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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Datenerfassung

Der Chineserer macht es vor: Demnächst werden von den eineinhalb Milliarden Einwohnerinnen nicht nur die Personen- und biometrischen Daten gespeichert und je nach Aufenthaltsort fortlaufend aktualisiert, sondern auch die medizinischen Basisdaten, Puls, Fieber und so weiter, das heißt, ganz genau wie weit weiter weiß ich nun auch wieder nicht.



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> Download Wenn man an dieses Profil noch die Behandlungsdaten von Ärztinnen und Spitälern knüpft, dann ist man recht gut im Bild über das Gesamtindividuum, über das so genannte Subjekt, am Subjekt bleibt gar nichts mehr suspekt, und das alles dank dem Corona-Virus. Stimmt auch wieder nicht, die Datenerhebung ist älteren Datums, und für ihren Ausbau benötigt es auch kein Virus, bloß liefert das Virus einen willkommenen Anlass, um die Informationen dem Publikum bekannt zu machen, ohne dass die Bevölkerung Sturm läuft dagegen, obwohl es sich bei der Bevölkerung bekanntlich um die vereinigten Subjekte und Individuen eines Landes handelt, denen es keineswegs sauer aufstößt, dass sie als Carbon Copy in der Gesamtdatenbank der kommunistischen Partei respektive der chinesischen Volksrepublik existieren.

Aber ja genau, weshalb sollte das Individuum denn Einwände dagegen haben, wenn seine Basis- respektive neuerdings Gesamtdaten in der Cloud des kommunistischen Luftschlosses gespeichert und im Sekundentakt aktualisiert werden? Schließlich fragt sich die funktionierende Vernunft schon länger, wozu das Individuum eine Uhr am Handgelenk trägt oder gar das Mobiltelefon am Oberarm, welches die körpereigenen Informationen registriert und vielleicht alle siebenunddreißig Minuten die Warnung ausstößt: Trinken nicht vergessen, in drei Minuten bitte 299 Milliliter Flüssigkeit einnehmen. Auf diese Warnung ist das Individuum dann ja auch vorbereitet in der Form von Flüssigkeitsbehältern oder Trinkflaschen, welche es auf sich trägt und denen es nun entweder die ungefähre Menge von 3 Dezilitern oral entnehmen kann oder die zum Vornherein auf das Standard-Trinkmaß von 299 Milliliter abgefüllt sind, was wirtschaftlich gesehen wiederum eine Möglichkeit zur Verlängerung der Wachstumskurve des Wasser-Giganten Nestlé darstellt, indem Nestlé nunmehr nicht nur das Trinkwasser unter dem Städtchen Flint in Michigan absaugt, sondern dieses auch in trinkfertige Portionen abpackt und zu einem günstigen Preis unter die Menschen bringt; im Idealfall übernehmen die Krankenkassen die Aufwände für dieses Produkt, und hier ist noch anzufügen, dass es volkswirtschaftlich gesehen sowieso sinnvoll wäre, wenn die Krankenkassen als echte Gesundheitskassen nicht nur die Kosten der medizinischen Grundversorgung, sondern den gesamten Konsum der Bevölkerung übernehmen würden. Dies wäre ein Modell, um den Privatkonsum, der doch zwei Drittel des Bruttoinlandproduktes ausmacht, endlich einmal stabil einzurichten und, nicht zuletzt, auch den unteren und ärmeren Schichten endlich einmal ihren Beitrag zum Wirtschaftswachstum zu finanzieren; in diesem Modell würden die Krankenkassen dann an die Stelle des bedingungslosen Grundeinkommens treten, und in diesem Modell wäre dann auch die Frage der Finanzierung der Krankenkassenbeiträge weiterhin offen – nun aber im Rahmen des Gesamtkonsums. Wie finanziert ein Land zwei Drittel seines Bruttoinlandproduktes? – Diese Rechnungsaufgabe würde sicher ein Expertengremium, bestehend zum Beispiel aus eurem Andi Scheurer und der Julia Klöckner innerhalb von wenigen Stunden lösen.

