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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Ägypten
Mit der Freilassung der letzten israelischen Geiseln durch die Hamas endet ein Kapitel in der Geschichte des Nahen Ostens. Die ganze Welt freut sich über diese Zäsur, eine positive Entwicklung mitten im Meer der Katastrophen der letzten Zeit. Eine Portion zu viel Salz in der Suppe bildet die Tatsache, dass man der Lastwagenhupe einen Teil des Erfolges nicht absprechen kann, was in erster Linie auf der bedingungslosen Unterstützung der israelischen Kampagne zur Zertrümmerung des Gazastreifens zurückzuführen ist, aber trotzdem. Wie auch immer: Nach den Freudenfeiern stellen sich die alten Fragen unter neuen Vorzeichen. Von einer Nachkriegsregelung im Gazastreifen und in Westjordanland kann im Moment die Rede nicht sein, da Israel die Besetzung des Westjordanlandes vorantreibt und im Moment auch auf den Gazastreifen schielt.
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Solange die israelische Bevölkerung die radikalen Jüdinnen nicht aus der Regierung wirft, ist keine Pause bei der Annexion zu erwarten; im Gazastreifen bleibt für die Orthodoxen im Moment noch die Frage zu lösen, was man mit den Störenfrieden, den zwei Millionen dort ansässigen Palästinenserinnen machen kann. Diese Frage hatten wir schon einmal, nach der Vertreibung von 750'000 Palästinenserinnen anlässlich der gewaltsamen Einrichtung des Staates Israel; damals richtete man in bestimmten Zonen Palästinenserinnen-Lager ein, in welchen sich die Erinnerung an das große Unrecht über Jahrzehnte hinaus hielt, während die Palästinenserinnen selber zu einem Faustpfand der arabischen Politik wurden, aber in den neuen Dauerprovisorien in Jordanien, in Syrien und im Libanon auch immer wieder für Probleme sorgten. Aus Jordanien wurden sie vor 55 Jahren ganz vertrieben, nachdem sie Jordaniens Niederlage gegen Israel im 6-Tage-Krieg zum Anlass genommen hatten, einen Putschversuch gegen den jordanischen König durchzuführen. Die Geschichte der Flüchtlingslager im Libanon ist ebenfalls keine Erfolgsgeschichte, sie gerieten unter die Räder des libanesischen Bürgerkriegs vor vierzig Jahren, und anschließend gerieten sie in den iranischen Einflussbereich unter der Hoheit der Hisb’Allah, während der libanesische Staat selber zunehmend nur noch in Einzelteilen funktionierte. Das überlieferte Konfliktpotenzial besteht auf jeden Fall in der gesamten Region fort und wird mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Formierung neuer Widerstandsgruppen führen. Im Moment verfügen Israel und die USA über die absolute Technologiehoheit im militärischen Bereich, was die gesamte Palästinenserinnenbewegung in den letzten zwei Jahren zu spüren bekommen hat, einschließlich der Hilfskräfte im Iran. Nach dem Motto «Am Grunde der Moldau wandern die Steine, das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine» steht zu vermuten, dass sich die militärischen Gleichgewichte bei Gelegenheit wieder verlagern werden. Hier muss man aber Gegenkräfte zum Gespann USA/Israel anderswo suchen als im Iran. Russland und China haben im Moment andere Sorgen. Als Regionalfürst winkt der Erdopampel herüber; man hat bisher aber noch nichts gehört davon, dass er das Gleichgewicht vor allem bei den aktuell schwachen Nachbarn Iran und Syrien nachhaltig zugunsten der Türkei zu verändern imstande ist; die Vereinigten Staaten haben mit einiger Sicherheit auch zu diesem Thema eine Meinung und werden nicht zögern, dem Generalstab und dem Erdopampel diese auch vorzutragen, egal, ob auf der Geige oder mit einem Dudelsack. Kaum einmal erwähnt werden die Potentaten von der arabischen Halbinsel; insbesondere der Journalistenmörder Mohammed Bin Salman erscheint als wahrer Friedensfürst, der obendrein mit der Familie Trump eine natürliche Alliierte gefunden zu haben scheint. Es ist naheliegend, dass man auch in dieser Beziehung ein paar Hintergedanken anstellt; ganz und gar ohne Ambitionen wie früher, als sich die saudischen Herrscher mit dem sinnlosen Verprassen ihrer Erdöleinnahmen begnügten, stelle ich mir die modernen Regierungen in den Golfstaaten und auf der arabischen Halbinsel denn doch auch nicht vor.
