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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Ende Armut

Wer eine Theorie basteln will, kann sich mit Erscheinungen nicht so zufrieden geben, wie sich der Pilzsammler mit den Sexualorganen des Pilzes zufrieden gibt. Der Theoretiker muss auch das Myzel untersuchen, das kann er vor, während oder nach dem Pilzgericht tun.



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> Download Ach, was für ein schönes Beispiel. Jedenfalls will ich damit sagen, dass sich die politische Theoretikerin nicht mit Dingen wie Armut und Reichtum zufrieden geben kann, insonderheit nicht mit Armut, denn der Reichtum hat sich längst in eine Sphäre aufgelöst, zu welcher weder wir normale Menschen noch die Besitzerinnen dieses Reichtums mehr Zugang haben. Die Armut dagegen ist für gut ausge­bildete Antikapitalisten nach wie vor das Herzstück, der Beweis dafür, dass der Kapitalismus schlecht ist und, naja, eben: direktemang in die Armut führt. Ein erfahrener Antikapitalist wird die Armut heute nicht mehr isoliert ins Feld führen, sondern rundum gepanzert mit dem Argument der Ungleichheit, denn dieses lässt sich auch belegen: Die Diskrepanz zwischen Arm und Reich in Bezug auf Einkommens- und Vermögensverteilung ist tatsächlich so gewaltig, dass man die Besitzlosen oder wenig Besitzenden auf einem anderen Planeten ansiedeln muss als die Super­rei­chen. Beziehungsweise umgekehrt: Die Erde wird bewohnt von den Superarmen im Süden und den Mittellosen und wenig Besitzenden im Norden, während die Superreichen sich tatsächlich schon ins All und ins Nirwana geschossen haben, ohne dass sie dafür Spacex-Raketen benötigen.

Während die Diskrepanzen im Bereich Einkommen und Vermögen vollständig unbestritten sind, verhält es sich anders mit der Armut. Diese nämlich kann in der modernen Gesellschaft, also in den entwickelten Ländern gar kein Thema mehr sein. Ich spreche nicht von der relativen Armut, also jene, welche mit dem Einkommens-Median gemessen wird. Eine solche relative Armut gibt es auch unter Milliardären, aber das kann uns nicht im Ernst beschäftigen. Ich spreche von der absoluten Armut, und zwar sogar mit dem Eingeständnis, dass auch die absolute Armut relativ ist, das heißt, was vor hundertfuffzich Jahren Armut bedeutete, kann man heute nicht mehr zur Definition herbei­ziehen, da sich die Dinge gewandelt haben. Bei einer solcherart relativen absoluten Armut ist also unterstellt eine gewisse Menge an Kalorienzufuhr pro Tag, ein Dach über dem Kopf, einigermaßen anständige Kleidung und Zugang zu verschiedenen Waren und Dienstleistungen, welche andere an meiner Stelle definieren mögen – ich spreche einfach, damit wir uns richtig verstehen, wirklich nicht vom Elend, wie es die Armut in den Entwicklungsländern kennzeichnet, sondern von unserer, von einer entwickelten, absoluten Armut. Und hierzu sage ich: Es gibt keine Armut mehr bei uns, auch wenn es sie noch geben mag, aber sie ist weder die notwendige Konsequenz noch ein gewollter Ausreißer dieses Systems.

Vorsichtshalber bringe ich hier den Hinweis an, dass es ja auch noch andere Mängel geben kann als Armut, zum Beispiel in jenen Bereichen, wo die sozial Schwachen unter Schikanen von Behörden leiden oder wo sie leichte Beute von Betrügerinnen und Betrügern aller Sorten werden, es gibt den Absturz in die Drogen und in die Kriminalität, schlechter Zugang zur Medizin und so weiter, das versteht sich von selber. Aber die Armut als Systemfaktor gibt es nicht mehr.

