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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - 30-Jahr-Jubiläen

Von einem gewissen Alter an weiß man nicht mehr so recht, ob man Geburtstage überhaupt noch feiern soll, auch die runden nicht, denn bei den runden rundet sich eben auch die Gewissheit darüber, dass nicht alles so gekommen ist, wie man es sich erhofft hat, und damit spreche ich jetzt nicht vom Freien Radio Erfurt International, das heute seinen 30. feiert.



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Ich weiß allerdings nicht, wie ihr das anstellt, nachdem das 25-Jahr-Jubiläum doch erst vor vier Jahren stattfand, aber egal: Bei der Gründung konnte man nicht wissen, dass sich der Sender einen unerwartet festen Platz im Reigen der europäischen freien Radios erarbeitet hat, wozu ich aus der neutralen Schweiz ganz herzlich gratuliere. Ich spreche aber eben nicht von Radio F.R.E.I., sondern von der Wieder­ver­eini­gung Deutschlands, die im Osten für massive Verwerfungen gesorgt hat und auch im Nachhinein noch die Frage aufwirft, ob die Treuhand ihren Job nicht ganz anders interpretieren hätte können. Aber kontrafaktische Geschichtsschreibung ist nichts für mich, und darum begnüge ich mich mit der Feststellung, dass die Wiedervereinigung eine Tatsache ist und dass trotz allem Aussichten darauf bestehen, dass sich die Unterschiede zwischen alten und neuen Bundesländern in den nächsten Jahren weiter verringern werden.

Ebenfalls ein Fakt ist, dass auch in den letzten 30 Jahren kein Krieg von deutschem Boden aus­ge­gangen ist, und das wurde doch nach der Kapitulation 1945 als eines der wichtigsten Ziele für euer Land etabliert. Dass es nachhaltig erfüllt wurde, liegt nicht nur an den Mängeln bei der Ausrüstung der Bundeswehr, son­dern es ist nirgendwo ein Streben nach territorialer Expansion zu erkennen; wenn man mal die paar Spinner von der völkischen Rechten beiseite lässt, welche Deutschland in den Grenzen von 1936 wieder haben wollen oder vielleicht von 1939 oder vielleicht von 1941, ist nicht einmal bei den Rechts­extremisten eine richtige Kriegslüsternheit zu bemerken. Die Zeiten sind auch ganz einfach nicht danach, die meisten vitalen Strukturen kümmern sich seit langem nicht mehr um Landes­gren­zen. Macht und Einfluss organisieren sich heute auf globaler Ebene, und das höchste der Gefühle besteht darin, davon einen anständigen Teil abzubekommen, in der Regel als Belohnung für Wohl­ver­halten gegenüber dem Blockwart, sprich der Leitnation des jeweils zustän­digen Bündnisses, im Fall von Europa also gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika. Wobei die Beziehungen zwischen Europa und den USA selbstverständlich so eng sind, dass es manchmal schwer fällt, die zwei auseinander zu halten; in der Regel geht es aber nach wie vor, und die Euro­päerinnen folgen den Allianzpartnern brav. Bei allen Ausreißern, wel­che sich die uneinige EU halt so leistet, begonnen mit Frankreich, das nach wie vor eine sehr aktive Afrikapolitik betreibt, über die Visegrad-Staaten, welche gerne den Chinesen schöne Augen machen, auch wenn dies klar ersichtlich nicht besonders ernst gemeint ist, aber immerhin. Ganz besonders eklig scheint sich, wenn man ihn zu Europa zählen kann, der Paschist Erdogan zu fühlen, der seit ein paar Monaten oder schon bald mehreren Jahren herumzappelt wie ein Rumpel­stilzchen, dem die Prinzessin soeben seinen Namen genannt hat; jetzt hat er in Bergkarabach einen weiteren, weltgeschichtlich eher unbedeutenden Ort gefunden, wo er seine Frustrationen auslassen kann, beiläufig gegen den Erb- und Erzfeind Armenien, ach, es wäre putzig, wenn es nicht so ärgerlich wäre.