Nicht gesprochen habe ich hier von Ägypten. Hier hat der Aufsichtsratsvorsitzende Abdel Fattah El-Sisi die Lage fest im Griff, nicht zuletzt dank der engen Zusammenarbeit mit beziehungsweise bedingungslosen Unterstützung durch die Vereinigten Staaten vorn Amerika. Am Sonntag traf sich beispielsweise besagter Herr El-Sisi mit dem Chef der Erdöl- und Erdgaskonzerns Apache Corporation John Christmann. Für Apache ist Ägypten vermehrt zum Schwergewicht geworden, da es seine Aktivitäten in der Nordsee bis Ende des Jahrzehntes einstellen will, da die britische Regierung dort mehr Geld von ausländischen Produzenten eintreiben will. Christmann reist diesmal als Teil von Trumps Kometenschweif, er war schon im Mai beim US-ägyptischen Wirtschaftsforum in Kairo als hochrangiger Teilnehmer anwesend und erhielt zusammen mit der Chefin der US-Handelskammer Suzanne Clark einen Spezialtermin bei El-Sisi, bevor die anderen Teilnehmenden dazu stießen. Mit anderen Worten: Aus Sicht der USA ist Ägypten eine Bank, da es El-Sisi gelungen ist, die islamisch-islamistische Muslim-Brüderschaft zu unterdrücken oder in der einen oder anderen Form ins Tagesgeschäft einzubinden. Jedenfalls hört man davon praktisch nichts mehr. Das bedeutet nicht, dass sie sich aufgelöst hat; aber die besonders rückständigen Grundlagen des politischen Islam haben sich offenbar in den letzten Jahren stark abgeschwächt, nicht zuletzt dank der Entmachtung des Klerus in Saudiarabien durch den Journalistenmörder Bin Salman. Wie gesagt: Am Grunde der Moldau wandern die Steine.
Wenn wir gerade von Wasser sprechen: Vom 12. bis am 16. Oktober findet in Kairo die achte Wasser-Woche statt, diesmal zum Thema «Innovative Lösungen für Klima-Resilienz und Wasser-Nachhaltigkeit». Während wir aus neutraler Sicht das Wasserthema für Ägypten nicht zuletzt im Hinblick auf den neuen Staudamm in Äthiopien betrachten würden, hat der Ägypter oder die Ägypterin hier einen breiteren Horizont. Nämlich unterzeichnete die Ministerin für Lokalentwicklung und Umweltschutz Manal Awad mit dem slowakischen Umweltminister Tomas Taraba eine Absichtserklärung für die zukünftige Zusammenarbeit in verschiedenen Belangen des Umweltschutzes und des Klimawandels, unter anderem durch gemeinsame Workshops und den Austausch zwischen Forschungsinstitutionen.
Daneben beherbergt Ägypten an die 120 Millionen Menschen und weist eine Migrationsrate von minus 0.3 Personen auf 1000 Bewohnende auf. Die Hälfte lebt in Städten, in Großkairo allein etwa 20 Millionen Menschen. Der Alkoholgenuss pro Kopf liegt bei 14 Zentilitern reinen Alkohols pro Kopf und Jahr, wovon knapp ein Dezi auf Bier entfällt. 51 Prozent der Männer rauchen, bei den Frauen sind es nur 3 Promille. Das Bruttoinlandprodukt steht bei knapp 2 Bio. US-Dollar, was pro Kopf gut 17´000 US-Dollar ergibt. Davon entfallen 87% auf den Inlandkonsum bei einem Importüberschuss von 7%. Die Industrieproduktion schrumpfte im Jahr 2024 um 2%. Die Arbeitslosenquote liegt bei 7.5%, und 30% der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Die wichtigsten Handelspartner sind Saudiarabien, bei den Exporten die Türkei und Italien, bei den Importen China und Russland.
