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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Schiffsbau

Was man nicht alles weiß und weißen will! – Jaja, ich weiß schon, es heißt wissen, aber ihr umge­kehrt wisst, dass ich in der Schweiz wohne, arbeite und spreche, also kann ich sagen: Was man nicht alles weißen will! – Und wenn ich das sage, mache ich einen Fehler, denn selbstverständlich heißt es auch auf Schweizerdeutsch wissen, vielleicht mit einem ü anstelle von i, aber eindeutig nicht weißen. Trotzdem spreche ich hier von weißen wollen, weil ich nämlich einer kleineren Ver­blüf­fung darüber Ausdruck geben will, was man alles wissen kann, wenn man nur will, zum Beispiel in Bezug auf den Schiffsbau.

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Dörte Neitzel schreibt für Technik und Einkauf zu diesem Thema und hat anfangs dieses Jahres eine Rangliste der größten Schiffbauer der Welt erstellt, wobei man noch unterteilen kann in Kategorien. Das größte Kreuzfahrtschiff der Welt lief im November 2023 vom Stapel, die Icon of the Seas, und zwar von der Meyer Turku Werft in Finnland. Damit sie von der Ostsee aus das offene Meer, also den Atlantik, erreichen konnte, musste das Skagerrak ausgebaggert und die Öresund-Brücke abgebrochen werden. Nun, das stimmt zwar nicht, aber es tönt gut; jedenfalls liegen hier die objektiven Grenzen für das Wachstum der finnischen Kreuz­fahrt­schiff­bau­industrie, was übrigens ein schönes Wort ist, Kreuzfahrtschiffbauindustrie, ein Wort mit 28 Buchstaben, sehr geeignet für größere Kreuzfahrten mit Kreuzworträtseln, wenn man noch -mecha­ni­kerin dran hängt, sind wir bei 40 Buchstaben und haben Aussichten auf das insgesamt größte Kreuz­worträtsel der Welt. Die insgesamt größte Werft der Welt liegt in Ulsan, in Südkorea; sie wird von der Schwerindustrie-Abteilung von Hyundai betrieben und kann Tanker, Schüttgutfrachter, Con­tai­nerschiffe, Autotransporter und Gastanker, Plattformen und Bohrschiffe sowie weitere Spezialschiffe her­stellen neben Kriegsschiffen und Unterseebooten. Marktführerin ist China; in Deutschland, wo die Produktion für den Export massiv vom Staat subventioniert wird, ist der größte Hersteller Thyssen­krupp Marine Systems in Kiel, wobei nach Umsatz die Meyer Werft Gruppe etwas besser ab­schnei­det, welche auch die Werft im finnischen Turku betreibt. Kriegsschiffe stellt in eurem friedlichen Land ebenfalls ThyssenKrupp her sowie Naval Vessels Lürssen, welche im Moment vier F126-Fre­gat­ten im Wert von 5 Mia. EUR baut auf der alten Blohm+Voss-Werft in Hamburg. Lürssen Mari­ti­me Beteiligungen belegt Platz 19 unter den größten Schiffbauern der Welt. Auf dieser Rangliste liegt eigentlich die japanische Mitsubishi an der Spitze, aber hier verwischen Abteilungen außerhalb des Schiffsbaus das Bild; in diesem Sinne auf Rang 2 kommt die erwähnte Hyundai, auf Platz 3 liegt die China State Shipbuilding Corpo­ra­tion, dann folgt die italienische Fincantieri, die offenbar auch Kriegsschiffe für die US-Amerikaner baut und natürlich für die europäischen Seestreitkräfte. Weitere Spitzenplätze belegen die japanische Sumitomo, die koreanische Samsung, die Singapurer Seatrium, Hanwha Ocean ebenfalls aus Südkorea und auf dem zehnten Platz die russische USC United Shipbuilding Corporation.