Deutschland aber zeigt sich treu europäisch, sogar die Nationalisten in Dresden nennen sich patriotische Europäer, und damit habe ich hoffentlich meine Pflicht als neutraler Beobachter für heute erfüllt, denn es gibt ja auch noch andere Themen, über die man die eine oder andere Be­trach­tung anstellen kann. Zum Beispiel fuhr ich letzte Woche im Taxi mit einem alten Bekannten, einem gestandenen Mann der unabhängigen Linken, der fest auf die Wiederwahl von Donald Trump hofft mit dem Argument, dass Donald Trump zwar das hirnverbrannteste oder hirnloseste Wesen des ganzen Planeten sei, gleichzeitig aber der einzige Präsident, der in den letzten Jahrzehnten Wider­stand geleistet habe gegen den Tiefen Staat. Biden dagegen sei klar erkennbar ein Hampelmann dieses Deep State, so wie dies schon Obama und all seine republikanischen und demokratischen Vorgänger gewesen seien. Ganz unrecht konnte ich ihm nicht geben, respektive es ist für alle klar ersichtlich, wie sich der Status quo beziehungsweise die wirtschaftlichen und Kapitaleliten des Landes ihre Präsidenten zurecht schustern, und der Trumpdonald passte tatsächlich vor vier Jahren nicht haarklein in dieses Konzept und mag auch heute noch nicht hineinpassen. Insbesondere versagt er natürlich komplett in jenem Part, da er der Bevölkerung einen Hauch von Glaubwürdig­keit jener Institution vorspielen soll, welche die Krönung der Demokratie bildet und doch nur den Knotenpunkt der mächtigen Lobbies im Land und in der ganzen Welt darstellt. Aber, fragte ich dann meinen Kollegen, hat es etwas genützt? Hat sich die US-amerikanische Politik unter Trump auch nur um ein Jota, noch nicht einmal verbessert, sondern einfach verändert? Ich gab die Antwort gleich selber: Nein, Mann, hat sie nicht, mal abgesehen von den infantilen Eskapaden in Nordkorea, welche sich nicht nur der tiefe Staat, sondern auch sonst jeder geistig gesunde Mensch im Leben nicht geleistet hätte. Und so stößt man mit der Vorstellung des tiefen Staates ins Leere, denn dieser Begriff, der meines Wissens den türkischen Staat aus den neunziger Jahren bezeichnete, bringt keinen analytischen Gewinn für die Vereinigten Staaten. Es gibt dort ein absolut aus­ge­präg­tes Machtkartell, vermutlich zusammengesetzt aus dem republikanischen und dem demokratischen Lager in der Wirtschafts- und Medien-Elite, welches über Geld und Einfluss weltweit bestimmt, und zwar tatsächlich in einem Ausmaß, das uns schwindlig werden ließe, wenn wir es so sehen könnten, wie es ist. Aber es reicht ja die Annahme und die Vorstellung, und die trifft tatsächlich zu. Der Begriff des tiefen Staates bietet keinen Ansatzpunkt, wo das Kartell zu packen, zu knacken und auf demokratische Grundlagen zu stellen wäre. Dabei ist das die Kernfrage jeder modernen Gesellschaft, auch der unsrigen.

Die ehemalige US-Außenministerin Madeleine Albright äußert sich zu diesem Thema übrigens in einem Interview im Tages-Anzeiger-Magazin wie folgt: «Demokratie ist viel schwieriger, als sie aussieht. Ihr liegt ein sozialer Vertrag zugrunde: Die Menschen geben einen Teil ihrer Freiheit auf und zahlen Steuern, damit die Regierung bestimmte Leistungen erbringt. Aber die Regierung muss auch liefern.» Mit anderen Worten: Die demo­kra­ti­sche Toppolitikerin Albright hat nicht den Hauch einer Ahnung von Demokratie. Sie interessiert sich nicht mal dafür. Ihre Demokratie-Definition passt auf praktisch alle autoritären Staaten der Welt.