Ihr merkt, dass ich die immer lückenlosere Überwachung in der Volksrepublik China bereits gleichgesetzt habe mit den immer noch etwas disparaten Überwachungsanstrengungen verschiedener privater Firmen, von Facebook über Amazon bis Google und Apple, sowie der staatlichen Anstrengungen, die man sich ja auch nicht als völlig inexistent denken sollte. Die chinesische Zukunft rollt auf uns zu wie das Corona-Virus, bloß wird die Überwachung der Individuen ganz sicher nicht in Italien chinesische Ausmaße erreichen, sondern tausend Mal eher in Deutschland, vielleicht in Skandinavien, wer weiß, denn in sozialdemokratischen Ländern ist ja unterstellt, dass ein Staat ein gewisses Vertrauen genießt, was für die Einführung der absoluten Überwachung mit Sicherheit eine wichtige Voraussetzung ist.

Falls Ihr das meinen Formulierungen noch nicht entnommen haben solltet, so sage ich es jetzt nochmals: Diese Vorstellung verschlägt mir zunächst mal einfach den Atem. Nicht etwa in einem Ausmaß, dass ich nichts mehr sagen könnte, aber immerhin. Der Begriff von Freiheit mag hier auf sein reines hegelsches Format zustreben, aber für unsereins ist der reine Freiheitsbegriff doch immer noch einigermaßen verunreinigt mit Vorstellungen von Gesetzeswidrigkeiten, die man im einen oder anderen Ausmaß begehen kann oder im Rahmen der eigenen Existenz sogar begehen muss, hin und wieder, von der Möglichkeit, sich gegen den Staatsapparat zur Wehr zu setzen ebenso wie gegenüber jenen Gruppen, denen der Staatsapparat zudient, wobei in der aktuellen Form absehbar ist, dass neben dem Überwachungsapparat keine gesellschaftliche Gruppe mehr Platz hat, welcher dieser Überwachungsapparat zudient. In der chinesischen Version steuern die Menschen auf eine Existenz als rundum überwachte und versorgte Individuen zu, die in der nächsten Etappe keine Entscheide mehr zu treffen brauchen, weil die Überwachungsmaschine eh alles besser weiß als das Individuum. Bis es soweit ist, wird das Individuum jeweils noch mit Knöllchen bestraft, wenn es irgendwelche Normen übertritt, vom Überqueren des Fußgängerstreifens bei Rotlicht bis hin zum Kauf von taiwanesischer Fruchtbutter. All dies erübrigt sich dann in der nächsten Etappe.

Muss man sich dagegen zur Wehr setzen? Schließlich haben Staat und Überwachungsapparat kein Interesse daran, uns zu kujonieren, wie dies noch unter den bösen Kapitalistinnen der Fall war, ganz im Gegenteil. Es handelt sich auch nicht um menschenfreundliche Menschenfresser, vielmehr sind Staat und Überwachungsapparat nichts anderes als die absolute Herrschaft der Normalität. Ich persönlich bin ein großer Anhänger der Normalität, wenn sie einigermaßen normal, also anständig und modern ist. Nichts hält den Überwachungsapparat davon ab, anständig und modern zu überwachen, unsere Körpertemperatur zu regeln, für den notwendigen Nachschub an Vitaminen und allenfalls auch für Prostataoperationen zu sorgen respektive dafür, dass Prostatakrebs schon entdeckt wird, bevor er sich überhaupt bildet. Wisst ihr, wieviele Menschen jährlich an Prostatakrebs sterben?

