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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Zwillings-Kinderwagen

Die großen Wellen beim Konsumverhalten spürt man nur allmählich. Zum Beispiel dauerte es ziemlich lange, bis ich ein Muster darin sah, dass allerlei Männer im öffentlichen Raum mit ihren Knien wedeln.



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Sie fläzen sich auf irgendwelche Bänke, rutschen herunter, bis sie mit dem Steiß auf dem Sitzrand liegen, dann spreizen sie die Beine wie bei einem Fotoshooting für Geschlechtsteile, und dann beginnen sie die Knie zueinander zu bewegen in einem ziemlich nervösen Rhythmus, eben, sie flattern und wedeln damit. In der Regel wird das begleitet von einhändigem Mobiltelefon-Gebrauch, während die andere und freie Hand auf der Rücklehne der Bank liegt. Das ist eine Pose, die ich nie verstanden habe und auch nie verstehen werde, und trotzdem hat es sich als Muster etabliert. Gut, nicht bei allen Männern. Viele Männer sitzen im öffentlichen Raum auch heute noch mit Bügelfalten über den gut geschlossenen Knien und aufrecht, ohne sich anzulehnen, wie Frauen auf Vespas und anderen Kleinmotorrädern. Andere wiederum sitzen gar nicht im öffentlichen Raum, sondern in ihren Autos, und auch hier ist ein Muster zu erkennen, nämlich dass diese Fahrzeuge in den letzten zehn Jahren ebenso breiter geworden sind wie höher. Dank der digitalen Optimierung des Fahrverhaltens mit den entsprechenden Einparkprogrammen kann es sich die Automobilindustrie erlauben, die vorhandenen Straßen besser zu nutzen, in der Breite, während sie mit der Höhe des Fahrzeuges sowieso kaum einmal an Grenzen stieß. Aber heute klettert so ein Durchschnittsmann in sein Sports Utility Vehicle fast schon so, wie früher ein Lastwagenfahrer in seinen Lastwagen, und dann sitzt er im Fahrzeug respektive unterdessen in einem veritablen Führerstand und lächelt verächtlich auf alles herab, was ihm nicht das Wasser zu reichen vermag. Diese Haltung den anderen Menschen gegenüber ist insofern verständlich, als sich auch der angenehmste männliche Mensch niemals als Herdentier verstehen möchte, sondern als Individuum, und in der neuesten Automobil-Dimension hat diese Individualität einen massenhaften Ausdruck gewonnen. Ich selber als Nicht-Autofahrer denke jeweils «Pfui!», aber es ist ein leises Pfui im Bewusstsein davon, dass ich ohne die ganze Bewehrung mit Führerstand und Pferdestärken und Scheibenwischer und Global Positioning System und Quadrophonie-Anlage und Bordcomputer und Bord-Bar aus Mahagoni-Holz ein ganz elendiglich kleines Würstchen bin. Mein «Pfui!» ist nicht viel mehr als das Geräusch, das solch ein Würstchen macht, wenn ihm die Pelle platzt, das weiß ich wohl.

