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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Kreativität

Vor einer Woche hatte ich vom Amoklauf in Graz gesprochen und davon, wie ich mir die Reaktion der Rechtsnationalisten ausmale, wenn es sich beim Täter um einen Ausländer, womöglich isla­mi­schen Glaubens gehandelt hätte. Was bekanntlich nicht der Fall war, im Gegensatz zum Beispiel zu den Attacken auf Charlie Hebdo und auf den Bataclan-Club in Paris im Jahr 2015.

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Es gibt ja auch das Umgekehrte, dass Rechtsnationalisten Moslems umbringen, Ihr erinnert Euch an die Bluttat in Christchurch vor sechs Jahren, bei der einer von denen 50 Gläubige getötet und weitere 50 verletzt hatte. Im April brachte irgend so einer in einer Moschee im Süden Frankreichs einen jungen Malier um, der dort betete, aber gemäß seinem Anwalt hat er ihn nicht aus religiösen Gründen erschossen, er sei nur ganz normal durchgeknallt gewesen. Ist das nun besser oder schlechter als der Mord am Lehrer Samuel Paty in einem Vorort von Paris durch einen jungen Tschetschenen, der von einem Social-Media-Post des Vaters einer Schülerin von Paty sowie eines Islamisten zur Tat angestachelt worden war? Von einem Social-Media-Post notabene, der auf einer Lüge der Schülerin beruhte, die nicht zugeben wollte, dass sie die Schule geschwänzt hatte oder so. Ist das besser oder schlechter? Ich glaube es nicht. Es handelt sich letztlich einfach um Mord. Solange der Mord an Zivilisten nicht als Strategie irgendeiner Bewegung benutzt wird wie damals im Bataclan, sollte man die argu­men­ta­tiven Finger davon lassen, anders gesagt: Noch als hetzerische Bewegung, wie sie die Allianz für Deutschland zum Teil ist, sollte man einen Mord nicht zur Hetze gegen andere Menschen benutzen. Wir hatten so etwas auch in der Schweiz, nämlich als ein eritreeischer Asylbewerber in einem An­fall geistiger Umnachtung eine Frau und ihren Sohn vor einen Zug stieß, wobei die Mutter über­lebte, und zwar geschah dies im Hauptbahnhof in Frankfurt am Main. Die rechts­natio­na­lis­ti­sche Schweizer Volkspartei entblödete sich nicht, diesen Vorfall für einen Angriff auf alle Eritreer zu benutzen; dabei hatte der Vorfall mit der Nationalität und dem Asylstatus des psychisch Kranken so wenig zu tun wie mit der psychischen Verfassung der SVP. In Zürich selber hatten wir früher auch einen Anschlag auf eine Moschee, nämlich am 19. Dezember 2016, also an jenem Tag, als ein Tunesier mit einem Last­wa­gen in Berlin in einen Weihnachtsmarkt fuhr; da stürmte ein junger Schweizer in eine Moschee und schoss um sich, drei Personen wurden schwer verletzt. Der Mann brachte sich anschliessend selber um. Am Tag zuvor hatte er einen ehemaligen Schulkollegen erschossen. Und da in der Türkei am gleichen Tag auch noch der russische Botschafter erschossen wurde, twitterte der damalige US-amerikanische Präsident Donald Trump von Terroranschlägen in der Türkei, in der Schweiz und in Deutschland, die für ihn selbstverständlich alles islamische Übeltaten waren.

Naja. Sprechen wir von etwas Anderem. Wir wohnen direkt gegenüber eines Schulhauses, und was soll ich sagen, gegen Schluss des Schuljahres hat man immer ein wenig den Eindruck, die Lehr­per­so­nen hätten etwas die Motivation am Unterricht verloren, es gibt reihenweise Sporttage und ande­res Allotria, wobei vielleicht zu diesem Eindruck beiträgt, dass man im Monat Mai jeweils eine be­son­dere Häufung von Feiertagen antrifft. Das Lehrpersonal benutzt diese nicht selten zur stra­te­gi­schen Platzierung von so genannten Q-Tagen, also von Qualifizierungs-Tagen, die eigentlich der Fort­bildung gewidmet sind und in der Praxis aber eben vor allem der Verlängerung von langen Wo­chen­en­den dienen. Ich sehe meine Vorurteile, die übrigens uralt sind, immer wieder bestätigt. Dem gegenüber stehen andere Erfahrungen, zum Beispiel jene, die ich kürzlich in einem neu eröffneten anderen Schulhaus gemacht habe, als ich aus anderen Gründen dort zu Besuch war. In diesem Schul­haus wird ein ungewöhnlich hoher Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund unterrichtet, und ich spreche hier nicht von Einwandererinnen aus Deutschland, deren es in der Schweiz eben­falls recht viele gibt, sondern Kinder von echten Flüchtlingen, anerkannt oder nicht. Wenn man dort sieht, wie engagiert das Lernpersonal mit diesen Kindern arbeitet, welche Erfolge es auch erzielt dabei, konkret, wie sich die Kleinen freuen und wie engagiert sie mitmachen und wenn man sich dann vergegenwärtigt, wie die Integration solcher Menschen aus recht weit entlegenen Kulturen erfolgt, nämlich eben justament über die Kinder und über die Schulen, dann geht einem das Herz auf, und man möchte den gesamten Lehrkörper dankend umarmen. Der Lernwille und der Lern­er­folg dieses speziellen Schülergutes steht in krassem Gegensatz zu den Berichten von demo­ti­vier­ten Jugendlichen, die an nichts anderes mehr denken als an Tiktok und Inflencerinnen, an Schmin­ken und Bodybuilding. Ich hatte den Eindruck, dass ich dort auf eine Klasse von neuen, hoch motivierten und aufgestellten jungen Menschen getroffen bin, kurz gesagt: auf die Zukunft.