So wie im Eheleben auf die Hochzeit die Scheidung folgt, gibt es neben dem Schiffsbau auch den Schiffabbruch, die Demontage von aus­ge­dien­ten Kähnen, soweit sie nicht als Schattenflotte für russische Öltransporte herhalten müssen oder als Apparate zum Versicherungsbetrug, wie er einige Jahre in Italien gang und gäbe war, als die Mafia entsprechende Rosthaufen mit Sondermüll belud, für dessen Entsorgung sie mehr oder weni­ger regulär bezahlt worden war, und sie dann im tyrrhe­ni­schen Meer absaufen ließ, um die Ver­si­che­rungssumme zu kassieren – ein Bombengeschäft, zu dem man auch im Nachhinein noch gratu­lieren möchte. Das Meer ist groß, und groß ist auch die Schiff­fahrts­gesetz­ge­bung; so ein Trumm kann sich nach Belieben einen Heimathafen suchen und sich alle Naselang umbenennen. Letzte Woche hat Frankreich wegen des Verdachts der Beteiligung bei den Drohnen­einsätzen in Dänemark den ursprünglich russischen Tanker Boracay festgesetzt, der sieben Tage zuvor noch Puschpa gehei­ßen und zuvor bereits die Namen Kiwala, Varuna, Odysseus, Virgo Sun, Pacific Apollo und P.Fos getragen hatte. Angeblich fuhr die Boracay unter der Flagge von Benin, aber bei der Internationalen Meeresorganisation als zuständige Registerbehörde gibt es keinen solchen Eintrag. Niemand hindert aber niemanden daran, seinen Kahn in Panama, Zypern, Malta oder eben in Benin registrieren zu lassen, unabhängig davon, ob er sich überhaupt noch über Wasser halten kann. Wenn das letzte Stündchen dann doch geschlagen hat, dann werden die Schrott­hau­fen in der Regel nach Pakistan gefahren, wo eine ganze Industrie von der Auskernung der Hüllen lebt. Irgendwie besteht wohl auch ein Zusammenhang damit, dass alle Hilfsarbeiter auf allen Schiffen auf allen Weltmeeren aus Pakistan und aus Bangladesch stammen. Und manchmal krie­chen diese Hilfsarbeiter auch an Land. So schreibt das italienische Magazin Millennium von einem Prozess gegen die Nummer 4 der Schiffsbauer-Weltrangliste Fincantieri, welche in ihren Werk­stät­ten zu 80% nicht mehr Festangestellte beschäftigt, sondern Auftragsangestellte von Sub­un­ter­neh­men. Das kennt man auch aus anderen Bereichen, vor allem in der Bauindustrie; es geht in erster Linie darum, dass man diesen Angestellten oder eventuell Scheinselbständigen nicht die Tariflöhne bezahlen muss, also einschließlich Ferien, Krankenversicherung und Lohnfortzahlung im Krank­heits­fall, Rentenbeiträge und so weiter und so fort, sondern sie zum Beispiel für 5 Euro pro Stunde malochen lässt, auch in der Nacht und ohne Nachtzuschlag, während 6 Tagen pro Woche und manchmal am Sonntag grad auch noch. Viele Pakistani und Bangladeschi arbeiten dort, aber auch andere Immigrant:innen auf beiden Seiten der Grenze zur Illegalität, die man ausbeuten kann nach Herzenslust. Was heißt da nach Herzens­lust: Wo eine Gelegenheit besteht, einen kleinen oder großen Gewinn einzufahren, da wird sie ergriffen.

Das Gesamtproblem stellt sich anders rum: Will die entwickelte Welt bei der Produktion weiterhin mithalten mit den Billiganbietern im Umfeld von China, kann sie dies mit Tariflöhnen nur dann bewerkstelligen, wenn sie einen hohen Automatisierungsgrad erreicht. Wer einfache Arbeiten zu hiesigen Tariflöhnen ausführen lässt, ist nicht konkurrenzfähig auf dem Weltmarkt; man kann natürlich den inländischen Markt schützen mit Zöllen zum einen, mit Subventionen zum anderen. Wie erwähnt, ist dies beim Schiffsbau in Deutschland bereits der Fall. Hier ist eine ständige Aus­ein­an­der­setzung in Gang, die immer neue Nahrung erhält von den Diskrepanzen in den Lebens­hal­tungs­kosten und bei den Währungsverhältnissen. Und hier stoßen wir selbstverständlich auch auf die Wurzeln der globalen Migration. Es sind nicht die Kriege und Hungerkrisen, die zwar auch eine Rolle spielen, aber niemals die selbe wie die schreienden Unterschiede im globalen Reichtum, und hier spreche ich für einmal nicht vom Reichtum der Ausbeuterklasse, sondern von dem, was wir im Norden in unseren Gesellschaften ganz selbstverständlich konsumieren bis hin zum Bürge­rin­nen­geld. Wer diese Diskrepanzen beseitigt, beseitigt auch die globalen Wanderbewegungen, also min­des­tens die ungeordneten Wanderbewegungen, soweit es sich nicht um den Tourismus handelt, dessen Wanderbewegungen ungefähr doppelt so viele Menschen umfasst wie die Wirtschafts­- und anderen Flüchtlinge aus dem Süden.