Im öffentlichen Raum, konkret in den Straßenbahnen und Bussen an meinem Wohnort, haben unterdessen andere Menschen begonnen, sich breiter zu machen, als dies früher der Fall war, nämlich die so genannten Mütter. Ich glaube, seit fünf Jahren haben die Mütter nur noch Zwillinge. Oder wenn sie keine Zwillinge haben, so doch Kinder in kurzen Abständen, was es ihnen erlaubt, Kinderwagen zu erwerben mit einem Doppelsitzer. Vor wenigen Jahren noch begnügte sich so eine durchschnittliche Mutter mit einem normalen Kinderwagen, wo nicht sogar mit einem sogenannten Buggy, das waren mehr oder weniger zusammenklappbare Drahtgestelle, überzogen mit einem festen Tuch, und unten dran waren ein paar Räder, und fertig war das Kinder-Dampfgefährt. Heute aber handelt es sich um Sports-Utility-Kinderwagen schon in der einfachen Ausführung, die Konsumgüterindustrie hat ein neues Betätigungsfeld gefunden, Wirtschaftswachstum muss sich auch im Kindergefährt ausdrücken, wobei man nicht ganz sicher ist, ob es sich um die Sicherheit der Kinder handelt, welche in diesen simplen Buggies ja niemals garantiert war, es gab jeden Tag zahllose Todesfälle von Kindern, die in den Buggies ineinander gestoßen sind oder aus diesen hinaus gefallen sind und was weiß ich, oder ob es ganz einfach wieder ein Fall von höher legen ist wie bei den Autos. Aber eben, damit könnte ich mich allenfalls noch abfinden und es könnte mir genügen, dass ich wieder ein Muster entdeckt habe, aber die Zwillingswagen-Epidemie geht mir auf die Palme, weil sie jenen öffentlichen Raum strapaziert, an welchem ich ebenfalls gewisse, wenn auch nicht übermäßig große, aber doch immerhin Rechte reklamiere. Die moderne Mutter oder Frau oder vielleicht die moderne Nurse schiebt heutzutage ein Zwillingsgefährt herum, das sie selber mit ausgebreiteten Armen nur knapp steuern kann. Man würde meinen, in den Fahrzeugen steckten Riesenbabies, aber dem ist nicht so, die Kinder als solche haben sich ganz entgegen dem Trend praktisch nicht vergrößert, sie sind noch nicht mal viel dicker als vor drei Jahren, aber sie liegen in einer Infrastruktur, wie sie ein Trivago-Hotelzimmer nur selten anbietet, einmal abgesehen davon, dass erwachsene Menschen im Hotel kaum einmal einen Schnuller benötigen. Hinten am Wagen ist eine Fotogalerie angebracht mit verschiedenen Bildern von Mutter und Vater, damit das kleine Kind bloß früh genug lernt, wen es zu achten und zu verehren hat, daneben steht eine Batterie von Fruchtsäften und Crackern, welche dem Kind beim geringsten Stöhnen zugeführt werden, und von der Kosmetikabteilung mit zwei, drei nötigen und zweihundert unnötigen Elementen will ich gar nicht sprechen. Wie gesagt: Es ist schon beim Einling schwachsinnig, aber beim Zwillingswagen wird es anstößig, und es wird umso anstößiger, als da manchmal nicht mal Zwillinge drin liegen, sondern Kinder unterschiedlichen Alters, von welchen mindestens das eine überhaupt nicht mehr in den Kinderwagen gehört, das sieht man sofort.

Vor einem Monat war ich auf Auslandsreise im Norden, und weil dort alles etwas früher eintritt als bei uns, kann ich an dieser Stelle bereits jetzt auf ein kommendes Muster hinweisen: Es ist der Einkind-Wagen mit Seitenwagen. Tatsächlich bauen die dort jetzt die erwähnten Sports-Utility-Kinderwagen mit einem Seitenwagen, in welchen die moderne Frau und Mama ihre Handtasche abstellen kann, damit sie selbige nicht im Ellenbogen herum schwanken muss, während sie den Wagen schiebt, weil beim Schieben doch der Ellenbogen-Winkel so ungünstig ist, dass die Handtasche dauernd aufs Handgelenk rutscht. Also hat die findige Stine Stenström oder wie auch immer sie heißen mag den Seitenwagen erfunden, in welchen man jetzt die Handtasche abstellt. Aus Sicht des öffentlichen Verkehrsteilnehmers heißt dies, er ist jetzt konfrontiert mit eineinhalb-Wagen. Wenn der öffentliche Verkehrsteilnehmer dies interpretiert als einseitigen Versuch der modernen Frau und Mutter, mit dem Mann auch dann mitzuhalten, wenn sie nicht Zwillinge hat, sondern im Moment nur gerade ein Einzelkind, so liegt dieser öffentliche Verkehrsteilnehmer wohl vollkommen richtig.

Die Konsequenz: Die städtischen Verkehrsbetriebe müssen neue Fahrzeuge beschaffen, denn wenn einmal eine solche moderne Frau und Mutter Zwillinge selber durch die Stadt beziehungsweise den öffentlichen Verkehr schieben will und zudem noch eine Abstellfläche für ihre Handtasche braucht, dann reichen die Kinderwagen-Abstellflächen in Bussen und Straßenbahnen nicht mehr aus, ganz abgesehen davon, dass die moderne Frau und Mutter ja auch hin und wieder einkaufen muss, und wo soll sie dann ihre Einkaufstüten hintun? Etwa gar auf ihr Kind? Nie im Leben!