Bei einem anderen kleinen Vorfall hat sich dagegen meine Kopfhaut leicht gekräuselt, nämlich zeigte eine Frau aus meinem Bekanntenkreis kürzlich ihr Erstaunen über das Heranwachsen und Aufschießen ihres Enkelkindes mit dem Ausspruch: Was bist auch du für eine Bohnenstange geworden! Dies stand als Kommentar unter der Foto dieses Enkelkindes zusammen mit zwei Erwachsenen in einem Gruppenchat, wie sie überall betrieben werden. Kurz darauf traf auf diesem Gruppenchat eine Sprachkritik ein: Bohnenstange, das sei nicht mehr zeitgemäß, das sage man heute nicht mehr. Zuerst hielt ich das für einen Witz und dachte, der Betreffende mache sich lustig über die seit einiger Zeit gängige Manie, alles nur noch so in Worte zu fassen, als befände man sich im klinisch reinen Produktionsraum von Mikrochips, wobei der Sprachpolizei letztlich selber nicht besonders klar ist, was denn nun wirklich sauber und korrekt sei; sie hat kommoderweise keine genauen Regeln und kann somit nach Belieben einschreiten, wenn eine Laus sie juckt oder ein Ein­druck sie reitet. Aber es war gar kein Witz über die Sprachpolizei; es war grimmiger sprach­poli­zei­licher Ernst. Der Betroffene brachte also zum Ausdruck, dass sich die Großmutter sprachlich an ihrem Enkelkind vergangen habe mit der unbedingt und bedingungslos nicht mehr zeitgemäßen Bezeichnung als Bohnenstange. Ich war perplex und stand kurz davor, die Situation eskalieren zu lassen mit der Frage, wo man sich für die Eignungsprüfung als Sprachpolizist anmelden könne. Ich hielt es wirklich für eine Meisterleistung, in diesen unbedingt und bedingungslos liebevoll und anerkennend gemeinten Kommentar eine Beleidigung hineinzulesen, die hinten und vorne keine war, weder vor dem Enkel noch vor dem lieben Gott; es ging dem Kritiker offensichtlich darum, einem anderen Menschenwesen die eigene moralische Überlegenheit um die Ohren zu hauen, und zwar ohne Not. Ich habe dann davon abgesehen, weil unser Sprachpolizist auch von anderer Seite darauf aufmerksam gemacht wurde, dass seine Reaktion jenseits von Gut und Böse gewesen sei. Aus Kreisen des betroffenen Enkels selber war zu vernehmen, dass in der Schule tatsächlich nicht mehr der Begriff Bohnenstange verwendet wird, insofern hatte der Sprachpolizist sogar recht, son­dern der Begriff «Lauch». Porree, auf Hoch­deutsch. Da kann man sich nun streiten, ob Bohnen­stan­ge ver­ächt­licher sei als Porree. Weder noch, meint der Hausverstand. In meine abklingende Empö­rung hinein sagte mein Kopf dann noch zu mir, dass solche Trotteleien wohl mit ein Bestandteil des Wahl­erfolgs von Donald Trump gewesen sind. Political Correctness ist tatsächlich fast nicht aus­zu­hal­ten, vor allem für Menschen, die sich selber eigene und vernünftige Gedanken machen. Selt­sa­mer­weise ist sie an Universitäten durchaus verbreitet und tritt oft im Verbund mit Offensiven im Bereich Diversität und Gleichstellung auf, weil man der Diversität und Gleichstellung nun endlich in die hintersten Ecken nachschnüffeln muss wie ein gut abgerichteter Drogenhund. Die Damen und Herren von der Korrektheitspolizei sind aber vor allem deshalb so unerträglich, weil sie keinen Hauch von Humor nicht mit sich herum tragen, wenn sie sich gebärden wie Richterinnen einer neuen Inquisition. Das ist sehr unangenehm, weil sich hinter der Sprach- und Korrektheitspolizei in der Regel eine ziemlich umfassende Ignoranz verbirgt; ihre Richtsprüche basieren kaum einmal auf wissenschaftlich erhärteten Kriterien, sondern, wie im Fall des Bohnenstangen-Urteils, auf einem momentanen Unwohlsein, welches umgehend in die Form einer Polizeiverfügung gefasst wird.