Insgesamt verharrt die Region also im bekannten Zustand labiler Gleichgewichte; Ägypten grenzt nicht nur an Äthiopien, sondern auch an den Sudan und an Libyen, die ihrerseits jeweils Krisenherde mit einer spezifischen Dynamik sind. Im Sudan wurden 15 Millionen Menschen zur Flucht gezwungen, die Hälfte ist unterernährt, der Bürgerkrieg wütet wie seinerzeit im 30-jährigen Krieg in Deutschland oder im 10-jährigen Krieg in der Franche-Comté. Von Reisen nach Libyen wird ebenfalls abgeraten, obwohl das Land nach wie vor eine der beliebtesten Destinationen ist für Migrant:innen. Über die Zustände und Verhältnisse an der libyschen Küste sind schon zahlreiche Berichte verfasst worden. In Äthiopien feierte man im September Neujahr, und zwar Neujahr des Jahres 2018. Das geht zurück auf eine Berechnung, welche die katholische Kirche im Jahr 500 unserer Zeit neu anstellte, die aber von den Äthiopierinnen nicht berücksichtigt wurde. Aber die Mobiltelefonie, welche unter anderem auf physikalischen Zeitmessungen beruht, die in Zeiten weit vor der Entstehung der Heiligen Schrift verweisen und die dementsprechend von allen evangelikalen Heulerinnen vermieden und verflucht werden müssten, diese Mobiltelefonie wird wie in den Südstaaten der Vereinigten Staaten auch in Äthiopien praktiziert. Das Land hat aber wichtigere Probleme als die Zeitmessung mit dem Dauerkonflikt mit Eritrea und den inneren Auseinandersetzungen. Hier erhofft sich die Regierung eine gewisse Beruhigung, wenn der Strom aus dem neuen Nil-Staudamm zur Verbesserung der Infrastrukturen und zur Stärkung der Wirtschaft beizutragen beginnt.
A propositio Strom: Zum ersten Mal seit langer Zeit stammt mehr Energie aus erneuerbaren Anlagen wie Solar, Wind und Wasser als aus mit Fossilbrennstoffen betriebenen Kraftwerken. Den Löwenanteil zu diesem Umschwung trägt wieder einmal China bei, das vor allem auf den tibetischen Hochebenen, die nur spärlich bevölkert sind zum einen, wegen ihrer Höhenlage zudem einen verbesserten Wirkungsgrad aufweisen zum anderen, riesige Solaranlagen gebaut hat. Offenbar ist vorgesehen, dort auch gewaltige Rechenzentren einzurichten, da diese ebenfalls wegen der Höhenlage weniger Energie benötigen, um die Anlagen herunterzukühlen. Ergänzt werden diese Einrichtungen von Windkraftwerken, sehr zum Ärger von großen Denkerinnen wie der Lastwagenhupe oder eurer Santscha Pantscha Alice Weidel. Wie auch immer: Die staatlich verordneten Maßnahmen im großen Stil zeigen Wirkung, wie man immer wieder mit leichter Berauschung feststellt, wenn man dem gegenüber die Entwicklungen in Europa anschaut, von den Erdölfressern in den Vereinigten Staaten ganz zu schweigen.
An der Buchmesse in Frankreich sind die Philippinen in diesem Jahr das Gastland. In diesem Zusammenhang kommt mir das Buch «Wilhelm Tell in Manila» in den Sinn, das die Übersetzerin Annette Hug über den philippinischen Nationalhelden José Rizal geschrieben hat, der Schillers Theater als Vorbild für die Befreiungsbewegung auf den Philippinen nahm und es auch auf Tagalog übersetzte. Die spanischen Kolonialbehörden ließen ihn im Jahr 1896 wegen Rebellion hinrichten, obwohl er sich immer für Gewaltfreiheit eingesetzt hatte. Rizal hat einen schönen Teil seines Lebens in Spanien und in Deutschland verbracht und in Paris Augenheilkunde studiert. Daneben unternahm er ausgedehnte Reisen in Europa, aber auch durch Japan und die Vereinigten Staaten. Neben vielen anderen steht in Manila auch ein Denkmal aus Granit aus dem Schweizer Kanton Uri, das anfangs des 20. Jahrhunderts errichtet wurde, nach der Machtübernahme auf den Philippinen durch die Vereinigten Staaten im Jahr 1898 und nach der Niederschlagung einer philippinischen Revolution durch ebendiese Vereinigten Staaten, wobei 250'000 bis eine Million Zivilistinnen den Tod fanden, hauptsächlich durch Krankheiten und Hunger. Tausende starben auch in den Konzentrationslagern der US-Amerikaner. Von 1902 an herrschte eine US-amerikanisch bestimmte Zivilregierung über das Land. Dies und anderes mehr gastiert also gerade in Frankfurt am Main.
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Albert Jörimann
14.10.