Da bringt Trump keine Erleichterung, habe ich meinem Mitfahrer im Taxi gesagt, wogegen seine Art und seine Kommunikation schlicht und einfach eine Beleidigung für alle Menschen darstellen, die etwas auf sich halten. In der ersten Fernsehdebatte gegen Biden hat der tatsächlich gesagt, Joe Biden würde, falls er gewählt werde, alle Kühe in Amerika schlachten. Das ist als Passage aus einem absurden Theaterstück durchaus tauglich, nicht wirklich großartig, aber durchaus tauglich; aber als Teil einer Fernsehdebatte, die sich ernsthaft will und die einen tatsächlichen Einfluss auf das Wahlverhalten des US-Stimmviehs hat, sprengt das jeden Rahmen all jener Kategorien, in welchen die Menschen den Verkehr untereinander organisieren.

Joe Biden, der Schlächter aller Kühe in den Vereinigten Staaten. Im Übrigen wird er dafür sorgen, dass alle Straßen giftgelb angemalt werden, dass den Babies der linke Vorderzahn gezogen wird, sobald er durchbricht, und er wird Gratis-Benzinchecks für Walmart-Kundinnen abgeben.

Mein guter Kollege ließ sich von solchen Details nicht aus der Ruhe und von seinem Standpunkt abbringen. Das finde ich phantastisch von einem Menschen, der zeit seines Lebens die Prinzipien der Wahrheit, der Vernunft und sogar der materialistischen Dialektik gepriesen und mit seinem Kopfe angewendet hat. Ich nahm's zur Kenntnis und ließ den Taxifahrer seine Arbeit verrichten.

Mir schoss plötzlich Al Gore durch den Kopf. Der Vize von Bill Clinton unterlag im Jahr 2000 dem Juxus Wilhelm Busch bei den Wahlen, obwohl er mehr Wählerinnenstimmen auf sich vereinigt hatte. Man kann davon ausgehen, dass Al Gore ein Umwelt-Präsident geworden wäre. Nicht einer, der mit dem Zauberstab ökologische Lösungen aus dem Hut gezogen hätte, im Gegenteil: Sein Leben wäre ei unendlicher Kampf gewesen, gegen die Kapitaleliten, gegen die Automobilindustrie, gegen die Automobil-Gewerkschaften, gegen die Erdölindustrie und gegen die daran gebundene Außenpolitik der Vereinigten Staaten. Vielleicht wäre er schon nach zwei Monaten eingeknickt, wer weiß, oder erschossen worden. Trotzdem gab es diesen konkreten Ansatzpunkt in der US-Politik, vor zwanzig Jahren. Und das wäre ja auch noch ein Jubiläum. Wie jenes eben von euch, edle Ritterinnen und Ritter der Radio-Kultur.

Da ich die Anfänge dieses Senders nicht mit erlebt habe, kann ich sie auch nicht preisen und verherrlichen und hoffe, dass andere das an meiner Stelle tun. Ich kann aber darauf hinweisen, dass sich die Medienlandschaft seit diesem Jahr 1990 grundlegend verändert hat, vor allem deshalb, weil heute Sprach- und Bildverarbeitung wirklich allen Individuen und Gruppen von Individuen zugänglich sind. Es kämpft nicht mehr das unabhängige Radio-Medium gegen den doppelköpfigen Adler aus öffentlich-rechtlichem Meinungsmonopol und kommerziellem Unterhaltungsmonopol, sondern wir erleben schon den Medien-Treibhauseffekt. Und was macht ihr in Erfurt in diesem Umfeld? Auch ihr passt euch an und dehnt euch aus, einerseits im journalistischen Bereich mit einer wunderbaren Vielfalt und Qualität der Beiträge, anderseits mit dem Engagement für das Kulturquartier Schauspielhaus Erfurt. Das finde ich genial. Ich hoffe, dass sich nicht nur in Erfurt, sondern auch in Regensberg, in Limoges, in Perugia, Novi Sad, Szeged, Krakau, Malmö, Manchester, Porto, Bordeaux, Piräus, Edirne, Varna, Timisoara und eigentlich überall weiterhin Menschen finden, welche an diesem Kulturbetrieb und am Kulturbegriff selber weiter arbeiten. Denn darum geht es genau, um jene vermeintlich abendländische Kultur, die längstens keine abendländische mehr ist, sondern nur noch Kultur, im Zusammenleben, in der Neugierde auf andere Lebensweisen, im Hunger auf fremde Küche und so weiter und so fort.
Hier findest du alle Kolumnen von Albert Jörimann von 2007 bis heute.

Albert Jörimann
06.10.2020

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