In diesem Punkt, also beim Mangel an Humor, gleichen sie durchaus den anderen Polizisten, den
Pseudonazis und Nationalistinnen von der Allianz von Deutschland. Bei denen wird ständig gebrüllt und gegeifert, aber niemals gelacht mit Ausnahme des hämischen Gelächters über das Elend der ande­ren; sie können sich nur dann ausschütten, wenn ein Schwarzer Schläge erhält. Dass sich eine solche Mentalität in immer mehr Köpfen in Deutschland und namentlich in Ost­deutsch­land fest­setzt, ist ebenso katastrophal wie unverständlich. Das betrifft selbstverständlich nicht allein die Allianz für Deutschland; auch der bayrische Ministerpräsident und seine Entourage betreiben auf Instagram und in den Festzelten nichts anderes als die Verherrlichung der Phantasielosigkeit. Alles muss so bleiben, wie es schon immer war, am Sonntag gibt es Schweinsbraten, am Montag lasse ich mich vom Chef zusammen scheißen, punkt, aus. Haben die eigentlich keine Kenntnis davon oder haben sie es bloß vergessen, dass es auch in Deutschland Zeiten gab, wo ganze Bevölkerungs­schich­ten kreativ oder mindestens berauscht in der Gegend herum torkelten und Dinge taten, über die man noch heute staunen und lachen muss? Es ist alles so verkrampft in Deutschland, man möchte fast ein wenig weinen über die Diktatur des Ernstes und der Nüchternheit. Nicht dass man mich falsch versteht: Ich bin ein unbedingter Anhänger von Sachlichkeit und Vernunft und Wissenschaft. Aber ich denke, gerade die Wissenschaft kennt ihre Grenzen und gerät genau deshalb oft ins Staunen und ins Lachen, während das verbissene Messen am Immer-schon-Dagewesenen wirklich keinen Spaß macht. Realismus ist nur erträglich mit einer anständigen Dosis an Geflunker, nur die richtige Mischung zwischen Geflunker und Realismus macht das Leben lebenswert.
Mit Byun Chul-Han möchte man fast ein neues Buch schreiben mit dem Titel «Die Ernsthaftigkeits-Gesellschaft», in welchem beschrieben wird, wie die neurotische Fixierung auf den Ist-Zustand, welche letztlich nichts anderes ist als eine neurotische Fixierung auf eine Vergangenheit, die es sowieso nie gegeben hat, zu einer geistigen Sklerose führt, welche mittelfristig den Untergang der Zivilisation bedeutet. Tatsächlich haben wir die ersten Anzeichen für diesen Untergang ja schon vor zehn Jahren erlebt, als die patriotischen Europäer gegen den Untergang des Abendlandes auf den Straßen brüllten: «Merkel an den Galgen!» Und jetzt, zehn Jahre später, geht es denen eigentlich besser? Vermutlich nicht. Zwischenzeitlich haben sie auf den Straßen zusammen mit den Lulatschen um Markus Söder gegen den Einbau von Wärmepumpen gegeifert, wobei ich nicht weiß, ob der Slogan hieß «Wärmepumpen an den Galgen», aber vermutlich war es eher «Robert Habeck an den Galgen» oder «Annalena Baerbock an den Galgen», was die Galgen-Intelligenz halt so hergibt. Die Santscha Pantscha hat noch eins drauf gesetzt, als sie herum posaunte «Windmühlen an den Galgen» beziehungsweise Einreißen dieser Ungetüme. Dies alles ist nicht nur nachweislich strunzdumm, sondern und gleichzeitig äußerst humorlos. Eben: Was kann man mit einem Land und einer Bevölkerung anfangen, die nur noch schäumt anstatt zu denken und sich neue Dinge einfallen zu lassen? Was geschieht mit einem Land, das seinen Witz gänzlich verloren hat?



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Albert Jörimann
24.06.

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