Soweit es Armut doch noch gibt, beruht sie auf Konstruktionsmängeln in der Sozialversicherung, auf sozialen Faktoren, die sich jetzt hoffentlich schnell und vielleicht von alleine auflösen, wobei «von alleine» immer heißt, unter tatkräftiger Mithilfe der Betroffenen, sowie zum Teil auf einer individuellen Verantwortung, von welcher die klassische linke Bewegung die Betroffenen immer und kategorisch ausgeschlossen haben, weil ja immer das System schuld war und weil man die Armut über lange Zeit hinweg dringend benötigte als Beleg für die Schuldhaftigkeit des Kapita­lis­mus. Damit entfiel immer die individuelle Verantwortung. Nie ist ein Armer oder eine Armuts­be­troffene selber schuld an was auch immer. Das ist nun eben auch Blödsinn. Mit diesem Kurz­schluss kommt man einer Lösung der noch bestehenden Probleme im Armutsbereich nicht näher. Man erzielt dabei nur zwei Sachen: Einerseits nehmen diejenigen, welche sich der Armutsbekämpfung verschreiben, den Betroffenen das Heft des Handelns aus der Hand, wenn sie ihnen nicht die geringste eigene Verantwortung für ihre Lage zuerkennen – wenn es das System ist, dann sind die systemischen Armutsbekämpfer auf jeden Fall besser, vielmehr: nur und überhaupt nur sie sind zur Vertretung der Interessen der Armen legitimiert. Zweitens leisten sie mit diesem Kurzschluss einen Beitrag zu ihrer eigenen Systemtheorie, welche in der Regel untauglich und vor allem unpraktisch ist, weil sie einen an konkreten Einsichten hindert. «Das System» ist so etwas wie ein Papierkorb für Gedankenfehler, für mangelnde Analysen. Wo man gedanklich nicht mehr weiterkommt, tritt «das System» in Funktion. Es ist genau das Gegenteil davon, was eine Theorie eigentlich leisten sollte, nämlich aus den Gegebenheiten so etwas wie ein System zu destillieren, zu identifizieren, Strukturen erkennbar machen. Dies kann aber nicht gelingen, wenn wir die Systemvermutung vor jegliche Einsicht stellen. Also weg mit dieser Vermutung. Und mit der Armut kann man sich zu gegebener Zeit beschäftigen, respektive man muss sich sogar damit beschäftigen und auch mit Privilegien, mit dem Zugang zu Macht, Bildung und Lebenspotenzialen, aber nicht zu Beginn. Denn systembedingt ist Armut seit längerer Zeit nicht mehr.

Das kapitalistische System schafft nicht Armut, sondern Wohlstand, und zwar in erster Linie dank den Korrekturen der sozialistischen, vor allem der sozialdemokratischen Politik, welche das System stabilisiert und optimiert und bisher auch in der Lage war, den Kapitalismus in seinen zweihundert­zweiundzwanzig Metamorphosen einigermaßen glücklich an die Gesellschaft anzupassen. Allein die sozialdemokratische Politik schafft es, die unermessliche Warenproduktion auch tatsächlich an den Mann und an die Frau zu bringen, selbstverständlich im Rahmen des ökonomistischen Kampfs zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern und der sozialdemokratischen Umverteilung, welche darum sozialdemokratisch ist, weil sie an den Machtverhältnissen nichts ändert.

Diese sozialdemokratische Politik ist alternativlos, wie es so schön heißt. Deshalb geht die Sozial­demokratie im Moment auch den Bach runter, weil es sie nämlich nicht braucht. Und die CDU geht den Bach runter, weil sie seit Helmut Kohl und seit Angela Merkel sogar für die Öffentlichkeit erkennbar sozialdemokratische Politik macht – was sollte sie denn anderes tun? Gute Rahmenbedingungen für die Unternehmen, Straf- und Narrenfreiheit für die Automobilindustrie, gleichzeitig ein halbherziger Einstieg in die Energiewende, auf der anderen Seite Mindestlöhne und soziale Absicherung – was sollte man denn bitteschön anderes tun, wenn man an der Regierung ist? Nicht doch. Nicht mal die Alternative für Deutschland ist auch nur ansatzweise anti-sozial­demo­kratisch. So etwas könnte man höchstens den Libertären vorwerfen, welche mit dem Staat auch die absolut systemnotwendige staatliche Umverteilung abschaffen möchten, aber libertäre politische Strömungen existieren in Deutschland nicht. Die politische Rechte ist nicht anti-sozialdemokratisch, sie ist national-sozialdemokratisch, aber sozialdemokratisch auf jeden Fall.

