität darüber, dass sie verloren gehe, vielmehr: dass die Bevölkerung ausgetauscht werde. Aufgefallen ist mir dies wieder in einem Artikel über den australischen Massenmörder von Neuseeland, aus einem Land also, in welchem die Urbevölkerung im Laufe eines mehrhundertjährigen Prozesses fast zur Gänze durch Europäerinnen und Europäer ausgetauscht wurde, ebenso wie in Australien. Dieser Massenmörder berief sich offenbar auf das 2011 erschienene Buch «Le Grand Remplacement», das auch der politischen Rechten in Deutsch­land als Vorlage für ihr Gefasel von der Umvolkung dient. Ein Volk wird ausgetauscht durch ein anderes, und notabene sind eure Bundeskanzlerin Merkel und der Chef der EU-Kommission Juncker federführend bei dieser Umvolkung.

Mein lieber Schwan – was für eine prachtvolle Verdrehung des menschlichen Geistes ist dies nun wieder! Eigentlich hatten wir mit Dingen wie dem Volk abgeschlossen, abgesehen von der techni­schen Bedeutung als Synonym für Bevölkerung. Aber typbildende oder gar rassische Eigenschaften eines Volkes gibt es nicht. Etwas komplizierter wird die Angelegenheit, wenn wir uns mit der Kultur versuchen. Da bestehen tatsächlich Unterschiede, und diese können zum Beispiel militärisch sein, wie dies die Ureinwohner Neuseelands und Australiens, aber auch in anderen Weltgegenden im Laufe der Kolonisierung erfahren haben, sie können technischer Natur sein, und sie beschlagen tatsächlich und vor allem Unterschiede in der Denkart und im Verhalten. Ja, genau, hier bestehen Unterschiede, und zwar bestehen hier solche Unterschiede, dass wir mit unseren eigenen Vorfahren, mit unseren eigenen Vor-Volkern, kein einziges gemeinsames Gut mehr zu pflegen haben. Die Umvolkung findet insofern laufend statt, nämlich von einer Generation zur nächsten. Es ist auch jeder Generation freigestellt, die Idiotien der Vorfahren zu kopieren zu versuchen, zum Beispiel im Rahmen der urgermanischen Medizin, die uns gegenwärtig in allen Satiresendungen vorgeführt wird. Oder eben der Identitätsfrage; die meisten, welche sich auf die europäische Identität berufen, stehen just mit dieser Berufung komplett außerhalb einer theoretischen solchen, weil diese nämlich in der Tradition der Aufklärung steht, manche bezeichnen dies fälschlicherweise als jüdisch-christliche Tradition, aber egal; die Identitären dagegen sind Mykoagronomen, welche versuchen, das menschliche Denken und das menschliche Hirn in eine Pilzpflanzzucht umzuwandeln.

Unsere Kultur ist entstanden im Jahrhunderte und Jahrtausende währenden Austausch von Ideen und Praxis, in erster Linie im Mittelmeerraum, woher sowohl das Christentum als auch der Islam stammen; die neueren Entwicklungen wie zum Beispiel Ansätze zur Demokratie oder die Konsumgesellschaft oder das Internet, um von den produktiven Grundlagen ausnahmsweise mal zu schweigen, sind durchaus noch nicht abgeschlossen. Vielleicht kann man den identitären Diskurs so richtig einordnen, nämlich als eine von verschiedenen Möglichkeiten, auf die Probleme zu reagieren, welche sich aus den aktuellen sozialen und kulturellen Entwicklungen ergeben. Aber jeder, der noch über ein paar funktionierende Hirnzellen verfügt, sollte sich von dieser Möglichkeit abwenden, sie führt nirgendwo hin, im Gegenteil, es ist eine Methode, welche das Hirn zerstört, indem sie zunächst die Existenz von Wahrheit bestreitet beziehungsweise ihre eigenen Lügen als Wahrheit ausgibt. Und hier muss man zum Teil auch Absicht vermuten. Gerade wenn man sich die englischen Medien ansieht, welche in Europa mit Sicherheit eine Spitzenposition einnehmen in Sachen Lügen und Verlust von Distanz, im Aufkochen der Volksseele durch gezielte Attacken auf das kollektive Unterbewusste, stellt man leicht fest, dass hinter diesen Medien eine redaktionelle Linie steckt, welche von den Besitzern vorgegeben wird. Es sind die gleichen, die in den Vereinigten Staaten für das englische Äquivalent verantwortlich sind, also namentlich der Australier Rupert Murdoch, aber er ist in guter Gesellschaft zahlreicher anderer, kleinerer Milliardäre, welche sich offensichtlich auf die Perennität ihrer Privilegien kalkulieren, wenn es ihnen gelingt, die öffentliche Meinung von Fragen wir Reichtumsverteilung und Machtverhält­nis­sen abzulenken.

Daneben verlaufen die Entwicklungen in der Regel diskontinuierlich, und führt oft zu vermeintlichen Eintrübungen im bekannten Wohn- und Lebensklima. Die Möglichkeiten zur Migration haben sich vertausendfacht, egal ob von der Elfenbeinküste nach Bad Langensalza oder ob von Sömmerda nach Angkhor Watt, Bali, den Seychellen, Gran Canaria, Kapstadt, Peking, Tokio oder ganz viel San Francisco und New York. Besonders die Wirtschaftsflüchtlinge haben zur Verbreitung des identitären Diskurses geführt, also nicht jene Wirtschaftsflüchtlinge, welche am Zürichsee die Goldküste besiedeln und bevölkern, über die beschwert sich kein Mensch, sondern diejenigen aus Afrika, Afghanistan und Syrien, die zum Teil auch noch ihrerseits Pilzkulturen ausgebildet haben, nämlich jene des radikalen Islamismus. Soweit es sich um die Frage des Islam handelt, kann man immerhin so viel sagen, dass die Gesellschaften in Europa nicht ohne Grund säkular sind – das ist mit ein Fluchtgrund für die meisten Flüchtlinge. Und dies gilt ganz einfach auch für den Islam. Er ist Privatsache und hat mit Kultur und Identität nichts zu tun, und sobald und soweit sich irgendwelche Islamerer und Islamererinnen anheischig machen wollen, unsere Zivilisation in eine andere Richtung zu drehen, nämlich rückwärts, dann wird sich diese Gesellschaft mit guten Gründen dagegen wehren; und sie tut es ja auch, meines Wissens. Nicht überall erfolgreich; vor allem in Frankreich gibt es offenbar Zonen, welche man als spätmittelalterlich bezeichnen kann, allein aus dem Grund, weil sich die französische Gesellschaft beziehungsweise die Ober- und Mittelschicht lange Jahre keinen Deut um diese Einwandererinnen gekümmert hat und ihnen freies Terrain zur Selbstorganisation gemäß den erwähnten spätmittelalterlichen Kriterien eingeräumt hat. Dagegen anzukämpfen ist im Moment sicher eine hohe Priorität, nicht nur, aber vor allem in Frankreich, und wir sind nach wie vor gespannt, wie sie dies im ix-ten Anlauf jetzt anstellen werden. Aber mit Dingen wie Umvolkung oder Austausch der Bevölkerung hat dies nichts zu tun, und wer dahinter gar noch Absicht oder Plan vermutet, ist saumäßig blöd; wer solche Vermutungen aber absichtlich in der Öffentlichkeit verbreitet, den darf man ruhig zum Volk der Kriminellen zählen.



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Albert Jörimann
09.04.2019

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