Selbstverständlich muss man sich dagegen zur Wehr setzen, denn hier findet, meinetwegen auf dem Umweg über medizinische Angelegenheiten, die komplette Entmündigung des Subjektes statt. Wir stoßen hier auf eine Dimension des Politischen, die wir seit George Orwell nicht mehr im Ernst als solche thematisiert haben. Die neue Dimension ist umso seltsamer, als wir im Moment vollkommen davon absorbiert sind, die sozialen Medien als politischen Faktor zu neutralisieren, will heißen, diese neue Form des argumentenfreien und lügnerischen Populismus, die im Moment die öffentliche Debatte beherrscht, obwohl vermutlich nicht mehr als ein Viertel der Staatsbürgerinnen in Europa gewillt sind, sich von diesem Virus infizieren zu lassen. In den Vereinigten Staaten scheint der Anteil deutlich höher zu sein, und in Ländern ohne anständige politische Kultur und Geschichte liegt der Fall sowieso nochmals anders, aber das ist sowieso eine andere Geschichte. Respektive, um gleich wieder den Faden aufzunehmen: Hier liegt vorderhand noch ein ungeheures Potenzial an Ungereimtheiten, sagen wir mal: analog zum italienischen Beispiel. Der Migrations­druck aus dem armen Süden bringt massenhaft Widerstand gegen die Überwachung und Kate­go­risierung mit sich, übrigens bis hin zum ehemaligen Fußballweltmeister Ronaldinho, der sich in Paraguay tatsächlich mit einem gefälschten paraguayischen Pass hat schnappen lassen, der Blöd­mann. Aber genau in solchen Blödheiten liegt momentan ein Quell an Hoffnung, dass die Überwachung nicht so schnell derart umfassend wird wie in der Volksrepublik China.

Umgekehrt ist es natürlich sehr wohl vorstellbar, dass gerade die Einpassung ins Überwachungs­muster demnächst zur zentralen Voraussetzung dafür wird, dass jemand aus dem Süden überhaupt eine Einreisebewilligung erhält. Seine ursprünglichen Dokumente brauchen dabei nicht echt zu sein, aber wenn er mal in der europäischen Maschine erfasst ist, dann kommt er daraus so wenig heraus wie die anderen Europäerinnen.

Was tun, geschätzte Hörerinnen und Hörer? Sabotage ist das erste, was mir durch den Kopf geht. Wenn man weiß, wo die Überwachungsdienste ihre Clouds beherbergen, also eben nicht in den Wolken, sondern auf der Erde, irgendwo in der Nähe eines Elektrizitätswerks, dann werden die möglichen Waffen vom Sprengstoff bis hin zur elektromagnetischen Schockwelle zur ersten Waffe, die man in Erwägung ziehen muss. Selbstverständlich sind mit solchen Sabotageakten immer Auswirkungen auf die Normalität verbunden, das muss man mit berücksichtigen.

Vielleicht ergibt sich ein zivilerer Weg, um die Überwachungssysteme tatsächlich unter die Kontrolle einer politischen Instanz zu stellen, zum Beispiel der Bevölkerung. Dies wiederum setzt aber voraus, dass sich diese Bevölkerung in praktisch allen Fragen der demokratischen Herrschaft deutlich weiter entwickelt, als dies bisher der Fall ist. Die einzige Option, um mit der Rundum-Überwachung mitzuhalten, ist die direkte Demokratie, aber in drei Potenzstufen höher. Dafür müssen die Bürgerinnen der modernen Staaten ganz gewaltig an die Säcke. Das aktuelle Gesell­schafts­system ist auch im politischen Bereich mit höchster Dringlichkeit zu reformieren, und zwar anders, als dies im Bundestag und in den anderen europäischen Parlamenten diskutiert wird. Statt populistischen Schaum zu schlagen, kommt Klartext und Transparenz aufs Tapet. Das Tauziehen der Partikularinteressen muss zurücktreten vor diesen Anstrengungen, und wenn es einen Preis gibt, der dafür zu bezahlen ist, zum Beispiel auf der Ebene der Europäischen Union mit den Kohäsionszahlungen und ähnlichen Späßen, dann bezahlt man ihn halt.



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Albert Jörimann
10.03.2020

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