Nun, im Moment ihrer Vollendung, bricht die Krise der sozialdemokratischen Politik aus, wobei man hier vermutlich genauer sein sollte: Es ist nicht die sozialdemokratische Politik als solche, sondern es sind die Formen, in welche sie bisher gegossen war und die geprägt waren von der Geschichte, von ihrer Entstehungszeit, also von den Auseinandersetzungen eben zwischen der Arbeiterklasse und der Kapitalistenklasse, welche auf die Unterstützung der Kleinbürgerinnen und Kleinbürger zählen konnte. Auf parteipolitischer Ebene ergab dies jeweils eine Auseinandersetzung zwischen Sozialisten und, sagen wir mal: Christdemokraten. Nun haben die Einwohnerinnen und Einwohner gemerkt, dass diese Auseinandersetzung tot ist, fertig, aus, Amen, auf dieser Ebene finden nur noch Scheingefechte statt, was übrigens, wenn sie schön ausgetragen werden, doch auch einen gewissen Reiz hat. Aber inhaltliche Diskrepanzen gibt es nicht mehr. Deshalb bricht die alte Struktur, das alte Duopol zusammen, während sich noch keine neuen Kraftfelder stabil gebildet haben. Eine Ausnahme bilden mindestens in Deutschland die Grünen, deren Kerngebiet Energie und Umwelt nun tatsächlich sehr aktuell sind. Aber sonst? Dass die Sozialdemokraten am stärksten leiden, ist wie erwähnt nur logisch, denn sie sind ja die eigentlichen Sieger. In Italien haben sich die Kommunisten zuerst in Sozialdemokraten verwandelt und danach in den Partito Democratico, eine liberaldemokratische Allianz, welche im Moment die Verbindung zu ihrem früheren Stimmvolk weitgehend verloren hat. In Frankreich bemühen sich die Sozialisten, wieder zweistellig zu werden, während Thorsten Schäfer-Gümbel in Hessen problemlos zweistellig geblieben ist, im Gegensatz zu den Wahlen in Bayern. In Österreich kennen die Sozialisten ihre eigenen Wahlziele und vor allem ihre Inhalte noch nicht so gut wie die neue und unbekannte Vorsitzende. In England zerflei­schen sich alle Parteien intern, wobei die Labour-Partei mal froh sein sollte, dass sie im Moment grad nicht an der Macht ist und das Schmierentheater um den Austritt aus der Europäischen Union nicht am Regiepult mit verantworten muss.

Dies ist die Lage kurz vor Eintritt in das dritte Jahrzehnt des dritten Jahrtausends nach Christus. Sie hat mit politischer Theorie nichts zu tun, sondern nur mit der Praxis der Parteipolitik. Diese wiederum hat sich bisher immer auf irgendwelche Grundsätze und Programme berufen, welche den Anspruch politischer Theorie erhoben und selbstverständlich niemals einlösten, aber immerhin. Und selbstverständlich hat der eindeutige Zerfall der klassischen Parteienstruktur mit der Frage zu tun, welche Funktion die Parteien in einer Sozialdemokratie in Zukunft haben werden. Damit kommen wir am Schluss auch auf diesem Wege zur Grundfrage der politischen Theorie, die unverändert lautet: Ist Demokratie möglich und wenn ja, warum, ach nein, wenn ja: Wie? Zumal unter den Bedingungen von Wohlstand und Facebook, welche offenbar zunächst die beiden Phänomene Populismus und Nationalismus begünstigen anstatt der Erzeugung günstiger Umstände für eine aufgeklärte und wirklich souveräne Stimmbevölkerung. Letztere ist die unabdingbare Voraussetzung, nein: letztere ist die Substanz jeden politischen Systems, welches die Bezeichnung Demokratie verdient. Sind also die Menschen in den entwickelten Ländern insgesamt à jour, aufgeklärt, souverän?

Die Antwort ist Nein. Aber es besteht Hoffnung. Genau damit hat sich politische Theorie zu beschäftigen.



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Albert Jörimann
30.10.2018

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