Ich habe früher mal festgestellt, dass der moderne Mensch, wie vermutlich der vormoderne Mensch ebenfalls, so etwas wie eine Aura hat, nämlich eine Sphäre von, was weiß ich, zehn oder zwanzig Zentimeter um seinen eigenen Körper herum, in welche er grundsätzlich niemanden hinein lässt außer Familienmitglieder, Prostituierte und sehr enge Freunde. Ich habe festgestellt, dass diese Aura eine Tendenz hat zu wachsen, analog zur Wohnfläche, welche der moderne Mensch verbraucht, und dieses Wachstum, nämlich jenes der Wohnfläche, ist sogar statistisch nachweisbar. Aber mit der Wohnfläche wächst eben auch jene Zone, welche der Mensch als seine persönliche, körperliche Intimsphäre betrachtet. Die moderne Frau und Mutter unternimmt nun, indem sie ihre Kinder als Bestandteil ihrer eigenen Aura interpretiert und sie an sich koppelt und die Intimsphäre über die Kinderwagen in ein noch nicht dagewesenes Ausmaß steigert, leider Gottes einen Angriff auf die Intimsphäre aller anderer Menschen, die sich im gleichen öffentlichen Raum befinden, so wie die raumoptimierten Sports-Utility-Vehicles ihrer Männer das Zweifache an Raum auf der Straße konsumieren, was früher noch das damalige Spitzenmodell der Firma Mercedes-Benz in Anspruch genommen hat. Man würde hier nicht sagen, dass sich die SUV-Fahrer auf den Füßen herum treten, aber dass hier ein neues Raumbewusstsein heranwächst, das steht fest. Und eben, es findet seine Parallele bei ihren Frauen, soweit sie den Nachwuchs nicht in einbruchssichere Kindersitzchen im SUV des Vaters oder meinetwegen auch im eigenen SUV deponieren.

Ich kriege Platzangst!

Und damit doch noch zu etwas anderem. Der israelische Ministerpräsident, der US-amerikanische Außenminister und ein paar Kameraden aus der saudiarabischen Königsclique machen sich neuerdings einen Spaß daraus, den Iran als die übelste Terroristenheimat auf der ganzen Welt zu bezeichnen und als Ursache für die gesamten Unruhen im Nahen Osten und auf der ganzen Welt. Jetzt mache man sich mal den Spaß und zähle die islamisch-islamistischen Terrorzellen und -regionen auf, zum Beispiel in Tschetschenien, aber gerne auch in Europa, die Bataclan-Mörder, die Mörder von Charlie Hebdo, vom schönen, erst seit ein paar Monaten untergegangenen Jihad-Feuerwerk des Islamischen Staates ganz zu schweigen und vom Prototyp Al Kaida, von welchen eigentlich auch die USA ein Lied singen können, wo nicht eine ganze Oper: All das Gesocks, von Indonesien über Malaysia und die Philippinen bis nach Pakistan und Afghanistan und Zentralasien und den Kaukasus bis in den Balkan und nach Europa, mit einem Abstecher nach Afrika zu den Kollegen von Boko Haram, bis endlich nach den Vereinigten Staaten: Alles der Iran? Meine Damen und Herren, geschätzte Hörerinnen und Hörer, man mag sagen, was man will, aber diese Jungs sind durchs Band salafistische und wahabitische Sunniten, finanziert durch Gelder aus Saudiarabien, dem innigsten und treuesten Verbündeten der USA.

Nicht, dass ich die iranischen Mullahs und die iranische Regierung etwa besonders toll finde oder fortschrittlich, und ich will noch nicht mal bestreiten, dass sie sich wirklich anstrengen, um ihren Einfluss in der ganzen Region auszudehnen, und so weiter und so fort. Aber das Geschrei der eigenartigen Allianz aus Israel, den Vereinigten Staaten und Saudiarabien, das ist einfach absurd, und zwar absurd auf der Grundlage von hunderten, tausenden, zehntausenden von Toten.




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Albert Jörimann
29.05.2018

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