Aber zurück. Wenn sich Italien also weiterhin die Fincantieri leisten will, dann ist in dieser Position die Beschäftigung von illegalen und anderen Arbeitnehmerinnen zu Scheißkonditionen vollkommen inbegriffen. Auf der Werft von Turku dagegen kann man vermutlich Tariflöhne bezahlen, weil hier Luxusgefährte hergestellt werden, für welche man einen großen Anteil an qualifiziertem Personal benötigt; ob für die einfacheren Schweißarbeiten auch Finninen eingesetzt werden oder eben doch Bangladeschi, weiß ich nicht. Dagegen schreibt das Magazin Millennium von einem anderen Phänomen im schönen Italien, mit dem ich mich noch nicht beschäftigt hatte, nämlich dass in gewissen wissenschaftlichen Bereichen für Arbeiten, die bisher von studentischern Hilfskräften erledigt wurden, zum Beispiel im Archiv, zunehmend Verträge ausgestellt werden, wie sie sonst für Reinigungspersonal die Regel sind, und ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass auch Reinigungspersonal durchaus nicht nur Boden und Toiletten zu säubern hat, sondern auch wissen muss, welche Mittel zum Einsatz kommen müssen für welche Materialien, es handelt sich mit anderen Worten auch beim Paradebeispiel für unqualifizierte Arbeiten um Arbeiten, welche durch­aus Qualifikationen erfordern. Wie auch immer: In dieser Branche sind die Löhne niedrig, nicht zuletzt deshalb, weil man trotz allem relativ schnell eingearbeitet ist und auch relativ schnell wieder damit aufhört, weil man anderswo eine andere Stelle gefunden hat. Das Millennium spricht von netto 5 Euro 60 Cent pro Stunde, was bei 25 Wochenstunden einen Lohn von ungefähr 600 Euro ergibt. Ein Unternehmen, welches tatsächlich Offerten für die Reinigungsdienste eingereicht hat und nun aber eben auch wissenschaftliche Hilfskräfte beschäftigt zu den gleichen Konditionen, ist die deutsche Dussmann Service, die im Jahr 2022 zum 60. Geschäftsjubiläum Rekordzahlen vorlegte mit einem Umsatz von 2.8 Mia. EUR und dazu schrieb, dass man vor allem in Italien stark gewachsen sei; der Gewinn vor Steuern und Abschreibungen lag bei 170 Mio. EUR. Die Dussmann betreibt übrigens, das dürfte das Kultur-Schauspielhaus in Erfurt interessieren, in Berlin das Kulturkaufhaus. Alles für 5 Euro, also pro Stunde. Das Handels­blatt jubilierte im Mai 2024, dass Dussmann aus dem Kampf gegen die Bürokratie ein Geschäfts­mo­dell gemacht habe. Das sehen wir in Italien sehr konkret: Die italienische Bürokratie hat be­schlos­sen, im Wettbewerb um die Reduk­tion von Kosten auf dem Buckel der Beschäftigten immer weitere Arbeitsbereiche in den Niedrig­lohnsektor zu verschieben und die Aufträge dem günstigsten Anbieter zuzuschanzen, hier eben Duss­mann. Es handelt sich übrigens offensichtlich um eine Stiftung, in deren Vorstand neben der Vorsitzenden Catherine von Fürstenberg-Dussmann der Geschäftsführer Markus Asch sitzt und Doris Greif, ein gewisser Herr Professor Roland Koch, des­sen Gesicht mir seltsam hessisch bekannt vorkommt, sodann Professor Dr. Rainer Lorz und zu guter Letzt Maurice Thompson. Im Jahr 2024 konnte das Unternehmen beziehungsweise die überaus wohlthätige Stiftung ihren Umsatz übrigens auf 3.3 Mia. EUR steigern, der von 70'000 Beschäf­tigten erwirtschaftet wurde. Für Italien bezie­hungs­weise die Nationalbibliothek in Florenz schreibt das Millennium, dass Dussman bei der Über­nahme der Verträge die Anzahl Wochenstunden von 35 auf 25 gesenkt habe und die Bruttolöhne von 9 Euro 50 auf 7 Euro 50. Mit anderen Worten: Das deutsche Handelsblatt jubelt völlig zu Recht.

Die Welt ist schlecht, wir sollten alle ins Kloster gehen, nur hin und wieder leuchten ein paar positive Nachrichten aus dem Dunkel, zum Beispiel dass in Japan voraussichtlich zum ersten Mal in der Geschichte eine Frau den Ministerpräsidentinnenposten übernehmen wird. Bei Sanae Takaichi handelt es sich, wie könnte es anders sein, um eine stockkonservative Politikerin, die Margret Thatcher als Vorbild zitiert. Selbstverständlich ist auch sie der fremdenfeindlichen Welle in Japan aufgesessen. Sie stammt nicht aus einer der bekannten Politikerinnenfamilien, sondern aus bescheidenen Verhältnissen, besetzte aber als liberaldemokratische Vertreterin schon verschiedene Funktionen, unter anderem als Ministerin unter Shinzo Abe. Ihre Wahl zur Parteivorsitzenden am 4. Oktober dürfte ihr automatisch den Premieministerinnenposten einbringen. Hipp, hipp, hurra!






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Albert Jörimann
07.10.

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